Jürgen Kuhlmann

Maria:
in den Himmel aufgenommen

Nehmen wir einmal diese Geschichte an: Ein gutwilliger Katholik mit Namen Günter wacht an einem strahlenden Morgen des 15. August auf und weiß nicht, ob er an diesem Tag zum Gottesdienst gehen soll, will, darf oder nicht. Es ist das Fest Mariae Himmelfahrt, theologisch besser gesagt: der "Aufnahme der Gottesmutter in den Himmel". Während die Sonne ins Fenster lacht und die Vögel draußen jubeln, läßt er die Stationen seiner Glaubensgeschichte an sich vorbeiziehen, erinnert er sich, wie er im Herbst 1950 zusammen mit Lehrern und anderen Kindern im Internat um den Radio saß, während aus Rom die Feier übertragen wurde, in der Papst Pius XII. dieses neue Dogma verkündigte: Maria ist mit Leib und Seele in die göttliche Herrlichkeit eingegangen.

Was Günter damals nicht wußte, hat man ihm später erzählt: Unter den Teilnehmern auf dem Petersplatz stand auch ein ehrwürdiger Jesuitenprofessor und wartete darauf, der Papst werde jeden Moment tot niedersinken. Er meinte, diese Glaubens-Lehre könne gar nicht definiert werden; denn die frühe Kirche hat sie durch fünf Jahrhunderte überhaupt nicht gekannt, weder im Neuen Testament noch bei den alten Kirchenvätern findet sich eine Spur. Erst eine phantasiereiche Schrift aus dem sechsten Jahrhundert führte das Thema in die christliche Vorstellungswelt ein. Dennoch wurde das "unmögliche" Dogma verkündet ...

Dann erinnert Günter sich eines Gesprächs mit einem evangelischen Pfarrer, der jenes Dogma aus anderen Gründen ablehnte: in Maria habe die Kirche doch bloß sich selbst auf den himmlischen Thron gesetzt. Nicht Gott allein sei ihr wichtig, nicht Christus sei ihr das Zentrum, vielmehr die in Maria symbolisierte Kirche. Ein Geschöpf an Gottes Platz setzen: das sei aber Götzendienst, für einen Gläubigen das Allerschlimmste. Dazu komme ein zweites: viele der ehelosen Priester der Jahrhunderte hätten uns doch jenes Weibliche, das sie in der Wirklichkeit verdrängen mußten oder höchstens heimlich auf unwürdige Weise lieben konnten, als Bild der unbefleckten Maria an den Himmel projiziert. Die Lehre von der Verherrlichung Mariens sei soziologisch eine Selbstvergötzung der katholischen Kirche und psychologisch ein Symptom zölibatär-krankhaft gestauter Sexualität, meinte jener Protestant. Zu beidem müsse ein aufrechter Christ nein sagen. - Günter wand sich unbehaglich, wußte aber nichts zu erwidern.

Und doch haben alle nicht ganz unrecht

Ebenso verstummen mußte er bald darauf vor Ediths feministischer Wut: Was habt ihr katholischen Männer bloß aus der Göttin gemacht! Bei vielen alten Völkern war sie das Urprinzip, aus ihrem Einheitsschoß sei erst alles Männliche, Bestimmte hervorgegangen, wie das ja in Wirklichkeit heute auch noch so ist. Die Königin wurde aber zur Sklavin erniedrigt: "Siehe ich bin die Magd des Herrn". Und nur weil die Sklavin so brav ist, wird sie am Ende von dem Vater und dem Sohn in den Himmel des Patriarchats aufgenommen. Die allschöpferische Göttin sei so entmachtet worden, bloß als demütige Kreatur habe die Frau im Himmel Raum. "Pflichtgemäß glanzlos und abgeleitet, aller Göttlichkeit entkleidet, verdient sie die Belohnung der ewigen Paralyse im patriarchalen Paradies ... Das ist die zerschmetterte Weise Frau, die man vor unseren Augen paradieren läßt als das Symbol unserer gezähmten Wildheit" (Mary Daly, Gyn/ökologie, München 1981, 110)

Noch ein Gespräch fällt Günter ein, mit einem Luft- und Raumfahrt-Ingenieur.Sag mal, spottete der, was hat euer Papst sich eigentlich bei diesem Dogma gedacht, knapp ein Jahrzehnt vor der ersten Weltrauchfahrt? Maria ist mit Leib und Seele in den Himmel aufgefahren - was heißt ein solcher Satz? Sie ist doch, erklärte der Ingenieur, gestorben - nun ist sie wiederbelebt? Was aber ist "der Himmel", dieses neue Leben? Im Universum ist es kalt und einsam. Die Astronomen wissen heute, was "im Himmel" vorgeht. Das verkündete Dogma könne offenkundig nicht das meinen, was seine Wörter heute, "normal" verstanden, bedeuten. Warum sagt also die Kirche nicht gleich klar und deutlich, was sie damit meint? Oder - kann sie es nicht sagen, weil sie es selber nicht weiß? Günter hätte dem Freund damals fast einen Ausspruch des berühmten Theologen Karl Rahner mitgeteilt, der im kleinen Kreis mit seiner unvergeßlichen Stimme einmal bekannte: Angenommen, ein Archäologenteam macht Ausgrabungen in Ephesus und erklärt dann: wir haben Marias Knochen gefunden, daran besteht kein Zweifel. Würde das meinen Glauben an ihre leibliche Himmelfahrt stören? Überhaupt nicht! Weil Günter aber wußte, daß dies nur eine private Ansicht Rahners und kein Dogma ist, unterließ er die Bemerkung, um seinen Gesprächspartner nicht vollends zu reizen.

Da lag er nun im Bett und stellte sich vor, wie alsbald mit Weihrauch und Orgelbraus die Festmesse beginnen würde. Ich glaube, wußte er, ich glaube das Geheimnis, das die Kirche heute feiert. Tief im Innern bin ich ohne den Schatten eines Zweifels davon überzeugt. Und doch haben alle meine Gesprächspartner nicht ganz unrecht, obwohl sie einander sogar noch schärfer widersprechen als mir. Edith und der Pfarrer etwa können miteinander überhaupt nicht mehr reden. Das Schlimme bei mir ist nur: eben weil ich den anderen auch rechtgeben muß, weiß ich gar nicht mehr, was ich denn selber glaube. Daß ich es glaube, steht fest; ebenfalls, daß ich ein beseligendes Heilsgeheimnis ahne. Als Christ muß ich meinen Glauben doch aber auch weitersagen können, soll von ihm Zeugnis geben. Vor dieser Aufgabe habe ich in allen Gesprächen versagt. Immer hat der andere geredet, und ich war stumm. Und wie ich unseren Pfarrer kenne, wird die heutige Predigt mir da leider nicht weiterhelfen.

Ist es also nicht sogar eine Art Lüge, wenn ich zur Messe gehe? Heuchle ich nicht eine Gewißheit, die mir abgeht? Denken die Leute nicht: Ein glücklicher Mensch, er weiß, wem und was er glaubt, hoch hinaus ist er über alle postmoderne Beliebigkeit. Ach, wohl weiß ich, wem ich glaube, nämlich Gott, Christus und der unfehlbaren Kirche. Was ich aber glaube, das weiß ich nicht. Soll ich also in die Kirche gehen oder mich lieber auf die Wiese legen und im Himmelsblau versinken - vielleicht geht mir dabei eher auf, wie es um Maria steht?

Was ist der Ort der Wahrheit?

Günter ist damals doch ins Hochamt gegangen. Die Einwände der Andersgläubigen hatten ihn plötzlich nicht mehr gestört. Sein Glaube hatte gesiegt. Wogegen? Nicht gegen seine "Zweifel". Nach wie vor hält er die Argumente seiner Freunde für wichtig. Aber sein lebendiger Glaube hat sich gegen eine falsche Philosophie durchgesetzt, die man ihm beigebracht hatte: als sei Wahrheit in Sätzen. Denn dann könnte jener dogmatische Satz "Maria ist mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen worden" nur entweder wahr oder falsch sein; folglich müßten, wenn sein Glaube stimmt, die Freunde unrecht haben.

Unrecht haben nicht sie, sondern hat jene Philosophie. Was ist aber dann der Ort der Wahrheit, wenn die Sätze es nicht sind? Das lebendige menschliche Bewußtsein. In ihm findet sich die Wahrheit als Beziehung, nämlich als Spannungseinheit von Wissenden und Gewußtem. Ein wahrer Satz hingegen ist lediglich ein Ausdruck solcher Beziehung, in ihm wird sie faßbar, merkbar, weiterreichbar. Nur auf abgeleitete Weise also heißen Sätze "wahr". Der große Kirchenlehrer Thomas von Aquin erklärt dies mit einem deftigen Vergleich: Ein ausgesprochener Satz heiße wahr, weil er eine Wahrheit des Bewußtseins bedeutet, "nicht wegen einer Wahrheit, die in dem Satz wäre", ihm selber zukäme. Das sei so zu verstehen, "wie ein Urin gesund heißt, nicht wegen der Gesundheit, die in ihm wäre, sondern wegen der Gesundheit des Lebewesens, die er bedeutet" (S. Th. I q16 a7).

Sobald Günter seine Glaubenswahrheit nicht mehr in der Formel des Dogmas sah, vielmehr in seiner eigenen Beziehung zu diesem Satz, war die Zwickmühle verschwunden, und leichten Herzens ließ er den anderen ihr Recht, den Satz anders zu verstehen.

Das Heilsgeheimnis braucht die Person

So wenig wie irgendein anderer Satz ist auch die kirchliche Lehre von der Aufnahme Mariens in den Himmel als isolierte Formel wahr; vielmehr soll dieses Dogma gehört und verstanden werden, um im christlichen Bewußtsein für den objektiven Wahrheitspol (das Heilsgeheimnis) zu stehen, dessen lebendige Spannung zum subjektiven Pol (der glaubenden Person) das Wesen der Glaubenswahrheit ausmacht. Wie dieselben Wörter des dogmatischen Satzes auf ein anderes, nicht kirchliches Bewußtsein wirken (oder auf eine andere Region innerhalb eines Bewußtseins), diese Frage ist für das (direkte) Verständnis des Dogmas unerheblich, hat freilich ihre eigene, andere Wichtigkeit (für die ökumenische Beziehung) sowie - aber indirekt - auch eine Rückwirkung auf das Glaubensverständnis; denn durch jeden echten Dialog werden Mißverständnisse ausgeschieden.

Was meint jemand mit einer Behauptung, welche Einsicht soll von ihr ausgedrückt und vermittelt werden? Einen Hinweis darauf gibt stets die Art, wie er seine Feststellung beweist, mit Gründen untermauert. Verstand und Ehrlichkeit vorausgesetzt, wird der Beweis ja stimmen, so daß aus seiner Tragfähigkeit sich auf den Sinn der zu beweisenden Behauptung zurückschließen läßt. Folgendermaßen begründet Pius XII. das Dogma von Mariens Himmelfahrt: "Da unser Erlöser Mariens Sohn ist, mußte er - als vollkommenster Befolger des göttlichen Gesetzes - neben dem ewigen Vater auch seine geliebteste Mutter ehren. Da er sie nun aber mit so großer Ehre schmücken konnte, sie vor der Verderbnis des Grabes unversehrt zu bewahren, so ist zu glauben, daß er das tatsächlich getan hat."

So wurde uns Glaube vorgelebt: bis zum Freundeskreis um Jesus

Eine unerwartet schlichte Auskunft, jedem verständlich, der zum einen an Jesu Auferstehung wirklich glaubt, zum andern die eigenen (unkirchlichen) Dogmen ausblendet, den Apfel der Wirklichkeit jetzt einmal nicht auf eine der unendlich vielen übrigen Weisen durchschneidet, sondern auf die von diesem Dogma beleuchtete: da ist ein junger Mann, der seine Mutter liebt und ehrt wie jeder junge Mann. Auf geheimnisvolle Weise ist es ihm gelungen, den Tod zu überwältigen und Herr des Alls zu werden. Was liegt näher, als daß er seine liebe Mutter nach deren Tod zu sich in seine Herrlichkeit holt?

Und nicht nur seine Mutter, natürlich auch seine Freunde! Wer von uns, wenn er solches könnte, täte es nicht? Daraus ergibt sich, stichflammengleich, für jeden Christen die ungeheuerlichste Hoffnung. Denn in Generationen gerechnet, ist es gar nicht weit von uns zurück bis zu Jesus. Petrus in Rom und Johannes in Ephesus haben einige junge Leute liebgewonnen, ohne deren Gesellschaft der Himmel für sie nicht der Himmel wäre. Denen erging es als Erwachsenen ebenso, und so weiter bis in unsere Tage. Ich denke an den Benediktinerpater Max, der mich vor vierzig Jahren die Stenographie gelehrt hat, in der ich jetzt an ihn erinnere, und auch ihm hat, als er jung war, jemand den Glauben vorgelebt, und so die Jahrhunderte hinauf bis zum Freundeskreis um Jeschua, den Nazarener. Die Vorstellung überwältigt mich, daß die paar Dutzend Menschen zwischen Ihm und mir in unserem Familienhaus Platz fänden. Dank sei Gott, daß unser Heil so menschlich ist!

Sämtliche Einwände gegen das Dogma, die Günters Gesprächspartner vorbringen, beziehen sich nicht auf den ihm eigenen Sinn, sondern auf weitere Folgerungen. Sie meinen die Glaubenslehre nicht in deren Mitte, sondern am Rand, wo sie sich mit anderen Perspektiven überschneidet: wie verträgt Mariens Ehrung sich mit der Abwesenheit des Themas in der Urkirche, mit Gottes alleiniger Ehre, mit der Zölibatsproblematik, mit der unabgeleiteten Würde der Göttin, mit der kalten Leere des Weltraums und mit der möglichen Entdeckung der Gebeine Mariens? Solche Themen sind wichtig. Auch ungelöst, beeinträchtigen sie jedoch nicht die Klarheit der Glaubensaussage: Maria lebt, denn der auferstandene Jesus lebt, und er ehrt seine Mutter.

Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" 1990, Nr. 33, S. 269 f.

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