Jürgen Kuhlmann: Kat-holische Gedanken

Zwei Religionen oder eine?

Dürfen laue Katholiken heiraten?


Die Frage scheint absurd, doch wurde sie beim Bamberger Katholikentag tatsächlich diskutiert. Der Redner hatte ausgeführt, die Sakramente seien aufrichtig zu empfangen, und besser gar nicht als ohne Glauben. Nun aber, sagt der Logiker, ist die Ehe zwischen Getauften ein Sakrament, also setzt sie den Glauben voraus, also dürften laue Katholiken eigentlich nicht heiraten. Wo steckt der Fehler?

Viele Religionslehrer sind mit ihrer Arbeit tief unzufrieden. Die von den Familien nicht mitgetragene schulische Glaubensunterweisung ist sogar schon, mit bitterem Hohn, eine "Immunisierung" der Kinder genannt worden. Wer sich acht oder mehr Jahre lang daran gewöhnt hat, wie den größten und feierlichsten Worten keinerlei Lebenswirklichkeit entspricht, der scheint gefeit gegen jedes spätere Ernstnehmen dieser Worte - und Gottes. Was ist falsch an unserem System?

Volkskirche oder Gemeindekirche?

Wir wollen einmal zwei recht gegensätzliche Texte einander gegenüberstellen. Der erste fordert die Gemeindekirche; extreme Folgerungen scheut der Verfasser nicht:

"Nur wo eine Gruppe von Menschen sich deutlich von der Welt unterscheidet, indem sie einander aus der Kraft Gottes engagiert lieben und so eine verbindliche Lebensgemeinschaft bilden, wird Gott für den heutigen Menschen (im Glauben) erfahrbar und nur, wenn er sich dieser Gemeinde anschließt, erfährt er das Heil. In der Lebensgemeinschaft untereinander vollzieht sich die Lebensgemeinschaft mit Gott. - Durch die Verkündigung der Gemeinde bzw. ihres Vertreters wird der Mensch herausgefordert, sich dem Ruf Gottes zu stellen, er ist vor die Entscheidung gestellt, ja zu sagen zu Gott und das bedeutet: mit der Gemeinde zu leben (denn nur so geschieht Lebensgemeinschaft mit Gott) oder diese abzulehnen. Entscheidet er sich dafür, muß er sie erst einmal kennenlernen (Probezeit, Katechumenat, Noviziat). Danach endgültige Bindung, Aufnahme in die Gemeinschaft (Taufe, Profeß). - Die Größe: die Gemeinde darf nur so groß sein, daß jeder jeden kennt, mit jedem sprechen kann und zwar vertrauend und persönlich, sonst kann man sich nicht aufeinander verlassen ..." (Normann Hepp, Gemeindeleben als Glaubensvollzug und Verkündigung heute, die Sendung, 1967, S. 42)

In minder umstürzlerischen Formen ist dieses Kirchen-Modell "kleine Herde" heute sehr verbreitet und beliebt. Gegen es wenden sich die folgenden Gedankengänge eines evangelischen Soziologen.

Es geht um die Frage, "ob die Vorstellung, sich permanent mit einer Fülle missionarischer, diakonischer und ethischer Bemühungen an eine ganz und gar entkirchlichte (und entchristlichte) Gesellschaft wenden zu müssen, eigentlich zu Recht besteht - eine Frage, die auch die andere einschließt, ob mit Recht so abwertend und geringschätzig, wie es weithin geschieht, von der Bereitschaft der Menschen in unserer Gesellschaft geredet werden darf, sich partikular am volkskirchlichen Leben zu beteiligen: zur Taufe, Konfirmation, Beerdigung, zu besonderen Festtagen und gelegentlich am Sonntag ...

Das kirchliche Denken bewegt sich heute weithin in dieser Paradoxie: es erschrickt ob einer von ihm nicht zu Ende gedachten Einsicht in die Rollenkonflikte des modernen Menschen und empfiehlt als Heilmittel eine weitere, die Rolle als Kirchenglied ... es ist nicht verwunderlich, vielmehr eine durchaus als positiv zu wertende Reaktion, wenn sich der Betroffene gegen diese weitere, ihm zudem unverständlich bleibende Rollenzumutung wehrt und sie nur insoweit erfüllt, als sie ihm im Zusammenhang seiner sonstigen Rollenstruktur ‚funktionabel' erscheint. Das freilich tut er, und der positive Aspekt, den diese ‚distanzierte Kirchlichkeit' an sich hat, wird immer wieder verkannt. Statt dessen werden alle Energien auf den untauglichen Versuch konzentriert, Rollen der Kirchlichkeit einzurichten und zu aktivieren, sei es auf dem Boden der Ortsgemeinde, sei es in übergemeindlichen Formen kirchlicher Arbeit, neben und fern den realen Zusammenhängen, und zwar gerade dann, wenn man sich thematisch auf sie bezieht. Man verengt die Definition der Kirchlichkeit immer mehr, ohne es bei aller säkular thematisierten Geschäftigkeit selbst zu spüren." Joachim Matthes, Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964, S. 15 f, 37 f.)

An diesen beiden Stellungnahmen ist so gut wie alles verschieden: Behauptung, Begründung, Methode, Sprachwelt. Ein größerer kirchenpolitischer Gegensatz läßt sich schwerlich vorstellen als der zwischen intensiver Sekte und Volksreligion mit minimalem Gehalt. Trotzdem, so scheint es, haben beide Ansichten recht.

Zwei Religionen

Nicht die Kutte macht den Mönch; nicht die Organisation macht die Religionsgemeinschaft, sondern der Glaube. Dann gibt es aber bei uns, quer zu den Konfessionsgrenzen, zwei sehr verschiedene Religionen. Eine davon ist das Christentum. Sein Glaube wäre ehedem mit dem Verweis auf das Credo hinreichend dargestellt worden; heute müssen wir dessen Kern allein zum Kriterium nehmen. Wer an Jesus Christus glaubt, wer mit den ersten Christen bekennt: Herr ist Jesus; wer sich als seinen Jünger versteht und die Verheißung ernstnimmt: ich werde bei euch sein; wer aus der Gegenwart des Auferstandenen und auf seine endgültige Offenbarung hin lebt: der ist ein Christ.

Der Glaube der deutschen Volksreligion enthält diese existentielle Verbundenheit mit Christus nicht. Er kann etwa so umschrieben werden: Es gibt ein höheres Wesen, welches die Welt erschaffen hat. Was Gott im einzelnen tut, will und vorhat, darum streiten die Pfarrer sich untereinander sowie mit Rabbinern, Mullahs, Bonzen usw. Nichts Gewisses weiß man nicht, doch ist es sehr gut möglich, daß die Seele nach dem Tod noch allerhand erlebt. Jesus war sicher ein großer Mensch. Was an Weihnachten und Ostern wirklich geschah, wird man nie herausbringen, doch sind die Feste ob ihres Symbolwertes beizubehalten. Wie all dem auch sei: der Mensch soll seinem Gewissen folgen. Dann kann er getrost abwarten, was kommt.

Weil Christus "durch den Glauben in den Herzen" der Gläubigen wohnt, darum ist ohne diesen Glauben keiner ein Christ. Weil andererseits fast das ganze Volk bei Geburt, Hochzeit und Todesfall den Pfarrer aufsucht, darum ist die Volkskirche eine Wirklichkeit. Daß beide Religionen sich wesentlich unterscheiden, leuchtet ein.

Einheit nicht nur äußerlich

Doch sind sie auch eins; zunächst schon nach dem Augenschein: Gotteshäuser, Kultfunktionäre, Katechese, Kirchensteuer, Feste - die gesamte kirchliche Organisation ist beiden Religionen gemeinsam.

Wichtiger ist eine inhaltliche Gemeinschaft: im Gegensatz zu anderen nicht christlichen Glaubenswelten enthält die abendländische Volksreligion keinen positiven Widerspruch zum Christentum, unterscheidet sich vielmehr nur negativ von ihm: durch den Mangel jener lebendigen Beziehung zu Christus, die den Christen macht.

Entscheidend ist die innerste Einheit im Heilsgehalt: daß die Taufscheinchristen, wenngleich im persönlichen Glauben keine Christen, so doch zuinnerst (anonyme) Christen sein können, das heißt Menschen, die glauben, hoffen und lieben: diese dreifache Staffelung des Begriffes "Christ" macht die Lage einigermaßen verwickelt. Einfacher geht es aber nicht; denn selbstverständlich muß die Kirche, was sie Hindus und Buddhisten zugesteht, auch von den katholischen Resten des Durchschnittsmünchners gelten lassen: daß sie "einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet".

Ende der Volkskirche?

Eine ausgewogene Theorie muß alle Aspekte einer Beziehung enthalten; welche Folgerung soll aber aus dem dargelegten Ineinander von Einheit und Verschiedenheit die Praxis ziehen? Sollen die Institutionen die Andersheit betonen? Das würde bedeuten: Abschaffen der Kindertaufe, oder wenigstens Erwachsenenfirmung, Mut zur Zwerggemeinde, Verlust der Kirchensteuer, kurz: Ende der Volkskirche. Diesen Weg könnten die Christen gehen. Sie wären damit nicht der alten Versuchung einer "Gemeinde der Reinen" erlegen; denn nicht um die Reinheit geht es, sondern um den Glauben. Sünder sind wir alle, doch zwischen Christen und Nichtchristen gibt es den beschriebenen Unterschied - der übrigens keinen sittlichen bei sich hat! So wenig wie den Muslim dürfen wir den "nicht praktizierenden" Katholiken Mangel an Ehrlichkeit unterstellen. Nicht wir haben zu richten, wer ein gerechter, guter, heiliger Mensch ist. Nur wen der Vater zieht, kommt zu Jesus. Jemand dieses Christsein absprechen ist keinerlei Diskriminierung, lediglich Feststellung einer Tatsache. Die Kirche könnte also den Schritt zur Gemeinde des Glaubens radikal tun.

Trotzdem scheint mir, sie solle ihn nicht tun. Denn erstens träte das nämliche Problem bald von neuem auf. Die Kinder der Christen hätten nie bloß christliche Motive, der Gemeinde ihrer Eltern anzuhangen. Volle Freiheit gibt es auf Erden noch nicht. Also hätten wir auch in der kleinen Herde bald wieder Böcke und Schafe. Es geht nicht an, den Geist in Buchstaben zu verwandeln. Insofern das Christusverhältnis auch etwas Greifbares ist, hier eindeutig da ist, dort eindeutig fehlt, hat es teil am Buchstaben, läßt eine gewisse Institutionalisierung zu: Polykarp und der Prokonsul, P. Delp und Herr Freisler: solch klare Fronten gibt es, auch diesseits des Blutgerichts. Insofern der Menschen Verhältnis zu Christus aber weithin auch die Unwägbarkeit aller persönlichen Beziehungen aufweist, zudem von außen nicht kontrollierbar ist, kann man es nicht zum Mitgliedschaftskriterium einer Organisation machen.

Zweitens wäre der entschlossene Schritt zur Glaubensgemeinde das Ende der Volkskirche, Ohne die Christen als ihre Säulen stürzte sie haltlos zusammen. Haben wir aber das Recht, eine bestehende Religion mit Bedacht zugrunde zu richten? Wenn der Sauerteig sich absondert, statt im Mehl aufzugehen - hat er seine Aufgabe verstanden? Das Konzil spricht soviel vom Dienst an der Welt, und die Christen wollen sich weigern, die Religion der Mehrheit ihres Volkes ständig neu in Christi Kraft von innen heraus zu beleben? Harvey Cox erinnert daran, daß nicht wir selbst, sondern andere Leute uns zuerst das Namensschild "Christen" angesteckt haben. "Wir müssen uns wieder bewußt machen, wie unerbittlich Jesus alle Klischees ablehnte" (Der Christ als Rebell, Kassel 1967, S. 77). Weil die innerste Wahrheit des neuen Bundes den Einsturz aller Trennmauern zwischen den Menschen mit sich bringt, darum wäre ein neuer Graben zwischen Heiden und auserwähltem Volk, so sehr er einer bestimmten Wahrheit entspräche, trotzdem gefährlicher als sein Fehlen. Denn Erwähltendünkel ist noch verlogener als ein falsches Einerlei. Deshalb ist wohl den Verteidigern der Volkskirche beizustimmen.

Nicht Gemeinde, aber Gemeinden

Doch nicht nur die einen haben recht. Die überschaubare Gemeinde glaubender Christen ist eine Notwendigkeit. Solche Heilszeichen muß es geben, und es gibt sie bereits: in allerlei Familien, Equipen, losen Kreisen, Arbeitsgemeinschaften. Ihre Verbindlichkeit und Strahlkraft müßte freilich gestärkt werden. Wie wäre es mit einem Kirchengebot wöchentlicher geistlicher Versammlung im kleinen Kreis, mit ungefähr festgelegtem Rahmenprogramm? Dieser Vorschlag ist kein Scherz! Denn theoretisch setzt sich aus solchen Gemeinden die Kirche zusammen, nicht aus den berühmten vielen hundert Millionen Getaufter. Praktisch ist es gut, daß niemand genau weiß, wo die Grenze ist.

Laue Katholiken dürfen heiraten

Praktisch ist es aber auch wichtig, daß der Unterschied zwischen Volksreligion und Christentum allen Christen mehr und mehr bewußt werde. Denn nur die institutionelle Trennung wäre gefährlich. Im Einzelfall sollen wir durchaus auf diesem Unterschied bestehen. Kommt da etwa ein Paar zum Traugespräch ins Pfarrhaus, und der junge Mann sagt auf Befragen, er glaube eigentlich nicht an Christi Auferstehung, sehe im übrigen auch nicht ein, wieso dies eine Mischehe sei: "wo wir doch beide Deutsche sind". Dann muß der Pfarrer wissen, daß diese Ehe bei aller liturgischen Feierlichkeit doch kein Sakrament wird, daß folglich er selbst dabei nicht unmittelbar als Priester, vielmehr als Religionsfunktionär der Volkskirche auftritt. Insofern sind alle Priester Arbeiterpriester! Wüßte er das nicht, dann hätte die Situation etwas Peinlich-Lachhaftes an sich. Weiß er es aber, dann ist alles in Ordnung; denn warum sollen zwei, die beide an Gott glauben, nicht im Gotteshaus vor Gottes Diener ihre Ehe schließen? Das ist in allen Ländern so - Christen müssen sie deshalb nicht sein. Der Hinweis auf die Kirchensteuer ist hier durchaus angebracht: oder meint jemand im Ernst, all die schönen Kirchen, alt und neu, seien von den Beiträgen der Christen erbaut?

Ähnlich löst, so scheint es, allein diese Unterscheidung das sonst unrettbar leidige Problem des schulischen Religionsunterrichtes. In ihm ginge es darum, auf die verschiedenen existentiellen sowie (im weitesten Sinn) politischen Fragen das Spektrum der volkskirchlichen Antworten zu erarbeiten und diese christlich zu durchleuchten. Dabei gewinnen alle Beteiligten an Sprachreichtum (vom Staat erstrebter Bildungseffekt), die Gottgläubigen werden einerseits eingeführt in die Welt ihrer wirklichen Religion (von der Gesellschaft erstrebter Erziehungseffekt), zu der andererseits auch die ständige Befragtheit durch das Christentum gehört. Den Christen wird dabei ihre eigene Berufung klar: eben der kritische Dienst an den anderen. Und all das geschieht in einer Atmosphäre mitmenschlicher Zucht und geistiger Freiheit, somit werden diese beiden demokratischen Tugenden nicht nur gelehrt, sondern zugleich eingeübt.

Mit diesem Programm kann der Katechet sich guten Gewissens vor den Kollegen und Schülern wie vor seinen kirchlichen Oberen verantworten. Denn er meidet beide Gefahren: sich der Welt gleichförmig zu machen oder aber, ihre Autorität und Entlohnung gebrauchend, dennoch immer quer zu ihr zu liegen. Als Mensch und Lehrer gibt er weiter, wie das gemeinsame geistige Erbe des Volkes sich gerade ihm darstellt: und dafür wird er mit Recht bezahlt. Als Christ vertieft, präzisiert, korrigiert er dieses Erbe - auch das darf er in der Schule tun, insofern der Dialog mit dem Christentum (nicht der Glaube an es!) ein für allemal das Herz der abendländischen Kultur ist. Sofern der Katechet nur jeweils klar zu verstehen gibt, wann er als Lehrer für die Welt zu den Schülern spricht und wann als Christ zur Welt in den Schülern, darf und soll er beides tun.

Stellen wir zum Schluß nochmals die Titelfrage. Zwei Religionen oder eine? Zwei sind es, weil ein Christ nur ist, wer aus dem Glauben an Jesus Christus lebt. Und eine ist es, weil Jesus keine Partei gegründet hat, sondern für alle gekommen, gestorben und auferstanden ist, damit sie das Leben haben.

Januar 1968

[Veröffentlicht in: Katechetische Blätter (München) 94/1969, 306-309]

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