Jürgen Kuhlmann

Wider den falschen Kleinmut des Jüngeren Sohnes

In memoriam D. S.

D* war fünfzehn Jahre lang mein Mitsänger in der Kantorei, 32jährig ist er an Alkohol und anderem Scheitern zugrundegegangen. Im Sommer hatte ich ihn angerufen, doch ließ er sich nicht helfen: o nein, es gehe ihm gut, an den üblen Gerüchten sei nichts dran.

Jetzt ist er tot, nein, vertraue ich, endlich ganz lebendig. Eine seltsame Fröhlichkeit spüre ich um mich her, ähnlich wie früher in seiner lächelnden Gegenwart. Und mein Lieblingsgleichnis seit vier Jahrzehnten klärt sich in neuer Tiefe. "Ein Mann hatte zwei Söhne ..." (D*s älterer Bruder ist ein erfolgreicher Rechtsanwalt.) Diesmal hat der jüngere auf Erden nicht wieder heimgefunden. Warum? So fragen, die ihn liebten, mit dem Pfarrer am Sarg. Die Antwort weiß auch ich nicht. Eine Teilantwort aber muß ich der Christenheit in die Ohren schreien, zur Schande der Verderber unseres Glaubens und zum Andenken an meinen unglücklichen Freund.

Warum hat er sich selber zum Wrack gemacht? War er zu ehrlich und zu stolz, jenes fiese Bekenntnis aufzusagen, das die Einheizübersetzung [EÜ] den Verlorenen Sohn sprechen läßt (Lk 15,19.21)? "Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein", schmiert ein geistloses Übersetzerkomitee ihm in den Mund, wie einem entkernten Wurm. Über den hätte der Vater sich nicht gefreut!

Jesus erzählt es anders: "Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen", vor der Öffentlichkeit des Hofes nämlich, vor Nachbarn, Mägden und Knechten. Da bin ich zu jeder Demütigung bereit, weil ich mich so schandbar aufgeführt habe. "Man" soll wissen, daß ich bereue. Nur deshalb aber finde ich die Kraft zu solcher Umkehr in mir, weil ich endlich weiß, daß ich dein Sohn bin und daß du mir verzeihst, weil auch du das weißt und keinen größeren Wunsch hast als daß ich endlich ganz dein Sohn, dein Ebenbild sei, das heißt auch: ebenso stolz und selbstbewußt wie du selber. Wünscht nicht jeder Vater genau diese Gewißheit für seine Kinder? Ich wenigstens bete "Vater Unser" anders, richtiger, seit ein Stimmchen "Papi" sagte und mir klar wurde: Vom Vater zum Sohn gibt es nicht den Schatten einer Rivalität, nur das reine Ja zu diesem neuen selbsteigenen Ich.

Vom Klima in D*s Familie weiß ich nichts. Daß er seinem großen Bruder nachgeeifert hat (wie der Pfarrer erwähnte), ist nur natürlich. Allzu wohl jedoch kenne ich ein gewisses Klima in D*s und meiner großen Glaubensfamilie, der lateinischen Christenheit. Seit ca 1600 Jahren überschlägt sie sich in servilen Demutsbekundungen - gegen das Lebensgefühl der Urkirche! Diesen fatalen Umschwung arbeitet die amerikanische Forscherin Elaine Pagels deutlich heraus:

"Die meisten christlichen Apologeten des ersten bis dritten Jahrhunderts hätten sich fraglos ohne Zögern der Meinung Bischof Gregors von Nyssa (um 331-395) angeschlossen, der in Anlehnung an die rabbinische Tradition schrieb, daß Gott die Welt "als Residenz für den zukünftigen König" geschaffen und die Menschheit "mit der Gabe, die Königsherrschaft auszuüben" ausgestattet habe, indem er sie zum "wandelnden Ebenbild des Weltenkönigs" machte. Folgerichtig, so Gregor weiter, "gibt die Seele, weit entfernt von der Niedrigkeit bloßen Plebejertums, ihre Königswürde und Erhabenheit unmittelbar darin zu erkennen, daß sie keinen Herrn zu eigen hat und selbstherrlich nur von ihrem eigenen Willen geleitet und beherrscht wird" ...

Ende des vierten und Anfang des fünften Jahrhunderts jedoch setzte mit der augustinischen Theologie ein tiefgreifender Wandel im Inhalt der christlichen Botschaft ein ... Von freiem Willen und ursprünglicher monarchischer Würde des Menschen will der Bischof von Hippo nichts mehr wissen; vielmehr ist der Angelpunkt seines Denkens die These von des Menschen Hörigkeitsverhältnis zur Sünde. Der Mensch ist in seinen Augen ein schwaches, hilfloses, durch den Sündenfall von Grund auf verderbtes und für alle Besserungsversuche unzugängliches Wesen und seine "Erbsünde" rührt im Grunde gerade von Adams vermessenem Bestreben her, sich zu autonomer Selbstbestimmung aufzuschwingen. Und erstaunlicherweise gelang es Augustinus, sich mit dieser radikal pessimistischen Auffassung von der Menschennatur durchzusetzen und eine mehr als dreihundertjährige Glaubenstradition für die nachfolgenden christlichen Geschlechter einfach auszulöschen." [Adam, Eva und die Schlange (Reinbek 1994), 207-209]

Typisch für dieses negative Menschenbild ist jene Verfälschung des Evangeliums.

Im Rückblick schaudert mich bei der Frage, was D* gefühlt haben mag, während er neben mir sang (Weihnachtsoratorium, Choral Nr. 53): "Zwar ist solche Herzensstube wohl kein schöner Fürstensaal, sondern eine finstre Grube ..." Scheinbar geht es positiv weiter: "doch sobald dein Gnadenstrahl in denselben nur wird blinken, wird es voller Sonnen dünken". Aber die Gewichte sind lügnerisch verteilt: Das Herz ist finster, wird hell nur dünken. Während der Erlöste zwar laut Jesu Worten Knecht heißen will, sich aber mit dem Vater darin einig weiß, daß er sein Sohn ist und folglich zum freien Selbstbewußtsein allen Grund hat - jetzt, da er tief begreift, daß wahrer Gehorsam und wahrer Selbststolz in der mündigen Liebe nicht mehr Widersprüche sondern die beiden Pole derselben Beziehung sind.

Wie halten wir es mit der Lehre Augustins und des Augustinermönchs, der sie gegen die verweltlichten Renaissance-Katholiken neu eingeschärft hat? Erstens ist leicht einzusehen, warum sie sich damals gegen das Freiheitspathos der Urkirche durchgesetzt hat. Nachdem der Kaiser Christ geworden und die Christenheit ihm verpflichtet war, paßte die Autonomie des Einzelnen nicht mehr recht in die Zeit.

"Dagegen bekennt sich Augustinus, der dem Menschen jegliche Fähigkeit zu freier Entscheidung abspricht, zu einer Definition von Freiheit, die so recht nach dem Herzen der Machthaber ist, für die er sich stark macht. Nach seiner Darstellung sind Sirenenklänge von Freiheit das Mittel, mit dem die Schlange Adam im Paradies zu Fall bringt. Die verbotene Frucht symbolisiert, so Augustinus, ‚den eigenen freien Willen'." [Pagels, ebenda 246]

Zweitens sollen wir verstehen, daß diese Kirchenepoche vorbei ist und es für jene Unbalance der spirituellen Gewichte kein gültiges Motiv mehr gibt. Wie läßt ihr Gleichgewicht sich aber denken? Den überkommenen Pessimismus jetzt gegen einen naiven Optimismus zu vertauschen, über die heile Welt und den von Natur aus guten Menschen zu reden, dazu haben wir Kinder dieses Jahrhunderts keinen Grund. Ein Menschenherz, das sich Auschwitz ausdenken konnte - ist es nicht eine finstere Grube?

Unterscheiden wir zunächst die erfahrbare Realität von der geglaubten Wirklichkeit. Real ist des Menschen Dasein von der Zeugung bis zum Tod, zwischen mehr oder weniger Glück und Unglück, Schuld und Verdienst, Erfolg und Scheitern. Empirisch feststellbar ist stets nur Relatives.

Anders beim geglaubten Sinn, d.h. (für Glaubende) der Wirklichkeit. Im göttlichen Licht betrachtet, ist sie eine drei-einige Struktur:

a) DU: Alle Geschöpfe hängen total vom SCHÖPFER ab, sind aus sich selber "ein reines Nichts" (Meister Eckhart). Auf den Anfang blickend spricht der Glaube von Schöpfung, im schon Geschaffenen läßt die bleibende Herkunft aus dem Nichts sich nur so vorstellen, daß man einen "Fall" denkt, der sich auf alles Künftige auswirkt. Das meint der rätselhafte Begriff "Erbsünde": Sofern alles Gute in uns Gottes Schöpfertat ist, insofern ist unsere (eingebildete) eigene Gerechtigkeit nichts als Ursünde, unser selbsterwirktes Glück bloß Unglück, unser arrogantes Selbst absolut nichtig. So schlimm ist es, "die ganze Welt liegt im Bösen" (1 Joh 5,19). Dies ist die Wahrheit Augustins und Luthers, auf sie weist jede böse Realität hin. Wenn ich an D*s letzte Sätze denke, mit denen er meine Nachfrage abwimmelte, fällt mir das Zornwort des Engels an die Gemeinde von Laodizea ein: "Du sprichst: Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts! und weißt nicht, daß du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß" (Offb 3,17). Der Vorwurf trifft aber nicht nur meinen armen Freund. Sein Elend war nur eine sichtbare Spitze des all-gemeinsamen Unheils-Eisbergs. Gerade auch mich meint die göttliche Kritik. Das habe ich in der Nacht nach der traurigen Nachricht begriffen. Ja: Auch ich bin einer, der sich das sagen lassen und im Innersten erzittern muß.

b) ICH: Doch ist dieses Nichts, das ich bin, nur der eine Pol der trinitarischen Spannung, die ich bin. Sein Gegenpol - ohne den es die finstere Grube nicht gäbe! - ist meine wirkliche Zugehörigkeit zu CHRISTUS, dem Menschen, der Gott selbst ist und jedes Nichts ewig besiegt. "Wo die Sünde sich gehäuft, nahm die Gnade überhand" (Röm 5,20). So sehr, daß die wahre Balance beider Pole keineswegs als schwankende Zweideutigkeit vorzustellen ist. Im Gegenteil! "Jesus Christus ... war nicht Ja und Nein zugleich, sondern das Ja hat sich in ihm ereignet. Denn was da ist an Verheißungen Gottes - in ihm ist das Ja" (2 Kor 1,19 f): zur Verheißung des Glücks, der Gerechtigkeit, sogar der Freude am Selbst. Denn kein Fremder ist uns Christus, vielmehr unser zuinnerst aufquellendes (Joh 4,14) Selbst: "Ich lebe, aber nicht mehr ich, Christus lebt in mir" (Gal 2,20) wie in der Rebe der Weinstock.

c) EINS: Ist das aber nicht ein unerträglicher Widerspruch? Wir sind aus uns selbst bloß finsteres Nichts, und doch soll unser Selbst von innen her göttlich hell sein? Nun: Das Wörtlein "selbst" bedeutet beide Male nicht dasselbe. Von Dir, Gott, hängen wir schlechthin ab, aus uns selbst sind wir nichts: Hier geht es um ein gewähntes, eingebildetes Selbst abgesehen von Gott dem Sinn des Ganzen, neben ihn aufs Nichts projiziert und darin verschwindend. Unser wirkliches Selbst hingegen hat am einzigen göttlichen Ich teil, das in Jesus erschienen ist: "Ehe Abraham ward, bin Ich" (Joh 8,58), des Vaters Abglanz, Licht vom Lichte, vom ewig bejahenden Selbst ewig bejahtes Wort "Ich". (Seine Beiwörtlein dürfen wir sein, Glieder seines Leibes, in denen Ich so ähnlich lebe wie in deinen Fingerspitzen du, die Person deines Leibes, ohne die deine Glieder tot wären; "ohne mich könnt ihr nichts tun" (Joh 15,5), Nichts sein.) Die unendliche Du/Ich-Spannung ist gleich-ewig aufgehoben im WIR=EINS, der (menschlich gesprochen) dritten Ur-Wirklichkeit: den HEILIGEN GEIST nennt die Kirche die göttliche Liebeseinheit. Ihre Stereo-Energie überbrückt den Abgrund zwischen Dank und Stolz auf eine dem Verstand unbegreifliche Weise, die aber Liebenden kein Rätsel sondern selbstverständlich ist.

In einer Freiheitswelt sind Wenn-Fragen nicht sehr sinnvoll. Hätte D* zur Flasche auch dann gegriffen, wenn ihm von Kindheit an selbstverständlich gewesen wäre: Ich bin selber wer, unabhängig davon, ob ich meines Bruders Tüchtigkeit erreiche; niemandes Anerkennung muß ich mir verdienen, denn von ganz innen her stammt mein Lebensrecht - ? Das weiß niemand.

Wir sollten uns auch hüten, den Selbstpol der Heilsspannung als Mono-Pol zu isolieren. Wer nur ihn lebt, verhärtet sich im Egoismus. Einen anderen jüngeren Bruder kenne ich, der gleichfalls beruflich gescheitert ist. Er macht sich aber nichts daraus, legt seinen Stolz darein, das Sozialamt bis zum letzten Tropfen zu melken. Mit Schwarzarbeit aufgebessert, erlaubt sein Einkommen ihm, Normalverdiener dermaßen höhnisch zu verspotten, daß manche kein Wort mehr mit dem Verächtlichen reden. Erinnern wir uns: Nur zusammen, als Liebe vereint, sind Stolz und Gehorsam die Wahrheit.

Möge D*s Bild mich immer mahnen, den Jüngeren Sohn mehr mit dem bejahenden Blick seiner Eltern zu sehen als mit der Mißachtung, die er - zu Unrecht - aus ihrem Lob des tüchtigen Älteren ängstlich heraushört und die in ihm wühlt, bis er es daheim nicht mehr aushält und zu seiner Irrfahrt aufbricht. Der Vater läßt ihn ziehen, nicht im Zorn, viel mehr in der Hoffnung, er werde mitten in der Krise die Kraft zur Umkehr finden. Bei D*, hoffe ich, hat das Gleichnis sich erfüllt. "Fürchte dich nicht", haben wir nach Bachs tröstlichen Noten so oft zusammen gesungen, "fürchte dich nicht, ICH bin bei dir. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist MEIN."

Februar 1998


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