Jürgen Kuhlmann
VIERMAL WEISS
Glaubenswahrheit als schwingende Spannung
Vier weißen Gestalten bin ich jüngst begegnet, ihre Zusammenschau klärt den Glauben. Zwei wurden von Millionen gesehen: an Ostern der schwerkranke Papst am Fenster, wie er Pilger und Erdkreis noch einmal segnen wollte, doch versagte ihm die Stimme. Und bei der Totenfeier für ihn reichte Kardinal Ratzinger dem greisen Roger Schutz im Rollstuhl die Kommunion, dem evangelischen Gründer der Gemeinschaft von Taizé. Tags zuvor fand in der rumänisch-orthodoxen Kirche von Nürnberg ein Totengottesdienst nach orthodoxem Ritus für den Papst statt. Bischof Serafim hatte dazu eingeladen, mit Katholiken und Evangelischen nahmen auch Muslime teil. Während der Gesänge traf mein Blick den auferstandenen Christus, wie er - strahlend weiß an eine Wand gemalt - Tote aus dem Grabe ruft.
Eine vierte weiße Gestalt hatte mich am Karsamstag in Aufregung versetzt. Während der Arbeit an neuem Gleichgewicht haben sich zwischen den vier Figuren geistliche Kraftlinien enthüllt, die vielleicht auch anderen Glaubenden zu stärkender Klarheit helfen können. Deshalb sei die Geschichte erzählt.
Als Vertreter der "Religionen für den Frieden" (WCRP) war ich zum Treffen eines Sikh-Weisen mit über tausend Anhängern aus Europa eingeladen. Die Bewegung nennt sich "Wissenschaft der Spiritualität". Europäischen Ohren klingt das seltsam, doch hat der Sohn und Enkel indischer Weiser zahlreichen Europäern anscheinend viel zu sagen; der riesige Saal der Meistersingerhalle war mit erwartungsvoll Angereisten fast gefüllt, als der Meister eintraf und sich, ganz in Weiß, hoch auf einem weißen Podest niederließ. Eine lokale Vertreterin begrüßte ihn und kündigte, als musikalische Einstimmung, den ukrainischen Chor "Agnus Dei" mit christlichen Gesängen an.
Was dann geschah, empfand ich als dröhnenden "Zusammenprall der Kulturen". In graue Mönchskutten gewandet, trat eine Männerschola auf die Bühne und sang Gregorianik, zuerst den Osterhymnus "Victimae Paschali Laudes", dann die vertraute Missa VIII "De Angelis". Die Menge im Saal hörte höflich zu, im Gesicht des thronenden Meisters sah ich keine Regung. Was die Sänger dachten, war nicht zu erkennen.
Zwei Glaubensweisen stießen aufeinander. Für die allermeisten im Publikum dürfte die Musik europäische Folklore gewesen sein, Gregorianik ist in. Jene alte Religion, die man - vielleicht - aus langweiligen Gottesdiensten und Schulstunden kannte, hatte ihre Kraft über die anwesenden Seelen verloren. In einer Schrift der Bewegung heißt es: Der Meisterheilige kommt, um den durstigen Seelen Trost, Führung und Schutz anzubieten, die sich schmerzlich danach sehnen, zu Gott zurückzukehren. Sant Rajinder Singh war der neue menschliche Pol, der mit der wichtigsten aller denkbaren Aufgaben begonnen hatte - das Licht Gottes in unsere dunkle und stürmische Welt zu bringen ... Seine Botschaft ist einfach und klar: "Nur durch inneren Frieden können wir äußeren Frieden erreichen. Durch Meditation können wir in uns Frieden, Glückseligkeit und dauerhaftes Glück finden. Wenn wir das einmal erreicht haben, werden wir Liebe und Zufriedenheit auf andere ausstrahlen, was schließlich den Frieden in der ganzen Welt fördern wird."
Als die Schola aus Kiew gar nicht mehr aufhörte, sondern nach dem Sanctus auch noch das Agnus Dei und Ite Missa est anstimmte, spürte ich im weiten Auditorium Ungeduld: Jetzt aber genug, den Meister wollen wir hören.
Mir dagegen drangen die uralten Christusrufe des Gloria mit unerhörter Schärfe ins Herz. "Denn du allein bist heilig. Du allein der Herr. Du allein der Höchste, Jesus Christus." Was soll mir der Guru da? Er meint es bestimmt gut und hat in vielem recht. Aber nicht er rettet, sondern Jesus Christus. Liegt es an den slawischen Sängern, daß mir Solowjows "Kurze Erzählung vom Antichrist" in den Sinn kommt? Diese Endzeitfigur verspricht der Welt Einheit und Frieden, hält Jesus jedoch für seinen Vorläufer statt seinen Herrn und führt die christlichen Bekenntnisse, deren Führer ihm widerstehen, beim Weltende zur einen Kirche zusammen. Wie der Inder dort auf seinen Kissen thront und sich von Christi Lobpreis unterhalten läßt, hat seine Figur etwas Antichristliches. - Ist ihm das aber vorzuwerfen? Haben sogenannte Christen im Vollgefühl ihrer Überlegenheit seine Heimat nicht Jahrhunderte lang unterjocht? Warum soll er deren Religion höher achten als die eigenen spirituellen Wurzeln, aus denen jetzt sogar Europäern ein neuer Geist des Friedens erwächst? Des Friedens nicht nur unter Menschen sondern mit aller Kreatur: Zum inneren Kreis der Bewegung, so erfahren die Anwesenden, dürfen nur Vegetarier gehören. - Und ich? Stehe ich wirklich auf der Seite der alten und neuen Kolonialherren, die auf dem ganzen Erdball das Gloria so triumphierend singen, nicht eher bei ihren Opfern, die sich im Namen der einen Menschheit gegen jeden wehren, der "allein der Herr" zu sein sich anmaßt?
Der Zusammenprall der Kulturen ist aus dem Saal in mein Bewußtsein gesprungen. Was denken? Die nächsten weißen Gestalten vertiefen den Zwiespalt. Der hilflose Papst rührt ans Herz - sein Amt aber, vom weißen Talar bedeutet, ist radikal zweideutig. Nicht erst Luther erblickte in ihm den Antichrist, schon der Evangelist Matthäus fügt dem Wort Christi an Petrus, den Grundstein der Kirche (16,18), sofort das andere an (16,23), mit dem Jesus den frisch bestellten Amtsträger einen Satan und Stolperstein nennt, wozu er in der Kirchengeschichte auch allzuoft wurde. Und sogar Christus selbst, lichteste aller Gestalten, ist irdisch in Zwielicht gehüllt. Darf die Christenheit ihn wirklich "das Licht der Welt" heißen - wo Jesus selbst nicht einmal "guter Meister" genannt sein wollte, denn "Gott allein ist gut" (Mk 10,18)? Anscheinend wehrte er sich dagegen, als ein Licht zu gelten, ohne welches alle anderen finster sind! Gibt Jesu Demut nicht der jüdischen und muslimischen Kritik gegen christlichen Überschwang recht?
Erst die vierte weiße Gestalt hat mir das Rätsel gelöst, d.h. ins Geheimnis zurückverwandelt. Frčre Roger Schutz, durch den Gott vor 65 Jahren (!) die Kommunität von Taizé ins Leben gerufen hat, trat nicht anspruchsvoll auf. Sein Weiß war nie in der Gefahr, sich mit einer Sonne zu verwechseln, die andere verdunkelt. Der Kult um den Guru, vatikanische Papstbeweihräucherung, die unendliche Kluft zwischen Christus und Christenheit haben in Taizé keine Parallelen. So hilft der vierte Weißgewandete, die Ambivalenz der anderen drei in Richtung auf die eindeutige Wahrheit hin zu klären, die auch sie meinen: Es gibt die Sonne nicht ohne ihre Strahlen. Die Beziehung zum Licht in allem Beleuchteten ist der Sonne eigen. Wer die Sonne von ihren Strahlen trennt, abstrahiert nicht, sondern lügt. Abstrahieren müssen wir, niemand kann je alles sagen; wer der Sonne aber ihr Licht auf unserem Gesicht wegnimmt, dient keiner Sinnwahrheit, erzeugt bloß Ideologie. Petrus ist Papst, um seine Brüder - und Schwestern - zu stärken. Christus ist das Licht der Welt, indem er die Seinen eben dazu befähigt: "Ihr seid das Licht der Welt."
Sobald ich verstand, daß Glaubensweisen nicht Sinnklötze sind, sich vielmehr jeweils auf andere beziehen, war meine Teilnahme am Treffen mit dem indischen Meister von ihrem Zwiespalt geheilt. Ich war als lernbereiter Christ zu Gast bei einer fremden Religion. Nicht für falsch halte ich ihre Botschaft, nur einfach für ein anderes SINN-Organ im Leib der von Gott berufenen Menschheit, das für die Gesundheit des christlichen SINN-Organs wichtig ist, wie umgekehrt auch das Christentum für indische Weisheit, das hat Gandhi gewußt. Der Vergleich der verschiedenen Glieder im einen Leib, den Paulus auf die binnenchristlichen Differenzen anwendet (1 Kor 12), gehört heute auf die vielen Religionen der einen Welt ausgeweitet. Wie ich einer Herzzelle nicht erlaube, willkürlich in die Lunge auszuwandern (sie soll allen Gliedern, auch der Lunge, eben im Herzen dienen), so weiß ich mich vor Gott dankbar als Christ und achte - nicht trotzdem aber deshalb - die Glaubensweisen meiner Mitmenschen von Herzen. Denn Glaubenswahrheit besteht nicht nur aus der inneren Form einer Gemeinschaft, sondern immer auch aus Beziehungen zu anderen Gemeinschaften. Wer die Pfeile nach draußen ausblendet, verarmt nicht nur sondern fälscht den Kreis der eigenen Identität.
Schenke Gott uns einen Papst, der sein weißes Gewand nicht mit der Sonne verwechselt, es lieber die demütig weiße Leinwand bedeuten läßt, auf der alle Farben von "Gottes vielbunter Weisheit" (Eph 3,10) so leuchten, wie der Pfingstgeist sie in seine Kirche strahlen will.
11. April 2005
Eine Predigt zum Thema
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