Jürgen Kuhlmann

Unsere ursprüngliche Würde

Gegen scheinfrommen Kleinmut

"Ich will aber nicht adoptiert sein!" Empört wehrt die Zehnjährige sich gegen das, was sie da eben in der Religionsstunde gehört hat: Jesus sei von sich aus Gottes Sohn, wir anderen hingegen seine Adoptivkinder. Ich beruhige sie: Nein nein, du bist schon ein echtes Gotteskind. Jesus will, dass wir zu ihm gehören. Auch uns will Gott alles schenken. So sagt es die Bibel: "Schaut, welch große Liebe uns der Vater geschenkt hat, dass wir Kinder Gottes heißen, und wir sind es" (1 Joh 3,1). Weißt du, die Wörter sind zu schwach, unseren wahren Rang auszudrücken, sie packen ihn nicht, rutschen ab wie von der Fahrradmutter eine ausgeleierte Zange. Vergiss, was ich von Adoption gesagt habe - wenn du gegen das Wort allergisch bist, stimmt es für dich nicht - so wie manche Leute ein bestimmtes Obst nicht vertragen.

Im Neuen Testament steht unsere Adoption viermal (Röm 8,15.23; Gal 4,5; Eph 1,5). Und ohne die "Abhebung dieser gnadenhaften Gotteskindschaft der Christen von der wesenhaften Sohneswürde Christi" (Rudolf Schnackenburg zu 1 Joh 3,1) wäre ein Denken nicht rechtgläubig im Sinn der Kirche. Christus ist (lehrt das Dogma) von Natur, was wir aus Gnade werden dürfen. Wäre ein Widerwille, der sich bei jemandem gegen solch feudale Distanzierung regt, vom Bösen? Das war vor bald siebenhundert Jahren die Sorge der päpstlichen Theologen, als sie Meister Eckharts Satz verurteilten: "20. Der gute Mensch ist der eingeborene Sohn Gottes."

Wäre das wahr - so fürchtete man vermutlich am Hof von Avignon - dann bräuchte ein Mensch ja weder Christus noch die Kirche, fände unmittelbar in sich selbst, worauf es ankommt. Das Christentum hätte seinen inneren Grund verloren, mit seinem segensreichen Einfluss auf die Geschichte wäre es vorbei.

Inzwischen hat Meister Eckharts kühne Deutung allerdings wie ein Sauerteig das europäische Bewusstsein umgestaltet. Auch dass jenes Mädchen durchaus nicht von Gott adoptiert sein will, verstehe ich als späte Folge der mystischen Einsicht des Meisters: Wir gehören wirklich, wahrhaft und unmittelbar zum göttlichen Bereich. Nicht erst nachträglich, wurde doch ursprünglich "in Ihm, dem Sohn der Liebe des Vaters, das All erschaffen" (Kol 1,16), darin auch wir. Eben diese Ursprungswürde lebt in den Erlösten wieder auf.

Wie aber - sind wir nicht Sünder? Darf man den Wahn egoistischer Idioten, die sich für Gott halten und auf den Gefühlen anderer herumtrampeln, auch noch mystisch befördern statt ihnen klar zu machen: "Staub bist du, und zum Staub kehrst du zurück"?

Offenbar braucht es eine Unterscheidung und ein sie klärendes Gleichnis. Anders können wir über unsere Würde nicht sprechen. Auch Adoption ist ein Gleichnis. Ich schlage ein anderes vor, das m.E. den entscheidenden Punkt schärfer trifft.

Unterscheiden wir zwischen Was-Frage und Ob-Frage. Was der Glaube uns versichert, steht wörtlich schon im Neuen Testament: Von Gott aus sind wir "Mitinhaber der göttlichen Natur" (2 Petr 1,4). Das bedeutet: Das drei-einig absolute Ineinander von Selbst-Bewusstsein, wechselseitiger Hingabe und Liebesfreude ist unsere wahre Wirklichkeit. Was wir zuinnerst sind, erfüllt bereits unsere ausgreifendste Sehnsucht. Adams Griff nach der unmöglichen Frucht wird in Christus radikal geheilt: "Wer siegt, dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradies Gottes steht" (Offb 2,7). Alles in allen will Gott sein (1 Kor 15,28), mithin auch: du in dir. Mehr geht nicht. Und das ist es, was wir sein dürfen.

Ob wir es aber tat-sächlich sind, liegt an unserer Freiheit: Deren Tat bestimmt die Sache, zu der jemand sich macht. Wenn das Einzelwesen Adam oder Eva gegen die anderen und das Ganze wie Gott werden möchte, müssen beide schmerzlich erfahren, dass sie Staub sind. Wer aber wie Jesus und ausdrücklich in Christus - oder im für ihn namenlosen Ganzen - mit den anderen Alles sein will, ist aus dem Staub auferstanden: "Wir wissen, dass wir aus dem Tod ins Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben" (1 Joh 3,14). Dieselbe Melodie, die jemand jetzt mühsam übt, darf er im göttlichen Konzert endgültig sein. Wenn bei einer Probe Adam als Triangel die Trompete beneidet, wird er vom Komponisten erst aus- und zuletzt hoffentlich, zum Ganzen erlöst, herzlich angelacht.

In der folgenden Parabel von 1971 wird - innerhalb des Was - unsere tiefe SELBST-Identität von Hubschrauber und Landschaft bedeutet, unsere Geborgenheit in der LIEBE vom Seil, unsere gute ICH-Freiheit von der Hand mit dem Fernglas. Im Messer des Ob wird die gefährliche Freiheit zum Bösen anschaulich. Loswerden können wir die in der Zeit nicht, nur uns achtsam vor ihr, d.h. der geringsten Lieblosigkeit hüten und zitternd hoffen, das Seil möge auch im schlimmsten Fall sich zuletzt doch als dem Messer überlegen erweisen.

Aus einem teuflischen Reiseprospekt der Zukunft (siehe die Zeichnung von Peter W. Koenig):

Besonders beliebt sind unsere Hubschrauber-Ausflüge: luftig gekleidet sitzen Sie in einem bequemen Korb am Ende eines langen Nylonseiles, welches von einem Hubschrauber herabhängt, der langsam über das bezaubernde Panorama der Krokodilsbucht hinweggleitet. In Ihrer rechten Hand befindet sich ein Fernglas, in Ihrer linken ein superscharfes Messer. Unten lauern hungrig die Krokodile. Sie selbst genießen zugleich zwei hinreißende Vergnügen: 1) den gefahrlosen Anblick der einmalig schönen Landschaft; (wenn Sie es vorziehen, dürfen Sie das Seil vergessen und sich ganz auf die Landschaft konzentrieren, gleich als säßen Sie selbst im Hubschrauber). 2) Zugleich haben Sie aber, ganz nach Ihrer Wahl, auch die Möglichkeit des spannendsten aller Abenteuer: werden Sie wohl das Seil zerschneiden oder nicht? Viele unserer Kunden haben sicherlich bei uns die intensivsten Augenblicke ihres Lebens durchlebt, bevor sie den bewußten Schnitt vollführten. Selbstverständlich ist eine Lebensversicherung im Preis inbegriffen. Senden Sie den Kupon noch heute ab!


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