Jürgen Kuhlmann Gott kommt anders
In unserem Innersten lebt eine Überzeugung, die mit dem Adventstext, wie er im Matthäusevangelium steht und am ersten Adventssonntag in den Kirchen vorgelesen wird (Mt 24,37-44), nicht leicht zurechtkommt. Unsere Leitwörter sind: Demokratie, Gleichberechtigung, Solidarität, Durchsichtigkeit, Mitbestimmung. Wie uns aber hier die Ankunft des Herrn gcschildert wird, das scheint alldem ins Gesicht zu schlagen. Die Menschen vor der großen Flut waren ahnungslos, sie aßen und tranken und heirateten darauflos, nur Noach war von Gott gewarnt, konnte deshalb rechtzeitig die Arche bauen und wurde gerettet. Läßt sich eine größere Willkür vorstellen? Wenn diese Geschichte heute passierte, dann möchte ich nicht Noach sein. Kann man sich etwas Gräßlicheres vorstellen als allein in einer sicheren Arche dahinzutreiben, während ringsum alle Mitmenschen elend ertrinken müssen? Genauso aber, sagt uns Jesus, wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein: Von zweien, die miteinander pflügen, darf einer dabeisein, der andere nicht; von zwei Frauen, die mit der Handmühle mahlen, darf die eine dabeisein, die andere nicht. Seid also wachsam!
Liegt vielleicht hier der tiefste Grund dafür, daß der Advent viele von uns von Jahr zu Jahr weniger anspricht? Wie oft hört man doch solche Klagen: ja früher, da habe ich die Adventszeit wirklich erlebt ;alles hatte plötzlich eine andere Stimmung: so schön feierlich war mir zumute. Und jetzt? Der Trott geht weiter, es ändert sich nichts, außer daß mich der Weihnachtsrummel in den Geschäften und all die verlogene Lichterpracht scheußlich ärgert. Zehn Millionen Flüchtlinge um Kalkutta herum, und bei uns glitzern die Laternen.
Wenn wIr schon einmal soweit sind, wollen wir auch den letzten Schritt nicht scheuen. Kann es Jesus denn überhaupt so gemeint haben? Er war doch der solidarischste aller Menschen. Zu allen ist er gegangen, eben nicht bloß zu den Noach-Typen seiner Zeit. Wie hatte Gott noch zu Noach gesagt? "Geh mit deiner ganzen Familie in die Arche, denn dich allein habe ich unter diesem ganzen Geschlecht als gerecht vor mir befunden." Nun, zur Zeit Jesu gab es manche, die sich selbst für eine Art neuer Noachs hielten. Wir wenigen sind gerecht, alle anderen sind schlecht. Aber die Pharisäer waren gerade nicht die besonderen Freunde Jesu. Er hat sich in schlechter Gesellschaft wohler gefühlt als bei den Gerechten und die waren ja am Ende auch seine Mörder. Wie kann dieser Jesus, der ausdrücklich für die vielen, ja für alle leben und sterben wollte, wie kann er im Himmel eine so grausame Verwandlung durchmachen, daß er bei seiner zweiten Ankunft auf einmal ein willkürlicher, parteiischer Herr ist?
Was sollen wir also tun? Können wir uns freuen über die Ankunft des Menschensohnes? Ich glaube, ja. Eine interessante Unsicherheit mag uns den Einstieg weisen. Bei dem Evangelium, das wir gelesen haben, sind die Bibelwissenschaftler nämlich gar nicht sicher, wem von den zweien auf dem Feld es besser geht. Der eine wird genommen, der andere zurückgelassen. Man weiß nur nicht, heißt das: der eine wird mitgenommen in die Herrlichkeit, der andere muß draußen bleiben, oder heißt es: der eine wird weggerafft vom Verderben, der andere bleibt heil übrig. Mir scheint nun, diese Unsicherheit liege nicht bloß am Text, sondern an der Sache selbst.
Versetzen wir uns etwa 450 Jahre zurück. Da brodelte es ungeheuer unter den Christen. Sollte man Luther folgen oder zum Papst halten? Für die einen war sozusagen die katholische Kirche das Gesicht Gottes, und Luther war bloß dle bittere Medizin, die dieses Gcsicht mit Gewalt von einem Ausschlag heilte, der es seit Jahrhunderten verunstaltet hatte. Gott war im Kommen, das hieß für diese Menschen, die damaligen Katholiken: die katholische Kirche als das Gesicht Gottes war schon dabei, wieder zu heilen und zum Heil zu werden. Einer durfte dabeisein bei dieser erneuerten katholischen Kirche, der andere "fiel ab", gehörte nur zur Medizin, die man zwar erst auf das Gesicht aufstreicht, die aber dann mit der kranken Haut zusammen abfällt.
Für den Evangelischen sah es aber gerade umgekehrt aus. Auch er erlebte Gottes Kommen; aber für ihn war die neue, die evangelische Kirche Gottes Gesicht, während die verdorbene katholische bloß seine Maske war, dic nun endlich, endlich abgerissen wurde. Von zweien wurde einer mitgenommen, aufgenommen in das neue Antlitz Gottes, das da am Kommen war. Der andere hingegen wurde zurückgelassen in dem verdorbenen, unfruchtbaren Alten.
Und heute? Heute treffen sich beide Konfessionen und feiern miteinander Gottesdienst. An sich hat Gott viele Gesichter. Er liebt alle Menschen und möchte, daß alle gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Gottes Geheimnis ist umfassender, als wir je verstehen können. An sich hat Gott viele Gesichter.
Für dich aber nur immer eines. Darum sei wachsam! Denn du weißt nie vorher, wann und wie er kommt. Sei weder für die Mode noch gegen die Mode, sondern folge deinem Gewissen. Wer sagt dir denn, daß du so sein mußt wie die meisten? Vielleicht kommt Gott zu dir mit einem ganz anderen Gesicht als zu deinem Nachbarn. Vielleicht will er dich als einsamen Zeugen dessen, was war und erst später wieder einmal kommt. Oder mag sein, daß er mit einem Gesicht zu dir kommt, das vielen deiner Freunde bloß wie Mode und schlechter Zeitgeist vorkommt. Auch dann sei wachsam und mutig. Ich kann natürlich jetzt nur für mich sprechen, aber seit mir diese Wahrheit aufgegangen ist: Gott kommt mit vielen Gesichtern, aber zu mir immer nur mit einem ganz bestimmten - seither ist die alte Adventsstimmung wieder in mir erwacht. Ich zünde im dunklen Zimmer die Kerze an und frage mich: Wann kommst du, mein Gott, und wie kommst du? Wie wirst du morgen für mich sein, und in zehn Jahren?
Veröffentlicht noch vom Kaplan in: Christ in der Gegenwart, 19.12.1971
[Am 1. September 1982 wurde meine Jüngste geboren.]
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