Jürgen Kuhlmann
Spannung im Alter
Gegen die Verzweiflung im Seniorenstift
"Wir waren, was ihr seid; was wir sind, werdet ihr sein," mahnt das Schild vor dem Seniorenstift. Ja: jeder stirbt entweder jung oder wird alt werden und tut gut daran, sich rechtzeitig auf diese wichtige Lebensetappe vorzubereiten. Laßt uns deshalb, jung und alt gemeinsam, über das rechte Altern nachdenken.
Versetzen wir uns zu Beginn in ein Zimmer im Altersheim. Na Oma, wie gehts unserm Beinchen denn heute? Die junge Pflegerin sagt es freundlich, ganz ohne böse Absicht. Alle reden ja so. Zudem hat sie im Kurs gelernt, daß viele alte Menschen wieder wie Kinder werden, warum also nicht auch so zu ihnen sprechen? Über "Seniorenspiele" informiert ein Buch für Altersheimpersonal. Können Ringlein Ringlein und blinde Kuh nicht in jedem Alter schön sein? Vielleicht - und doch kommt mir ein bitterer Geschmack.
Da ist ein Mensch, der hatte mit zwanzig hohe Wünsche. Mit dreißig zitterte er im Luftschutzkeller, fast zerriß ihm das Herz in der Spannung zwischen Angst und Hoffnung: haben wir morgen noch eine Wohnung? Dann kamen die schwierigen Jahre voller Zuversicht: aufwärts ging es. Und jetzt, nachdem in Angst, Lust und Mühe ein Herz gereift ist, kommt im Spätherbst des Lebens so ein junges Ding daher, meine Enkelin könnte sie sein, und behandelt mich wie ein dummes, unmündiges Kind. Kein Wunder, wenn die alte Frau traurig in sich selbst versinkt, die Lebensfühler einzieht, weil sie buchstäblich "zur Schnecke gemacht" wird von ihrer ehrfurchtslosen Umgebung.
War das immer so? Ist es überall so? Nein. In Asien gelten die alten Menschen als weise, sie sind die Schätze der Familie, man hört ihnen zu, fragt sie um Rat, wenige Altersheime finden sich dort. Es ist eine Schande, wenn man die Eltern irgendwohin forttut. Ein Mensch, der uns mit den Erfahrungen früherer Zeiten verbindet und langsam in Gott hinein verblüht, hat Anspruch auf Ehrfurcht, nicht mühsame Duldung. Der christliche Ausdruck "Priester" kommt von "presbyter", Ältester!
Zwei Weisen gibt es, das Alter aufzufassen. Entweder man gibt der tiefen Hoffnung unseres Herzens recht und vertraut der Wirklichkeit oder aber man nimmt den Anschein der Realität für die Wahrheit und endet in trauriger, bestenfalls grimmiger Resignation gemäß dem üblichen Schema, wie bei uns ein Lebenslauf verstanden wird. Zuerst ist da das unreife Kind, es schreitet fort hin zum aktiven Erwachsenen auf der Höhe des Lebens, danach folgt der Rückschritt zum alten Menschen; nicht nur körperlich schrumpft man ein, auch die Verstandeskräfte lassen nach. Eine klare Linie ist das: zuerst steigt sie an, verläuft dann eben und sinkt schließlich wieder, bis sie zuletzt abstürzt. Kind und Greis wären sozusagen weniger Mensch als der tatkräftige Erwachsene. Das Kind ist keine Vorstufe, der alte Mensch keine Kümmerform. Daß unsere Zivilisation ihn dazu erniedrigt, ist ein böses Zeichen. Nicht bloß unterentwickelte Länder gibt es, auch runterentwickelte.
Natürlich ist das Alter auch die Zeit des Weniger-Werdens. Vor der harten Realität die Augen abzuwenden, solche Feigheit bessert nichts. Jene Linie, die aus dem Tal hinauf zur Hochebene und einzelnen Gipfeln führt, bis sie steil nach unten weist und zuletzt abstürzt: sie erleben, ersterben wir alle. Sie ist aber erst das Rätsel, nicht dessen Lösung. Die Wahrheit der Realität erfahren wir nur aus dem Glauben. Durch seinen Tod hat Christus den Tod getötet, und zwar nicht bloß den Schlußpunkt unseres Sterbelebens, vielmehr den ganzen, Jahrzehnte hindurch sich ereignenden so "vitalen Tod" (Augustinus) jeglicher Lebensstunde. Geheimnisvoll frohe Botschaft - wie läßt sie sich verstehen?
Ich mache es wie Jesus und sage Ihnen ein Gleichnis. Mit der Erlösung der Zeit ist es, wie wenn die LIEBE ein Brot für den Festtisch herrichtet. Das runde Messer der Brotschneidemaschine bedeutet das scharfe Jetzt. Links hält SIE das Brot, rechts erhält sie zuerst einen kleinen Kanten, dann immer größere Scheiben, dann gleiche, bis sie zuletzt wieder abnehmen und nach dem letzten winzigen Stück die Aufgabe vollbracht ist "und es kommt nichts nachher" (Bert Brecht). Die Zeit dieses Geschöpfes ist um. Ist das Brot also im Nichts verschwunden? Keineswegs. Nur die dümmste Hausfrau stellt neben die Brotmaschine den Müllkübel, eine kluge packt die Scheiben auf eine Silberplatte und bringt sie zum Festmahl. - Diesen Vergleich versteht schon ein Kind: Jeder Tag ist eine solche Schnitte für das Himmelsfest; sehen wir zu, daß wir gute Brote sind, ohne Giftkörner, ohne Löcher oder eingebackene Steine der Lieblosigkeit.
Achten wir jetzt auf diese Platte, wo die Schnitten sich sammeln, dann begreifen wir: dort wächst das Brot immer, auch gegen das Ende zu, wenn die einzelnen Scheiben schon wieder kleiner werden. Diese Einsicht ist entscheidend für das christliche Verständnis des Alters. Auch während deine zeitliche Teilgestalt abnimmt, steigert sich deine unverlierbare Ganzheit. Der Glaubende erfaßt die Gesamtwirklichkeit, der sog. Realist bleibt dem engen Anschein verhaftet. Wäre ich nur die jeweilige Schnitte, d.h. ein hinfälliges Flachwesen, dann müßte mein drohender, nein: immer schon geschehender Selbstverlust mich ängstigen, ja entsetzen. Als Christ hoffe ich jedoch: Das Brot, das ich bin, wird eines Tages per-fekt, "durchgemacht" sein; jede Scheibe, die ich jemals am Werden war, darf ich DANN für immer sein, aufgehoben in Gottes nichts vergessender Güte. Die Lust des Säuglings an der Mutterbrust, des Buben im Fußballtor, des jungen Vaters am Wickeltisch - all das wartet im Himmel schon auf mich. Ähnlich wie ein Maler in höchster Konzentration Tupfer neben Tupfer auf die Leinwand setzt und am Ende mit einem Blick das Ganze überschaut, so erfüllt das schöpferische Selbstbewußtsein eines vollendeten Menschenlebens DANN plötzlich seine gesamte Zeitgestalt; all seine Augenblicke werden vom ewigen Licht zum Leuchten gebracht, so total, daß ihre Schönheiten ihm Himmel und ihre Finsternisse Hölle sind, von der verzeihenden Gottesflamme heilsam ausgebrannt.
Nur wenn die holden Jugendtage für immer dahin wären, müßte das Alter uns als Verlust betrüben. Da sie aber auf ewig unser bleiben, sind wir zur nächsten Frage befreit: Welchen Gewinn bringt das Alter dem Menschen? Welches ist sozusagen der besondere Geschmack der letzten Schnitten unseres Lebensbrotes? Nun, gemäß dem Dreieinigkeitsglauben haben wir Menschen am innergöttlichen Leben teil: durch unsere Zeitlichkeit klingt sinnschenkend der Ewige Rhythmus selbst.
Sein Anfangstakt ist die vorgeschichtliche Geborgenheit im EINS des Heiligen Geistes, dann folgt die Beziehung des Gewissens zum DU Gottes des Vaters und der Stolz als Teilhaber am absoluten ICH, das in Jesus Mensch geworden ist. Alle drei göttlichen Dimensionen vereinen sich in der Mitte des Rhythmus: aus Urvertrauen, Gehorsam und Selbstbewußtsein quillt der schöpferische Entschluß: Ja, so sei ich. Mußten die Vollzüge von EINS, DU und ICH vor dem Entschluß getrennt voneinander gelernt werden, so fügen sie sich nach ihm harmonisch ineinander: widerspruchslos tritt zur Selbstverwirklichung des ICH die Verantwortung vor Gottes DU und schließlich die nachgeschichtliche Heimkehr ins große EINS; so mündet der dreieinige Rhythmus ebendort, wo er begonnen hat.
In die verschiedensten irdischen Wellenlängen senkt dieser göttliche Rhythmus sich ein. Die kürzeste Welle ist wie ein Blitz: Jeder bedeutende Augenblick enthält zusammengedrängt all diese Takte. Ohne Urvertrauen, Gewissen und Selbstbewußtsein gibt es keinen Entschluß; er kann auch sogleich zu Selbstvollzug, Verantwortung und Sich-Lassen führen. Denken wir an den Mann, der ein Kind aus dem Eis retten will und dabei selbst ertrinkt. - Auch der Tag ist nach diesem Muster gegliedert. Die letzten Momente im warmen Bett beleben das ur-anfängliche EINS-Vertrauen, beim (noch so kurzen) Morgengebet richte ich die Antenne meines Gewissens auf DICH, das kalte Wasser bringt mich zu MIR; den Tag füllen mancherlei Entschlüsse, die mein Selbstgefühl färben und vor DIR zu verantworten sind, im Abendrot schließlich lösen sich meine Sorgen und Krämpfe, bis ich mich im Bett wieder zusammenkuschele wie einst der Embryo. - Dieselbe Sinnreihe zeigt auch der Jahreslauf: im Frühling erwacht das Leben aus dem Winterschlaf und wächst über die Blüte zur Frucht, bis es im Herbst wieder zur Ruhe geht.
Von demselben Rhythmus wird das Menschenleben im Ganzen bestimmt. Vor der ernsten Geschichte liegt das Paradies der Kindheit ("o selig, ein Kind noch zu sein"), dann untersteht der junge Mensch der Autorität von Eltern, Lehrern und Ausbildern, bis das reife Ich des Erwachsenen die eigenen Möglichkeiten kennt, ergreift und durchsetzt. Je älter der Mensch wird, umso mehr gelten wieder die Maßstäbe seiner Tradition, bis im hohen Alter Ehrgeiz und Pflichtdrang sich lösen und der Großvater milde mit dem Enkel spielt, umstrahlt vom wiedergefundenen Paradies, wo nichts mehr wichtig ist - nur Alles.
Eben dies ist der Sinn des Alters: die Vollendung unserer Teilhabe an der dreieinigen Fülle durch die Heimkehr in die selbst- und ziellose Große Einheit des Heiligen Geistes. Wenn ein alter Mensch stundenlang nur dasitzt und in die ziehenden Wolken schaut, dann scheint solches Nichtstun dem unreif Aktiven vielleicht sinnlos; der Greis spürt jedoch, daß jetzt Gelassenheit "dran" ist, die seinen Ich-Mut aber nicht schwächt, sondern zu jener Ganzheit bringt, ohne die er bloß die Aufgeregtheit eines kosmischen Stäubchens wäre.
Das Leben des alten Menschen ist nicht spannungslos. Vielmehr braucht er, um die göttlichen Pole ICH, DU und EINS zusammenzuhalten, die allerstärkste seelische Spannkraft. Der Absprung naht. Wann spannt der Skispringer seine Kräfte aufs äußerste? Nicht beim Start, nicht mitten auf der Schanze. Aber bei den letzten Metern, kurz ehe es ihn hinausreißt ins Weite. Nein: Nicht der Anfang vom Ende ist das Alter, sondern das hochgespannte Ende des Anfangs. Alles, meine lieben jungen und alten Hörer, ALLES kommt erst noch.
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