Jürgen Kuhlmann: Kat-holische Gedanken

Erlöst durch Christi Blut?

Antwort auf den Protest von Uta Ranke-Heinemann in "Kirche Intern" 4/2000


Hält man das aufrüttelnde Bekenntnis von Uta Ranke-Heinemann gegen das "Blut-Dogma" sämtlicher Kirchen, so zeigt sich: Hier droht eine konfessionelle Spaltung quer zu den bisherigen. Denn von Jesus geht die Autorin nicht fort, und sie ist keineswegs die einzige Bekennerin ihres Glaubens, Unzählige fühlen ebenso. Seit ihrem SPIEGEL-Artikel vom November 1988 mit demselben Thema (zum Teil wortgleich mit dem jetzigen in KIRCHE INTERN) schaudert es auch mich jedesmal, wenn im Gottesdienst solch ein bluttriefendes Lied erklingt. Als ich diesen Widerwillen einmal ausdrückte, war ein evangelischer Mitchrist tief verletzt, hörte einen Angriff auf das Herz seines Glaubens. Was ist da zu tun? Muß wieder, wie vor fünfhundert Jahren, die Spannung zur Spaltung werden? Oder können Jesu Jünger diesmal ihre wahre Einheit schon sagen, ehe sie scheinbar zerbricht? Die folgenden Thesen bringen kein Resultat; können sie das Gespräch in friedlichere Bahnen lenken?

1) Weil in den Tempeln der Antike, um Gott oder Götter zu versöhnen, das Blut der Opfertiere spritzte, bot dieser Denkrahmen sich den ersten Christen an; so lesen wir im Hebräerbrief, daß Christus "nicht kraft Blutes von Böcken und Kälbern, sondern kraft des eigenen Blutes ein für allemal in das Heiligtum eingegangen ist und so unendliche Erlösung gewonnen hat" (9,12). Uns ist solche Erfahrung fremd; eben durch das Christentum ist der blutige Opferkult abgeschafft worden.

2) Wir sollen nicht deshalb zu dieser Vorstellung zurück, weil sie früher einmal das äußere Gedankenkleid des neuen Glaubens war, der sie überwunden hat! Jener Gott, den man mit Blut versöhnen muß: Er ist von Jesus als eingebildeter Teufelsvampir durchschaut worden, als Wahn einer Angstreligion, als unwirklicher Götze. Diesen Kern von Jesu Erlösungstat wollen wir nicht - durch ihr blutfixiertes Mißverständnis - wieder verlieren! So argumentieren auch evangelische Pfarrer heute: Was sollen wir in Jesus sehen? "Schon gar nicht ein Opferlamm, das einem beleidigten, Blut fordernden Gott geopfert wird. Sondern uns selbst sollen wir im Kreuz sehen. Und den mitleidenden Gott".

3) Was heißt dann aber: "durch sein Blut erlöst"? Fragen wir schlicht: warum ist Jesus gestorben? Eine Antwort liegt auf der Hand: Weil er treu zu den letzten Menschen gehalten hat. Die Ärmsten, Allerverachtetsten von damals: Zöllner, Huren, Samariter, sie hat er als gleichwertig angesehen und deshalb die Schubladenspiele der tonangebenden Kreise gestört. "Reich Gottes", das hieß in Jesu Sprache: Heil und Würde für alle. Solche Botschaft paßte denen nicht, die sich deshalb über den menschlichen Sumpf erhoben fühlten, weil sie die übrigen noch tiefer in ihn hineintraten. Darum haben sie die lautere Stimme des Ganzen abgewürgt. Jesus hat seine Botschaft höher geschätzt als sein Leben und ist für sie gestorben, ähnlich wie es - in seiner Nachfolge - zu unserer Zeit Martin Luther King, Bischof Oscar Romero und Tausende nicht so berühmter Christen getan haben. Ihr kostbares Blut hat erlösende Kraft. Wer ihr Sterben bedenkt, dem stärkt sich der Glaube an ihre Heilsbotschaft: "Martyrer" heißt wörtlich "Zeuge". Indem die herrschende Realität ihren unschuldigen Ankläger mordet, entlarvt sie ihre offiziellen Werte als verlogen, die Maske des Üblichen fällt ab und es zeigt sich das ebenso selbstverständliche wie revolutionäre Licht aus der Tiefe: Selig ihr Letzten; denn ihr seid nicht weniger als die scheinbar Ersten. Gottes Liebe, wie Gottes Sonne, leuchtet allen gleich, laßt euch nicht betrügen, sondern kämpft um euer Recht - nicht so allerdings, daß ihr den Spieß bloß umdreht und jetzt die anderen niedertretet, das würde insgesamt nichts bessern.

4) Gott steht nicht auf Blut, hat keine Lust am Quälen, im Gegenteil. Dennoch hat er Jesus nicht vor dem Kreuz bewahrt. Auch ein irdischer Vater bewahrt sein Kind nicht vor Angst und Schmerz, wenn es zum Zahnarzt muß. Alle Menschen, denen es bitter ergeht, sollen wissen: Gott hat es sich selbst nicht leichter gemacht. Nicht nur als (leidensunfähiger) Ewiger ist er bei mir in meiner Not, sondern als jener arme Mensch, der damals das Schlimmste "erleiden mußte, um so in seine Herrlichkeit einzugehen" (Lk 24,26). Nicht weil Gott blutdürstig wäre, sondern weil Gott es in der Welt, wie sie ist, nicht besser haben will als die Elendesten. Der Messias zu sein, das ist billiger nicht zu haben. Wem Gottes Güte die härteste Weise der Nachfolge Christi erspart, der preise Ihn und lebe dankbar im Licht seines Segens, stutze aber nicht den Messias nach unserem Maß zurecht.

5) "Alles hat seine Zeit," weiß der Prediger (Kohelet 3,1). In ihrer Ewigkeit gilt jede göttliche Wahrheit immer; wir in der Zeit müssen jeweils darauf achten, welche für den Lichtkegel unseres sich konzentrierenden Bewußtseins gerade "dran" ist. Das eine Mal läßt die Allgüte uns ihre unendliche Zärtlichkeit spüren, das andere Mal müssen wir uns im Dienst des Guten aufreiben, weil Gott in seinem Kampf gegen das Böse keine anderen Hände haben will als uns.

a) Gegen das Wahnbild eines bösen, blutsaugerischen Gottes setzt der Protest der Theologin sich hoffentlich in der Kirche durch. Ihre "Bitte um einen sanften Gott" (Titel jenes SPIEGEL-Artikels) meint nichts anderes als (feministische Wahrheit!) die freundliche Göttin Liebe, den Heiligen Geist. "Ruach" (Geist) ist auf hebräisch und aramäisch ein weibliches Wort. Die Propheten, Jesus und Maria, sie alle hatten, wenn sie vom Heiligen Geist hörten oder sprachen, wenn überhaupt eine Person, dann eine SIE im verborgenen Bilderreich ihres Bewußtseins, bestimmt nicht, wie wir, einen irgendwie gestaltlosen ER. IHRE warme Mutterliebe, ursprünglich schenkend [Bild: Madonna mit Kind] und zuletzt tröstlich bergend [Bild: Pietà], SIE schenkt alles, fordert nichts als unser Urvertrauen.

b) Zu ihr scheinbar - für unseren armen Verstand - im Widerspruch, weil in nie auflösbarem innertrinitarischem Gegensatz, steht Gottes fordernde und richtende Vaterliebe. Seine richtende Gnade ist zugleich seine richtende Gerechtigkeit. Unser Wort "Richten" drückt beide Pole aus. Der Richter richtet den Schuldigen hin, der Mechaniker richtet das Fahrrad her. Gott, wenn er richtet, gleicht beiden. Von mir aus bin ich dem Egoismus, der Servilität oder sonst einer Enge "verhaftet". Gottes Richtschwert reißt diesen Kerker (der ich selber bin!) unerbittlich nieder und befreit, erlöst so mein gottgewolltes eigentliches Ich, den Neuen Menschen.

Strenge bis aufs Blut und allerliebendste Huld sind im Innersten eins, auch wenn unsere Nerven diese Selbigkeit nicht fassen können, so wenig wie Jesus am Ölberg, als er, der Neue Adam, unter der Last der Menschheitsschuld fast zusammenbrach.

6) Wir können an der biblischen Sprache festhalten, indem wir sie radikal umdeuten. "Vergossen ist dein teures Blut" - bin ich durch es so ähnlich erlöst wie der Todkranke, dessen vergiftetes Blut durch eine Transfusion geheilt wird: des Blutes, das der allergesündeste Mensch für ihn vergießt, in den Schlauch rinnen läßt, der mich rettet, weil er mein böses Blut in sein allervitalstes wandelt, "das gnug für die Sünde tut", mit meinem verrottet-sterblichen spielend fertig wird? So kann ich jene alten Lieder wieder gläubig mitsingen, ohne jeden Vampir-Krampf. Allein, ohne Jesus, kann ich nichts tun, nur das Nichts tun; an SEIN Blut angeschlossen, "in Christus", kann ich werden, was Gott - wie jeder Vater - sich wünscht: ein zugleich selbständiger, verantwortlicher und liebender Mensch.

[Veröffentlicht im Juniheft 2000 von Kirche Intern (Wien), S. 46 f.]

Dazu schrieb Dr. Markus Himmelbauer vom Koordinierungsausschuß für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Wien, in der Nummer 7/2000 einen Leserbrief:
Antijüdische Stereotype
Ich unterstütze das Anliegen Jürgen Kuhlmanns voll und ganz, neue, uns heute verständliche Bilder für jene Erfahrungen zu finden, die Glaubende in der Begegnung mit Jesus Christus machen. Nur, warum muß er dazu ausgerechnet wieder die alten antijüdischen Stereotype aus der Mottenkiste hervorkramen? Sie sind nicht nur unangebracht, sondern auch falsch. Kuhlmann versucht, um Verständnis für die Entstehungszeit der traditionellen christlichen Opfertheologie zu werben und erklärt sie auf dem Hintergrund antiker Tempeltraditionen, bei denen das Blut der Opfertiere nur so spritzte. Etwas mehr Wohlwollen nicht nur für die christliche Sicht, sondern auch für die Tempelkulte selbst - und insbesonders natürlich für den jüdischen, auf dessen Hintergrund sich die frühchristliche Theologie entwickelte -, hätte ich mir schon gewünscht. Hatte der Tempelkult Israels nicht einen eigenen Wert, oder war er wirklich nur "Wahnbild eines bösen blutsaugerischen Gottes"? Falsch ist jedenfalls Kuhlmanns Feststellung: "Durch das Christentum ist der blutige Opferkult abgeschafft worden." Der Opferkult Israels ist mit der Tempelzerstörung durch die Römer abgeschafft worden, den blutigen Opferkult heute auf der Straße für den Gott "freie Fahrt für freie Bürger" und den blutigen Opferkult für den Gott "nationale Sicherheit" hat auch das Christentum nicht beenden können.

Meine Antwort "Blut im Tempel" wurde nicht mehr veröffentlicht.
Lieber Herr Himmelbauer,
auch ich unterstütze Ihr Anliegen, alles Antijüdische zu meiden, Doch meine ich, wir dürften die blutigen Opfer als innerjüdische Streitfrage behandeln und uns als Christen klar auf eine Seite stellen."Erbarmen will ich und nicht Opfer," das sagt Jesus (Mt 9,13 u. 12,7) als guter Jude und zitiert die Propheten: Hosea (6,6), wo es wörtlich steht; Amos 5,21 klingt noch schärfer.
Esther Seidel, Dozentin am Leo-Baeck-College in London, die ich bei einer Trialog-Tagung in Köln kennenlernte, schrieb mir: Nehmen Sie keine "falsche" Rücksicht.
Was halten Sie von dieser Deutung: Die Tempelopfer sind ähnlich Gottes Wille wie sein Befehl an Abraham, Isaak zu schlachten. Auch das war mehr ein herrschendes Gottesbild als der wahre "ICH BIN DA"; ER sprach vielmehr aus dem abschließenden Gnadenwort des Engels, der SEIN echter Bote war. Anscheinend konstruiert die Offenbarung Gottes Willen nach deutscher Grammatik: "Ich will das - NICHT": Um es zu sagen, tritt zuerst die Position auf, anders als englisch und italienisch, wo das Nein am Anfang steht. Am deutlichsten sagen es die Franzosen.
Also: Ähnlich wie ich den Hindu-Glauben ehren und doch die Kasten und die Witwenverbrennung ablehnen kann, so darf ich mich - zusammen mit vielen Juden - auch gegen die Tempel-Opfer wenden, ohne antijüdisch zu sein. Daß diese durch Christus abgeschafft worden seien, ist natürlich eine theologische (innerchristliche) Behauptung; historisch haben Sie recht. Für diese (mir - so - neue) Unterscheidung bin ich Ihrem Beitrag dankbar.
Brüderlichen Gruß,
Ihr
J.Kuhlmann


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