Jürgen Kuhlmann
Anleitung zum wahren Ausbruch
Ein hochbezahlter amerikanischer Geschäftsmann und Familienvater ist eines Tages unauffindbar verschwunden; drei Jahre später erkennt ihn jemand in einem Zirkusclown wieder ...
Warum empfinden die Leser einer solchen Notiz zunächst eine lausbübische Sympathie für den Mann, bevor sie einsehen, daß es "so ja nun auch nicht geht"? Warum hört man allerwärts Klagen über den "Trott des Alltags", die "lebensfeindliche Routine" - und zwar nicht von Fließbandarbeitern, sondern gerade von Leuten, die mit ihrer Lebensform grundsätzlich einverstanden sind? Praktisch gefragt: Wie kriegt man Spannung und Sinn in seine Tage?
Zentrale, universale Ratlosigkeit
Nicht wenige haben den Eindruck, daß diese zentrale Ratlosigkeit bei uns Heutigen an existentiellem Rang exakt der verzweifelten Leitfrage: Martin Luthers vor seinem Rechtfertigungserlebnis entspricht: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Nicht mehr, wie damals, erscheint Gott uns vor allem als der unerbittliche Richter, den es zu besänftigen gilt; sondern für uns ist Gott vorwiegend der Sinn des Ganzen, der sich mir Tag um Tag neu erschließen muß (und zwar im Alltag), soll ich ihn und mich nicht verlieren. Aufstehen, essen, Geld verdienen, essen, Geld ausgeben, essen, schlafen, aufstehen - mein Gott, das soll mein Leben sein?
Droht uns Deutschen - in Ost und West - vielleicht deshalb der "Volkstod", haben wir darum die wenigsten Kinder aller Völker der Welt, weil wir trotz allem das "Volk der Dichter und Denker" geblieben sind und uns als solches vor unseren Ungeborenen schämen, weil wir ihnen auf die Frage der Fragen keine Antwort wissen - so sehr schämen, daß wir sie ihre Frage lieber erst gar nicht stellen lassen?
Das merkwürdige Beispiel des Würflers
Sehen wir, wie eine bestimmte Extremlösung des Sinnproblems aussieht. Es handelt sich um den "Würfler" (Luke Rhinehart, "Der Würfler", übersetzt bei Molden, Wien 1972). Er ist ein Psychiater in New York, 35 Jahre alt, glücklich verheiratet, zwei Kinder. Er weiß allmählich schon am Morgen, wie der Tag enden wird. Zuerst versucht er es mit Zen: "Die Lösung des Rätsels lag darin, daß man die Dinge einfach laufen ließ ... Das Leben ist sinnlos? Wen kümmert es. Demnach sind meine Ambitionen Mist? Es schadet dennoch nicht, welche zu haben. Das Leben ist langweilig? Gähnen ist gesund" (16). Doch merkt er: die Langeweile und graue Sinnlosigkeit ist so nicht zu besiegen. Wie bringt er Spannung in sein Leben?
Da entdeckt er den Würfel. Vor kleinen und großen Entschlüssen legt er ihm verschiedene Möglichkeiten vor und folgt gehorsam seinem Diktat. Ja, das ist die Lösung: "Mein Geist explodierte förmlich vor Ideen. Meine Langeweile, unter der ich so lange gelitten, schien vermeidbar. Ich sah mich bereits nach jedem aufs Geratewohl gefaßten Beschluß sagen: die Würfel sind gefallen, und hierauf einen noch breiteren Rubikon überschreiten. Was tat's, daß ein Leben sich totgelaufen hatte? Es lebe das neue Leben" (73)!
Die vergnüglich-makabren Einzelheiten seines nunmehr sich ergebenden Lebenslaufes bis auf Seite 447 (für dort befahl der Würfel das Ende) seien ausgelassen. Unser Thema sei allein die verführerische Grundidee. Folgendermaßen erklärt der Würfler sie vor dem Komitee, das über seinen Ausschluß aus der psychoanalytischen Vereinigung beschließen soll:
"Meine Theorie ist, daß jeder von uns Nebenregungen hat, die durch seine normale Persönlichkeit unterdrückt werden und daher nur selten durchbrechen und in einer Handlung zum Ausdruck kommen (271) ... Die Nebenregungen sind die Schwarzen unserer Persönlichkeit. Sie sind unfrei seit der Formung unserer Persönlichkeit; sie leben als U-Boote in uns. Wir lehnen es ab anzuerkennen, daß eine Nebenregung potentiell vollwertig ist, so lange, bis ihr die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten gegeben werden wie unserem konventionellen Ich (272) ... Warum ist unseren Versuchen, Neurosen zu heilen, so durchgehend der Erfolg versagt geblieben? Warum verbreitet sich zusammen mit der Zivilisation auch die Unzufriedenheit, und das schneller, als wir neue Theorien darüber aufstellen, wie sie entsteht und was man dagegen tun könnte? Unser Fehler wird immer mehr offenbar. Aus den einfachen, einheitlichen, festgefügten Gesellschaften der Vergangenheit haben wir die Vorstellung einer Idealnorm des Menschen übernommen, die in unserer komplexen, chaotischen, labilen und multivalenten urbanen Zivilisation der Gegenwart überhaupt nicht mehr stimmt (276) ... Die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Nation von Würflern sind nicht abzusehen. Die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Nation aus Normalen sind offenbar: Elend, Konflikte, Brutalität, Krieg und allgemeine Freudlosigkeit" (278 f).
Auf eine Kurzformel gebracht liest sich das so: "Was waren wir doch für Narren! Wirkliche Narren! Eine Million Jahre haben wir geglaubt, es gebe nur die Wahl zwischen Selbstbeherrschung, Disziplin einerseits, Sich-gehen-Lassen andererseits. Dabei haben wir nicht erkannt, daß beides völlig gleichwertige Methoden sind, sich feste Gewohnheiten und Einstellungen und eine profilierte Persönlichkeit zuzulegen. Überhaupt diese verdammte Persönlichkeit! ... Was wir brauchen, ist disziplinierte Anarchie, kontrolliertes Sich-gehen-Lassen ... eine neue Art zu leben, eine neue Welt, eine Gemeinschaft von Würflern" (214).
Mit den ehrwürdigsten Traditionen vergleicht die Würfeltherapie ihr Werk am Menschen: "Er gerät in Ekstase. Er erlebt die Verlegung der Kontrolle aus seinem eingebildeten Ich in den Würfel als Bekehrung oder Erlösung. Es ist ein ähnlicher Vorgang wie beim neugeborenen Christen, der seine Seele Christus oder Gott überantwortet, oder beim Zen-Lehrling oder Taoisten, der sich Tao ausliefert. In allen diesen Fällen wird das Spiel mit der Ich-Kontrolle aufgegeben, und der Würfellehrling liefert sich einer Kraft aus, die er als außerhalb seiner selbst befindlich erlebt" (281).
Zwang und der Zufall
Wie steht das Christentum zu dieser seltsamen Philosophie? Zunächst müssen wir uns vor einer Verwechslung in acht nehmen. Eine Frage ist es, ob man grundsätzlich den Zufall entscheiden lassen soll, eine andere, welche Möglichkeiten man ihm vorlegt! Natürlich kommen Vergewaltigung und Mord für den Christen nicht in Betracht; falsch ist hier aber nicht die Methode im Augenblick des Entschlusses, sondern die vorher festgelegte Bandbreite der Möglichkeiten.
Damit sind wir auch schon auf die grundsätzliche Schwäche des Würfellebens gestoßen. Weder Zufall noch Gehorsam sind radikal genug. Der Gehorsam deshalb nicht, weil die Auswahl der Alternativen sowie die Gewichtung der Chancen ja ganz in meinem Belieben steht; der Zufall ist deshalb nicht rein, weil ich stets nur solche Alternativen benennen kann, die irgendwie als Unterprogramme meines allgemeinen Persönlichkeitsprogramms doch schon von meiner eigenen Vergangenheit vorgeschrieben sind. Wirkliche Überraschungen kommen da sowenig heraus wie aus der gefüllten Sonntagsgans. Gibt es einen Weg, sowohl den eigenen Zwängen als auch der universalen Beliebigkeit zu entkommen?
Das ist die Frage, an der alles hängt. Der Würfel löst sie nicht. Jesus sagt die Antwort, ehe er sie bis zum Ende vorlebt: "Jemand ging von Jerusalem nach Jericho und fiel unter die Räuber ... Ein Priester sah ihn und ging vorüber ..." Natürlich, seine wichtigen Pläne gestatteten keinerlei Ausbruch. Der Tempeldienst ging vor. Auch der Samariter hatte vermutlich seine Pläne. Doch ein Blick auf den blutenden Mann am Straßenrand zeigte ihm: vieles mag wichtig sein, aber nur eines ist jetzt notwendig. Sofort war ihm das Problem "Was tun?" für diesmal gelöst.
Was Simone Weil sagt
Eine der wegweisenden Christinnen unseres Jahrhunderts ist eine französische Jüdin, 34jährig ohne Taufe gestorben (1943) [inzwischen weiß man, daß sie sich zuletzt doch taufen ließ]. Zu Jesu Erzählung vom Samariter kenne ich keinen tieferen Kommentar als ein paar Sätze von ihr. Die angeblich so disziplinierte Anarchie des Würflers enthüllt sich als kindische Torheit im Lichte der Einsicht von Simone Weil: "Es gibt Fälle, da ist etwas notwendig einzig darum, weil es möglich ist. So, essen wenn man Hunger hat; einem Verwundeten, der am Verdursten ist, zu trinken geben, wenn Wasser in der Nähe ist. Weder ein Bandit würde sich dem entziehen noch ein Heiliger. Dementsprechend die Fälle erkennen, wo - obwohl das auf den ersten Blick nicht ebenso deutlich einleuchtet - die Möglichkeit eine Notwendigkeit in sich schließt. In diesen Fällen handeln, in den anderen nicht. Nur die guten Taten tun, denen man sich nicht versagen kann, die man nicht nicht tun kann, aber unaufhörlich - durch die wohl gerichtete Aufmerksamkeit - die Menge derer vermehren, die man nicht nicht tun kann. Nicht einen Schritt tun, sogar auf das Gute hin, über das hinaus, wozu man unwiderstehlich von Gott angetrieben wird, und das in der Tat, im Wort und in Gedanken. Aber bereit sein, unter seinem Antrieb überallhin zu gehen, bis an die Grenze (das Kreuz ...). Zum Maximum bereit sein heißt beten, daß man angetrieben werde, doch ohne zu wissen, wohin" ("Schwerkraft und Gnade", München 1954).
Bewundernswert! denkt der Leser jetzt vermutlich - doch was ergibt sich aus diesem hehren Prinzip für meinen Alltag? Wie wende ich es an auf Windelwaschen, Listentippen und den ganzen öden Kram? Gar nicht zu reden von dem Soldaten, der gegen seinen Willen in einen Krieg gezwungen wird, den er klar als widersinnig erkennt! Ist solche Entfremdung "notwendig"?
Natürlich geht es nicht darum, durch einen übernatürlichen Zaubertrick allen realen Unsinn in Sinn zu verwandeln. Das möchten Leute, die solchen Unsinn ihren Interessen zuliebe produzieren und das Christentum dazu mißbrauchen; es widersteht ihnen aber. Jesus hat den Widersinn vieler Gepflogenheiten seiner Zeit keineswegs brav verklärt, sondern aktiv bekämpft - bis man ihn aus dem Wege räumte. Auch wir sollen Unsinniges nach Kräften korrigieren, jenseits unserer Kräfte freilich erleiden.
Die Schöpferkraft des Sinns
So aber - das scheint der springende Punkt - daß wir daran nicht zerbrechen, sondern immer wieder die Energie aufbringen, neue Sinn-Inseln zu erschaffen. Mit dem Sinn ist es wie mit einem weiten Ozean. Mal stürmt er finster, mal plätschert er farblos dahin, nie gewährt er Halt. Da bricht auf seinem Grund ein Vulkan aus und türmt kraftvoll Lava über Lava, bis eine Insel entsteht. Dort treibt der Wind Samen an, verirrte Vögel und Insekten finden Ruhe, in der Wasserwüste winkt dem Leben ein Orientierungspunkt.
So stürmt auch gegen den Christen oft genug schwarzer Widersinn an, so wird er zu Zeiten von leerem Sinnmangel umplätschert. Dieses Meer trockenzulegen ist nicht meine Aufgabe, das gelingt erst nach der Zeit ("und das Meer ist nicht mehr", Offb 21,1). Im Glauben vertraue ich jedoch: unbesiegbar von allem wogenden Unsinn an der Oberfläche, glüht im Innersten der Wirklichkeit der ewige Sinn. Lasse ich mich auf ihn ein, dann ist - sooft es not tut - seine Schöpferkraft auch die meine, und mitten in wütender Brandung erscheint tröstend eine neue Insel.
So etwas geschieht, wenn ich im Verhältnis zu einem Menschen, den ich wenig mag, plötzlich die eingeschliffenen Fühl- und Redeweisen zerbreche und die Beziehung ganz neu beginne. Das fordert Jesus im Gebot der unbegrenzten Vergebung, das wäre in Simone Weils Sinn jeden Tag notwendig. Doch wie stumpf ist meist unser innerer Sinn! Oder ich mache mitten in der Plackerei, die Erziehung heißt, wieder ernst mit der alten Wahrheit, daß mein Kind Subjekt ist, mir gleichberechtigt, und Anspruch hat auf Partnerschaft ohne jede Übermächtigung. Oder ich besinne mich, wem meine Arbeit nützt. Wer hat etwas von der blöden Liste, die ich schreibe? Und wie viele ähnlich langweilige Arbeiten anderer Menschen waren nötig, damit ich mich in meinen Kleidern wohl fühle? Und so weiter ...
Wider Resignation und Zynismus
Theologisch gesprochen: der Glaube an den Sinn mitten im Unsinn korrespondiert genau dem antik-christlichen Glauben an das Leben in dieser Sterbewelt und dem reformatorischen Glauben an die Rechtfertigung des Sünders. Dabei entsprechen die Sinn-Inseln den guten Werken. Wie sie Früchte und Zeichen der Rechtfertigung sind, nicht aber ihre Ursachen, so sind auch die Inseln Ergebnisse des im Innern glühenden Sinnes und Hinweise auf ihn, nicht aber seine Bedingungen. Denn der Sinn ist unbedingt.
Der wahre Ausbruch ist also nicht der des Gefangenen aus dem Zuchthaus, sondern der des Vulkans unter dem Ozean. Jede Flucht über die Mauer, heraus aus dem Gefängnis einer Routine, endet nur in einem anderen Nebenhof des nämlichen weiträumigen Kerkers (vgl. das aufschlußreiche Büchlein zweier englischer Soziologen, Cohen/Taylor, "Ausbruchsversuche", edition suhrkamp Nr. 898, Frankfurt 1977). Wenn dagegen im Menschen voller Energie der Sinn aufbricht und ihn gut sein läßt, entsteht spürbar neuer Sinn. Deshalb kommt die verdrossene Resignation vieler oder der zynische Egoismus des Würflers für den Christen nicht in Betracht. Recht verstandene Nächstenliebe führt zu mehr Abenteuern, als meiner Bequemlichkeit lieb ist. Ich brauche nur auf verschüttete Hauptregungen meiner Mitmenschen aufmerksamer einzugehen, dann kommen auch manche meiner unterdrückten Nebenregungen unverhofft ins Spiel. Das Ziel ist klar. Ein bewußt liebender Mensch zu werden kann man versuchen; und wer es tut, ist bereits ausgebrochen aus dem Trott der Sinnlosigkeit. Sein Würfel ist gefallen. Eben diese Erfahrung drückt eine der Urgemeinden in dem tiefen (und den meisten Christen leider so unbekannten) Satz aus: " Wir sind vom Tod ins Leben hinübergeschritten, weil wir die Brüder lieben" (1 Joh 3,14).
Dieselbe prosaische, harte Alltagserfahrung ist es, die Jesus bei Johannes in der Sprache der Offenbarungsrede mitteilt: "Meine Speise ist es, daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat" (Joh 4,34). Ja, man spürt: dieser Mann kannte unseren wütenden Hunger nach Identität und Sinn. Er wußte aber auch, wie ein Mensch die Sinnlosigkeit besiegt: indem er mit aller Kraft jederzeit möglichst wach ist, um noch den leisesten Wink jener Liebe zu vernehmen und zu tun, die uns ausgedacht, befreit und gesandt hat, sie in der Welt dasein zu lassen, je hier und jetzt. Dein Würfel sei die vertrauende Liebe - und was du dann willst, das tu!
Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" vom 15. Okt. 1978
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