Jürgen Kuhlmann

Überblick und Durchblick

Warum gibt es nur linke Intellektuelle? Diese Frage stellte jüngst Hans Sachs (Staatsanwalt und Beruferater). Sie regt zum Denken an. Ja, warum spricht man eigentlich nicht von rechten Intellektuellen? Vermutlich nicht darum, weil die Rechten grundsätzlich dümmer wären. Wieso gilt dann aber, sozusagen als Axiom, daß Intellektuelle links sind?

Als erste Antwort fällt mir das Prinzip des weisen Kohelet ein: "Es gibt eine Zeit zum Niederreißen und eine Zelt zum Bauen" (Pred 3,3). Offenbar entsprechen diesen beiden Zeiten auch zwei gegensätzliche Funktionen des menschlichen Geistes. Beide sind gleichwertig. Aufbauen heißt hier: aus Elementen ein sinnvolles Ganzes gestalten, Lebendiges zur Höherentwicklung fördern, gegen die Kälte der Wüstennacht ein helles, warmes Haus errichten. Niederreißen heißt: anmaßende Ganzheiten in ihre Bestandteile zerlegen, aus Abgelebtem Grundstoffe für neues Leben gewinnen, die Mauern des Gefängnisses zertrümmern, um die Eingesperrten zu befreien. Es ist mit diesen beiden Funktionen, wie wenn zwei nebeneinander auf einer Ruderbank sitzen. Scheinbar steuern sie gegeneinander, jeder hindert den anderen, den Kahn allein zu lenken; eben dadurch aber treiben sie miteinander das gemeinsame Boot voran. - Beide Geistesfunktionen prägen gegensätzliche Menschentypen, nennen wir sie: den mit dem Überblick und den mit dem Durchblick.

Der typische Intellektuelle ist stolz auf seinen Durchblick. Ein noch so großartiger Überbau wird von ihm als solcher durchschaut. Für Kammerdiener gibt es keine Helden. Der Marxianer - sagen wir einmal so, denn Marxisten heißen sich auch die kommunistischen Sultane und Satrapen samt ihren Hofscharen - der Marxianer entlarvt die wirtschaftlichen, ja Ausbeuter-Interessen hinter den höchsttönenden Phrasen; der Freudianer entdeckt Triebe und Komplexe hinter den kunstvollsten Symptomen. Des Intellektuellen Röntgenauge sieht durch die wohlverkleideten Oberflächen hindurch die innere Faserstruktur, jene Elemente, aus denen jedes Ganze besteht. Mitleidlos analysiert er alles Gewordene auf das hin, woraus es ward und wozu es auch wieder werden kann. Diese Funktion ist notwendig. Nicht umsonst werden die Intellektuellen von den Popanzen jeder Farbe gefürchtet und verfolgt.

Überließen wir das Feld den Intellektuellen allein, würde uns freilich alles zerfallen, bis wir am Ende nur mehr Sand In Händen hielten. Die gegensätzliche Funktion ist ebenso vonnöten. Ihr widmet sich das Kind, wenn es aus Klötzen ein buntes Bauwerk auftürmt. Natürlich ist der Schöpferische dann auch konservativ und versucht, seine Schöpfung vor der Zerstörungslust des Brüderchens zu bewahren. Der Rechte ist der Mensch mit dem Überblick. Sein Auge erfaßt das Ganze. Im Museum achtet er nicht auf die Leinwandfasern oder die Chemie der Pigmente, sondern auf das Bild, das der Maler gemeint hat. Der Gegenpol zum Intellektuellen scheint mir darum der Schöpferische zu sein.

Je geistloser die herrschenden Zustände sind, um so mehr sollte der einzelne sich als beides verstehen, als intellektueller Kritiker des Bestehenden und als schöpferischer Gestalter von Neuem. Das Gegenteil zu beidem ist der Spießbürger (oder Spießgenosse), der weder einreißen noch aufbauen, sondern bloß in festgelegten Bahnen weitertrotten kann.

Gibt es auch den Spießchristen? Mindestens als Gefahr für jeden von uns. Doch wollen wir das weite Feld, das sich hier auftäte, für jetzt unbedacht lassen. Dem kirchlichen Amt den Überblick und der Theologie den Durchblick zuzuweisen wäre wahrscheinlich nicht ganz falsch, scheint aber doch allzu grob. Ziel dieser kleinen Überlegung sollte es lediglich sein, jenen schöpferischen (und nachschöpferischen) Menschen, die nicht als Intellektuelle gelten, einerseits den Grimm darüber zu mindern, anderseits zu gelassener Wertschätzung ihres kritischen Gegenpols zu helfen. Nur miteinander werden Überblick und Durchblick dem lebendigen Ganzen gerecht.

Februar 1981


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