Jürgen Kuhlmann
Rat für Behobelte
Ein Freund klagt: Mein Chef ist ein solcher Vorschriftenhengst! Das Ganze im Auge haben darf anscheinend nur er, wir Kleinen müssen bloß im Winzigsten korrekt sein. Auch wenn eine Vorschrift sich mal gegen die Interessen der Kunden kehrt, heißt es bloß: "Das ist eben so, halten Sie sich daran." Was soll ich tun?
Eines jedenfalls nicht: "Dienst nach Vorschrift". Der straft zwar auch den Chef, noch schlimmer aber die Leute, für die ihr arbeitet, und vor allem dich selbst. Vieles mußt du dem Apparat knirschend gestatten, deine Seele aber soll er nicht mechanisieren dürfen !
Nein: wehre dich, kämpf um deine Würde. Egal aber, wieviel du äußerlich erreichst, ärgere nicht auch du dich, wenn man dich ärgert. Sondern entreiß der quälenden Hand die Glasscherbe und gebrauche sie als Lupe zur Entzifferung eines wichtigen Geheimnisses:
Gott ist die Liebe. Sein einziges Gebot, in vielerlei Gebote aufgefächert, ist die einsatzbereite Liebe zum Mitmenschen, d.h. immer zu dem, mit dem du gerade zu tun hast. Letztlich gilt nur diese einzige "Vorschrift". Auch bei ihr gibt es kein Ansehen der Person, im Jüngsten Gericht (das sich jetzt schon ereignet, in der Tiefe eines jeden Augenblicks) geht es allein darum, ob du ein liebender Mensch bist, noch im letzten Menschen die allbejahende Güte geachtet hast. Wer oder was du in den Augen der Menschen, besonders deinen eigenen, sonst noch bist, spielt gar keine Rolle.
Wenn dir unter dem schmerzenden Hobel der blöden apparatlichen Gleichmacherei der Sinn für diese ganz andere innerste Gleichheit neu geschärft wird, dann hast du dem Apparat die Schau gestohlen. Klein wollte er dich machen und hat nur erreicht, daß du deine wahre Größe wieder besser begreifst.
Mai 1988
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