Jürgen Kuhlmann

Wir Spiegelbilder

Evangelisch-katholisches Selbst-Verständnis

"Deine Sorgen möcht' ich haben," brummte der Bäcker und klappte Kants "Kritik der reinen Vernunft" gleich wieder zu. Derselbe Abstand trennt komplizierte Theologie von Normalchristen. Aber etwas ist hier anders. Der Bäcker braucht Kants Klimmzüge weder zum Backen noch zum Leben, lebendiges Christsein jedoch gibt es nicht ganz ohne Denkmühe. Wer seinen geistigen Weg nicht immer neu ausbalanciert, landet bald, wie ein Radfahrer mit festgezurrter Lenkstange, in einem der beiden Straßengräben: rechts in fundamentalistischer Verbohrtheit, oder links in wurschtigem Relativismus: Entweder bloß ich und die Meinen haben recht - oder niemand, weil eh' alles egal ist. Weg, Wahrheit und Leben ist Christus uns nur, wenn wir auf ihn auch in unseren Mitmenschen achtsam hören. Um aus dem vernommenen Vielklang dann so etwas wie eine persönliche Symphonie herauszufiltern, sollten wir die Hilfe spezialisierter Glaubensdenker nicht verschmähen. In einem wahren Sinn ist jeder Christ auch Theologe, wie jeder seinen Luftdruck prüfende Autofahrer auch Mechaniker. Nicht nur in der Werkstatt zieht man aber klugerweise jemanden mit Überblick einem gutwillig Herumfummelnden vor.

Wenn zwei sich auf ihrer Wippe vergnügen, ist ihr Zusammenrutschen in die Mitte ebenso dumm, wie wenn er sie abwirft oder sie ihn [Evtl. suchen nach "die Wippe ist frei" (Rest lohnt sich kaum ...)]. Seit bald einem halben Jahrtausend denken katholische Kirche und Protestantismus gegeneinander. Wer ihren Widerspruch als friedliche Spannung erkennt, hat einen wichtigen Schritt getan, ist über einseitigen Konfessionalismus hinaus und auch über naiven, Stereo-Pole kurzschließenden Pseudo-Ökumenismus. Machen wir einen Versuch.

Juden und Christen glauben, daß wir Menschen Ebenbilder Gottes sind. Wie ist das zu verstehen? In einem hochgelehrten protestantischen Buch von 2005 [Magnus Schlette, Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen. Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus (Göttingen 2005), 52, Anm. 52] wird die Differenz zwischen katholischer und reformatorischer Auffassung durch den Unterschied zwischen Portrait und Spiegelbild erklärt. Auch das Gemälde verdankt sich der dargestellten Person, wäre ohne sie nicht entstanden. Ist es aber fertig, so besteht es in sich selbst, hat eigenes Sein. Das Spiegelbild hingegen ist "ständig darauf angewiesen, seine Gestalt von einem anderen zu empfangen". Dazusein heißt für es, sich auf das Urbild zu beziehen. Die Katholiken denken substantiell-dinglich, die Evangelischen relational, beziehungsmäßig.

[Hier die hochinteressante Fußnote im Zusammenhang: "Denn ein Bild ist, erläutert Arndt die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, "darin man eine gleiche Form und Gestalt sieht, und es kann kein Bildniß seyn, es muß eine Gleichheit haben dessen, nach dem es gebildet ist. Als, in einem Spiegel kann kein Bild erscheinen, es empfange dann das Gleichniß oder die gleiche Gestalt von einem andern. Und je heller der Spiegel, je reiner das Bild erscheint; also auch, je reiner und lauterer die menschliche Seele, je klaerer Gottes Bild darin leuchtet". Elke Axmacher (Das Spiegelbild Gottes. Johann Arndts theologische Anthropologie, in: E. Axmacher/ K. Schwarzwäller, Belehrter Glaube (FS J. Wirsching, Frankfurt a. M. 1994), 11-43) konnte anhand der Spiegelmetapher zeigen, daß Arndts Wahres Christentum nicht, wie es Ritschls Ausführungen nahelegen, dem katholischen imago dei - Verständnis substanzontologischer Gottesebenbildlichkeit, sondern dem reformatorischen verhaftet ist, das diese Ebenbildlichkeit relational interpretiert. "Die entscheidende Differenz zwischen dem katholischen und dem reformatorischen Ebenbild-Verständnis", so Axmacher, "liegt ... darin, daß im einen Fall Bild als analoges Gott-Ähnlichsein hinsichtlich der dem Menschen eigenen (zugeeigneten) geistigen Wesensstruktur verstanden wird, im anderen Fall als Gott-Entsprechen im unbedingten Bezogensein auf ihn, das die Negation des Selbstbezugs voraussetzt. Fragt man im einen Fall nach den Eigenschaften, die dem Menschen als Bild eingeprägt sind und von ihm in der Richtung seiner schöpfungsmäßigen Anlage immer weiter zu vervollkommnen sind, so im anderen nach dem Verhältnis, das von ihm in der Brechung und Umkehrung seines natürlichen Strebens nach Selbstverwirklichung immer tiefer wahrzunehmen (und eher zu erleiden als zu gestalten) ist. Reinigt und vollendet die Gnade im einen Fall das durch die Sünde befleckte Ebenbild, so zerstört sie im anderen das vom Menschen aufgerichtete selbsthafte Götzenbild, um es allererst durch das Gottesbild zu ersetzen" (Axmacher 1994, 19). Das Spiegelbild, so Axmacher unter Bezugnahme auf die einschlägige Textstelle bei Arndt, "hat kein eigenständiges Sein, es hat seine Gestalt nicht nur (wie ein gemaltes Bild) einmal ‚von einem andern' gewonnen, um sie dann dauerhaft zu behalten ...; vielmehr ist es ständig darauf angewiesen, seine Gestalt von einem anderen zu empfangen". Und wenn das Sein des Spiegelbildes allein in seinem Bezogensein auf das Urbild besteht, "so kommt alles darauf an, daß der Spiegel dem sich Abspiegelnden zugewandt und daß er ein heller, reiner Spiegel ist. Die Metapher wird ethisch-religiös verwendet. Grundlegend ist in beiden Aspekten das Verständnis des menschlichen als eines relationalen Seins im Verhältnis zum göttlichen" (ebd., 24). Die Sünde jedes einzelnen würde demnach darin bestehen, daß er seine Gottesebenbildlichkeit als Göttlichkeit mißverstünde und nun "selbst sein will", was er "von Gott her ist und nur von ihm her sein kann ... So geringfügig der Unterschied zwischen der Betrachtung Gottes im Spiegel des eigenen Selbst und der Betrachtung des eigenen Selbst in seiner Gottgleichheit auch erscheinen mag, für Arndt kennzeichnet er den Abgrund, der durch den Sündenfall aufgerissen wird" (ebd., 30).]

Was ist von dieser These zu halten? Mir scheint: Als Beschreibung des tatsächlichen Gegensatzes stimmt sie. Die heilige Teresa von Avila hört (in einem wunderbar du-mystischen Gedicht) von Gott, welch schönes Gemälde sie sein darf:

"Solcherart konnte Liebe,
Seele, in Mir dich abbilden,
daß kein weiser Maler
wüßte mit solcher Kunst
solches Bild zu drucken.
Du wardst durch Liebe geschaffen
anmutig, schön und so
in meinem Innern gemalt."

Einige Jahrzehnte später schrieb Johann Arndt, evangelischer Verfasser des vielgelesenen Buches "Vom wahren Christentum": "In einem Spiegel kann kein Bild erscheinen, es empfange dann das Gleichnis oder die gleiche Gestalt von einem andern. Und je heller der Spiegel, je reiner das Bild erscheint; also auch, je reiner und lauterer die menschliche Seele, je klarer Gottes Bild darin leuchtet."

Katholiken sprechen von der heiligmachenden Gnade: Wer glaubt, hofft, liebt, ist wirklich erlöst. Solange er nicht schwer sündigt, muß er sich vor Gott nicht verstecken, ist in sich selbst wahrhaft eine neue Schöpfung. Für Luther hingegen bleibt auch der Glaubende in sich selbst immer ein Sünder, vor Gott total verloren, eben ein Spiegelbild, das in sich nichts ist, nur in dem aktuell vom Andern ausgehenden Licht überhaupt existiert.

Dies sind gegensätzliche Selbst-Verständnisse, niemand kann zur selben Zeit beide praktizieren. Entweder ich glaube mich als solides Gemälde, von der Liebe gestaltet und als wirklich betrachtet. Oder ich empfinde mich als Spiegelbild, das in seinem Sein durch und durch von DIR abhängig ist, in sich aber das reine Nichts. Katholische und reformatorische Auffassung von "Ebenbild" schließen sich wechselweise aus, soviel ist schon richtig.

Müssen wir deshalb aber konfessionell getrennt sein? Keineswegs! Denn nur zusammen sind beide Denksignale die allein wahre Stereo-Botschaft des Heils. Anders als irdisch projizierte, schwache Spiegelbilder bin ich als geschaffenes Spiegelbild, weil von DIR dem allmächtigen Schöpfer wirklich gewollt, eben deshalb wahrhaft in mir selber wirklich. Und anders als irdische Gemälde, bin ich als GOTTes Bild nicht bloß irgendwann früher, sondern in jedem Augenblick jetzt, nur dank DEINer Schöpfer- und Gnadentat wirklich. Um nicht im eigenen beschränkten Gleichnis hängenzubleiben sondern aus ideologischer Scheinklarheit immer wieder ins Geheimnis durchzubrechen, sind Katholiken und Evangelische mithin aufeinander angewiesen. Ich stelle mir vor, wie im Himmel Teresa sich zusammen mit Johann Arndt über sich als Spiegelbild freut, während er Teresas Lied mitsingt, dessen nächste Verse er ebenso gefühlt hat:

"Wenn du dich verlierst, meine Geliebte,
Seele, mußt du dich suchen in Mir.
Denn ich weiß, du wirst dich finden
in meiner Brust abgebildet
und so lebendig getroffen, daß wenn
du dich siehst, du dich freuen wirst,
sehend dich so wohl gemalt."

Hier ist das ganze Gedicht:

De tal suerte pudo amor,
Alma, en Mí te retratar,
Que ningún sabio pintor
Supiera con tal primor
Tal imagen estampar.

Fuiste por amor criada
Hermosa, bella, y así
En mis entrañas pintada,
Si te perdieres, mi amada,
Alma, buscarte has en Mí.

Que Yo sé que te hallarás
En mi pecho retratada
Y tan al vivo sacada
Que si te ves te holgarás
Viéndote tan bien pintada.

Y si acaso no supieres
Dónde me hallarás a Mí,
No andes de aquí para allí
Sino, si hallarme quisieres
A Mí, buscarme has en tí.

Porque tú eres mi aposento,
Eres mi casa y morada
Y así llamo en cualquier tiempo,
Si hallo en tu pensamiento
Estar la puerta cerrada.

Fuera de tí no hay buscarme,
Porque para hallarme a Mí,
Bastará sólo llamarme
Que a ti iré sin tardarme
Y a Mí buscarme has en ti.

Solcherart konnte Liebe,
Seele, in Mir dich abbilden,
daß kein weiser Maler
wüßte mit solcher Kunst
solches Bild zu drucken.

Du wardst durch Liebe geschaffen
anmutig, schön und so
in meinem Innern gemalt.
Wenn du dich verlierst, meine Geliebte,
Seele, mußt du dich suchen in Mir

Denn ich weiß, du wirst dich finden
in meiner Brust abgebildet
und so lebendig getroffen, daß wenn
du dich siehst, du dich freuen wirst,
sehend dich so wohl gemalt.

Und wenn du vielleicht nicht weißt,
wo du Mich finden sollst,
geh nicht von hier nach da,
sondern wenn du Mich finden möchtest,
mußt du Mich suchen in dir.

Denn du bist meine Herberge,
bist mein Haus und (meine) Wohnung,
und so rufe ich zu jeglicher Zeit,
wenn ich finde: in deinem Denken
ist die Tür versperrt.

Außerhalb deiner mußt du Mich nicht suchen,
denn um mich zu finden,
wird es genügen, nur mich zu rufen,
Und zu dir gehe Ich ohne Zögern,
und Mich suchen mußt du in dir.

Als solches - nicht mehr realistisch vorstellbares - inneres Bild sind Gemälde und Spiegelbild mystisch zu dem Glaubensausdruck verlebendigt, den beide Bekenntnisse eigentlich meinen. Ich vertraue: Wem sich an diesem einen Zipfel der schalgewordene Widerspruch der Konfessionen in faszinierende Stereo-Spannung wandelt, ein so aufgeklärter Christ mag seine andersgläubige Nachbarin plötzlich neu sehen: als Gott sei Dank anders Gläubige. Ohne deren Wahrheit - das weiß er jetzt - könnte er auch seine eigene nicht in ihrer heilenden Tiefe leben.

Ist dieses im Heiligen Geist erreichbare Ziel nicht weit mehr als nur "versöhnte Verschiedenheit"?

Mai 2006


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