Jürgen Kuhlmann

Vorsicht farbige Brille!

Recht hat der Vater, gute Schulnoten zu fordern, denn die Zeit ist hart. Recht hat der Sohn mit seiner Überzeugung, daß es Wichtigeres gibt als Einser, weil Sein mehr ist als Gelten. Wie sollen sie miteinander umgehen? Das eine Recht widerspricht dem anderen.

Ein altes Gleichnis hilft. Wir müssen unterscheiden zwischen Farbe und Licht. Zwischen den Farben bleibt es beim Gegensatz. Grün und Rot sind Gegenfarben, vor der Ampel wie in der Physik. Durch die rote Brille gesehen erscheint Grün finster, und umgekehrt. Wer eine solche Brille aufhat, kann diesen Eindruck nicht vermeiden. So kommt es zum Trugschluß der Intoleranz: Ich bin rot und ich weiß gewiß, daß ich hell bin. Du bist grün, meine Gegenfarbe, also bist du finster.

Wo steckt der Fehler? Der Fanatiker verwechselt Farbe und Licht. Dasselbe Licht ist es, welches durch ein rotes Glas rot leuchtet und grün durch ein grünes. Den Gegenfarben entsprechen die Gegenwahrheiten. Statt meinen Gegner für finster zu halten, soll ich hoffen, daß er auf seine gegensätzliche Weise doch im selben Licht lebt wie ich. Daß ich ihn dunkel sehe, liegt ja vielleicht an meiner Brille! Können wir dank eines friedlichen Gespräches gar so weit kommen, daß wir die Brillen tauschen und dabei blitzhaft die überwältigende Buntheit des Wirklichen erblicken?

Mag sein, daß sich der Sohn dann auch um bessere Noten bemüht, nicht aus Unterwürfigkeit, sondern um für die fremde Arbeit, von der er lebt, ehrlich mit der eigenen zu zahlen. Und der Vater nimmt sich jetzt Zeit für die Familie, weil die Karriere ihm nicht mehr alles ist.

Juli 1984

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sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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