Jürgen Kuhlmann

Kleines CREDO für Zeitgenossen


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Et ascendit in caelum
und aufgefahren in den Himmel

Früher, als es noch keine Weltraumfahrten gab, hatten die Christen es leichter mit dem Fest Christi Himmelfahrt. Heute drängt sich sofort die Vorstellung eines Raketenstarts auf, und der Spott der anderen bleibt nicht aus; so stand gegen Ende der 50er Jahre in einer ostdeutschen Zeitung folgender Vers: "Vor mehr als neunzehnhundert Jahren fuhr, meldet Luther, himmelwärts Herr Christ. Jetzt, meldet Tass, ist Sputnik 3 gefahren, und hier ist klar, daß das kein Märchen ist."

Warum sagen die Christen aber so seltsame Sätze, die sie doch offenkundig nicht meinen können? Nun, wie haben wir deutsch gelernt? Wir haben gehört, wie die Erwachsenen z.B. "Kartoffel" sagten, und das, was sie meinten, zugleich gesehen und geschmeckt. Alle Wörter stammen von Dingen her, die man mit seinen fünf Sinnen wahrnimmt. Nun erlebt der Mensch aber mehr, als er sehen und hören kann. Manches ist ungeheuer wirklich, und doch nimmt keine Kamera und kein Mikrophon es auf. Jemand singt: Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren. Wäre er jedoch bei einer Herzverpflanzung in der dortigen Uni-Klinik zum Organspender geworden, dann fiele ihm das Singen schwer. Nein, die Blutpumpe ist noch da. Trotzdem irrt oder lügt der Sänger nicht. Und jetzt geht jemand her, legt ihm die Hand aufs Herz und sagt: Fühl doch selbst, du hast dein Herz noch. Was soll der Unsinn, du habest es verloren? Angenommen, jener trällere nicht bloß, sondern stecke wirklich in Liebeskummer, dann lächelt er den Spötter wehmütig an: Lieber, du hast recht, hier schlägt mein Herz, und dennoch hab ich es verloren, und du - du begreifst überhaupt nichts, weil die Worte für dich bloß eine Oberfläche haben und keine Tiefe.

Ähnlich ergeht es den Christen mit dem Fest der Himmelfahrt. Hinter diesem Wort steht eine gewaltige Erfahrung; die hat aber hoffentlich jeder von Ihnen auch schon gemacht. Wie geht es auf der Erde zu? Oft recht eng, schäbig, verworren. Man ist eingesperrt in seine kleinen Interessen, die stoßen sehr bald gegen andere Interessen, in das entstehende Durcheinander rasen weitere hinein; deshalb sieht es auf manchem Schreibtisch und auch in vielen Seelen schließlich aus wie auf der Autobahn nach einer Unfallserie.

Oder aber man wird des Chaos Herr, zwingt die widerstrebenden Interessen in eine Ordnung, und eines Tages wacht der Mensch auf und merkt: ich bin ein Rädchen geworden und schnurre neben anderen Rädchen mein Programm herunter, Stunde um Stunde, von einem Urlaub zum nächsten. Seien wir ehrlich: eben dies ist vielfach die Atmosphäre unseres Alltags, sei es im Griff des Apparats oder in chaotischem Durcheinander, gar nicht selten sogar in beidem!

Wenn dann zwischen zwei Telefonaten der gestreßte Blick sich vom Terminkalender erhebt und durchs Fenster weit hinauf in den Frühlingshimmel steigt, dann mag es geschehen, daß der Krampf sich löst und der Mensch erfährt: der Druck all dieser Realitäten ist schon nicht mehr das Wirklichste. "Es gibt ein Reich, wo alles rein ist." Sehen Sie: ohne daß er es wußte, ist ihm die Himmelfahrt aufgegangen. Denn wo wir heute von der Atmosphäre reden, die ein Betriebs- oder Meinungsklima bestimmt, da sprach man zur Zeit der ersten Christen von "Mächten, die in der Luft herrschen" (Eph 2,2); gemeint ist beide Male dasselbe.

Und diese giftige Atmosphäre, die wie eine tödliche Schicht auf uns lastet, die hat Jesus bei seiner Himmelfahrt siegreich gesprengt, durchstoßen, so daß "die Fürsten und Gewalten entwaffnet und öffentlich blamiert" worden sind (Kol 2,15). Dank solchem Sieg kann wieder frei die frische Himmelsluft in die Lungen unseres Gemütes strömen und die Schwaden von Chaos und Apparat verjagen, so belebend, daß die Kühnheit der Bibel buchstäblich stimmt: "Gott hat uns mit auferweckt und mit ins Himmlische versetzt" (Eph 2,6).

Das Gleichnis läßt sich noch verschärfen, zu Recht; denn es geht wirklich um Leben oder (lebenslangen) Tod. Wer mit diesem Glauben Ernst macht, dessen innere Situation gleicht dem ausgestiegenen U-Boot-Fahrer. Nicht länger beengt ihn der Apparat, nicht ersäuft ihn die gurgelnde Flut. Sondern heilsam birgt ihn die himmlische Luftblase, tief darf er durchatmen und vertrauen: Droben werde ich liebevoll erwartet.

Denn nicht nur erlöst der Himmel die Erde von ihrer Enge; umgekehrt löst allein die Erde das Rätsel des Himmels. Seit Hunderttausenden von Jahren blickt immer wieder ein Mensch in den Sternenhimmel hinauf und fragt bang: Was soll das Ganze? Wer bin ich? Was wird aus mir - dann? Die Sterne antworten nicht. Obwohl das Universum so maßlos riesig ist und wir selbst derart winzig, müssen wir uns aber von ihm dennoch nicht erschlagen fühlen. Warum? Weil im Himmel Jesus ist, einer von uns. Jesus hat das Unsrige in den Himmel mitgenommen. Dort regiert nicht ein gleichgültiges Schicksal, auch nicht jener KZ-Kommandant, dessen grausiges Bild mancher angstgeschüttelte Sinn an den Himmel projiziert. Nein: Christen bekennen die real existierende Ewigkeit mit menschlichem Antlitz.

Ein Mensch aus Fleisch und Blut ist der Herr des Alls. Und nicht irgendeiner. Gerade kein Cäsar oder Napoleon. Sondern Jesus, der in der Runde der Seinen wie der Diener war. Der den scheinbar letzten Menschen gelten läßt, überhaupt nicht herrschsüchtig ist, den glimmenden Docht nicht löscht, das geknickte Rohr nicht bricht und uns nicht mehr Knechte nennt, sondern Freunde: Ein solcher Mensch thront im Himmel und bestimmt von "dort" aus die Wahrheit des Ganzen, den Sinn der Welt. Schauen Sie eines Nachts in den Sternenhimmel und sehen Sie dabei, wie Jesus seinen wandermüden Freunden die Füße wäscht. Blicken Sie ins Frühlingsblau und sehen Sie seinen Blick, während er den Blindgeborenen heilt oder die ertappte Ehebrecherin aus der Gewalt der Schergen befreit. Erst wenn wir beides zusammendenken: den ungeheuren Himmel, der alles umfaßt, und den Menschenfreundlichsten aller Menschen, erst dann ahnen wir, was wir mit dem schlichten Satz "aufgefahren in den Himmel" eigentlich bekennen.

Es ist - das sei nicht verschwiegen - das Gegenteil dessen, was maßgebliche Kreise der Christenheit aus dem Christentum gemacht haben. Seit es im vierten Jahrhundert zur Staatsreligion des Römischen Reiches wurde, sahen viele nicht mehr den wirklichen Jesus im echten Himmel, sondern eher eine Art Oberkaiser mit weltpolitischem Anspruch auf dem Thron der Welt. "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben," das bezogen die christlichen Mächte keineswegs auf die Weise, wie Jesus Mensch war (so ist es gemeint), sondern auf die Projektion ihrer eigenen Herrschsucht an den Himmel. Wehe, die Indios in Amerika und die afrikanischen Schwarzen unterwarfen sich nicht dem himmlischen Oberherrn (wie die Christenheit ihn predigte): dann erwartete sie, zusätzlich zur irdischen Ausrottung oder Sklaverei, auch noch nach dem Tod die Hölle. Solche Mission hat nichts Christliches an sich, rührt vielmehr von einem teuflischen Mißverständnis der Himmelfahrt her. Wahre Mission ist nichts anderes als Dialog: Wir Christen sagen den anderen unseren Glauben weiter und hören ihnen, nach Jesu Vorbild, aufmerksam zu. Wohl ist die christliche Wahrheit heilsnotwendig: denn wer sich nicht bemüht, im Geiste Jesu zu leben, der widersteht dem Sinn seines Lebens und wird unglücklich. Es kann aber sein, daß ein Mensch in Jesu Geist lebt, ohne sich ausdrücklich jenem Himmelskaiser der Christen zu unterwerfen; umgekehrt leben manche, die sich für Superchristen halten, sehr wenig nach Jesu Geist. Es gibt, wußte schon Augustinus, Schafe draußen und Wölfe drinnen. Christus ist im Himmel, von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten, das sollen wir ihm überlassen und nicht an seiner Stelle tun.

Die Himmelfahrt ist noch nicht zu Ende. In uns soll sie weitergehen, Tag für Tag. Sind wir doch Glieder Christi, die auch dort sein wollen, wo unser Haupt schon ist. Der echte Himmel ist ja ewig, zeitlos, umfängt uns nicht erst dann, nach dem Tod, sondern immer auch jeweils jetzt. Wie fahren wir jetzt in ihn auf? Indem wir tiefer erfassen, daß unser innerstes Herz schon im Himmel ist (vgl. Eph 2,6). Wer diese Einsicht im Alltag festhalten könnte, dem wäre sein Schreibtisch, Gabelstapler oder sonstiger Arbeitsplatz innerlich verwandelt und aus seinen Augen würde hie und da ein himmlisches Morgenrot zu seinen Kollegen und Kunden hinüberleuchten, so daß sich auch ihnen die Hoffnung auf den endgültigen Sonnenaufgang belebt, der keinen Untergang kennt.

Die Aegidienkirche zu Hannover, im Krieg zerbombt, wurde nicht wieder mit einem Dach versehen, sondern als Mahnmal stehen gelassen. Ringsum an den alten Wänden leuchten hoch hinauf grüne, gelbe, rote Blätter. Über uns aber ist nichts - nur der Himmel mit seinen Wolken. Ist es nicht ein Grundgefühl vieler Menschen heute, daß ihnen ihr geistiges Haus wie zerstört worden ist? Früher hat es für sie klar umgrenzte Gewißheiten gegeben. Jetzt dagegen fühlt ihr Verlangen nach Sinn sich ungeschützt dem schneidenden Wind des Pluralismus ausgesetzt.

Zwei Methoden bieten sich da an: entweder man versucht, wieder ein geschlossenes Gebäude aufzurichten, versteckt sich in irgendeiner Ideologie, mag die rot, schwarz, grün, weiß-blau oder sonstwie gefärbt sein. Oder man reißt auch die noch stehengebliebenen Wände vollends ein, erklärt jegliche tiefe Gewißheit für Trug und läßt den Geist nur mehr in den Tag hinein leben, von der Hand in den Mund.

Müssen wir aber wirklich wählen zwischen Wiederaufbau nach den alten Plänen oder der radikalen Planierung des Geländes? Jene oben offene Kirche sei uns ein tröstliches Gleichnis dafür, daß es jenseits dieser Unmöglichkeiten das wahre Leben gibt: innerhalb klarer Sinnstrukturen - dem einen so, dem andern anders überkommen - ohne sie aber mit dem großen Ganzen zu verwechseln. Vielmehr zeigt der Blick in den unbegrenzten und allen gemeinsamen Himmel hinein, daß die Mauern um mich her zwar ein sinnvolles Ganzes sind, keineswegs aber das Ganze. Andere Menschen können anderswo, in anders geformten Räumen, sich daheim wissen und sind doch nicht ganz von mir getrennt; sobald auch sie die Augen erheben, zielen unsere Blicke in dieselbe Höhe, aus der Jesus uns zuruft: Selig die Friedenstifter!

Gehen wir also weiter unsere irdischen Wege, vergessen wir aber nie: Christus, das Herz der Erde, ist schon im Himmel. Und, wenn wir im Glauben zu Ihm gehören, auch wir.

sedet ad dexteram Patris
Er sitzt zur Rechten des Vaters

Was können wir einem Juden oder Moslem antworten, der uns Vielgötterei vorwirft, weil wir neben dem einzigen Gott auch Christus als Gott verehren? Da müssen wir zugeben: Es stimmt, daß diese Vorstellung bei uns Christen verbreitet, ja sogar ins Credo vorgedrungen ist: Christus sitzt zur Rechten Gottes des Vaters. Tatsächlich lassen die Vorstellungen der verschiedenen Religionen sich nicht versöhnen, so wenig, wie ein Kreis jemals ein Viereck sein kann. Und doch halte ich hier etwas in der Hand, was zugleich rund und viereckig ist! Sehen Sie diese alte Tasse? Von oben gesehen ist sie rund, von der Seite sieht sie quadratisch aus. Beide Ansichten stimmen, beide widersprechen einander, aber nur auf derselben gedachten Ebene, nicht bei der echten räumlichen Tasse. So ähnlich blicken die Religionen von verschiedenen Seiten aus auf dasselbe Geheimnis. Was sie dann über es sagen, widerspricht sich in Wort und Vorstellung, aber eben - so laßt uns hoffen - nicht in der Wirklichkeit.

Wenn ich mit Gläubigen der anderen Offenbarungsreligionen spreche und dann mit neu geschärftem Ohr auf meinen eigenen Glauben lausche, dann vernehme ich: Auch wir Christen glauben an den einzigen Gott, der niemanden neben sich hat. Wie könnte es etwas oder jemanden neben dem geben, der die Fülle des Seins in sich beschließt und aus ihr heraus alles schafft? Nein, auch Jesus ist nicht neben Gott, das Sitzen zur Rechten Gottes ist nur eine ungenaue Vorstellung für die ungeheure Doppelwahrheit: Jesus zeigt zum einen Gottes Gesicht zur Menschheit hin, zum andern ist er das Gesicht der Menschheit zu Gott hin. Beides kann unser Verstand nicht zusammendenken. Weil er es trotzdem versucht (das muß er, so ist er gebaut), ergibt sich die Vorstellung des Mittlers zwischen Gott und Menschheit oder eben Christus zur Rechten des Vaters. Dieses Bild soll sich aber nicht festsetzen, sondern will uns nur helfen, an beide Seiten des Jesus-Geheimnisses zu glauben.

Die eine heißt: Gott ist menschlich. Wenn unser Herz nach einer Antwort sucht auf die nie endende Frage, die es ist, dann schaut es in viele Richtungen. Ist Gott im Himmel? Gleicht er der Sonne? Ist er der Herr, ein unerbittlicher Chef? Viele Antworten gibt die Geschichte der Religionen, erhabene und scheußliche, denken wir an die Opferkulte im alten Amerika, wo Tausenden das Herz aus der Brust gerissen wird, weil angeblich ein Gott es so will. Oft sind Gottesantlitz und Teufelsmaske ineinander verklebt.

Dann kommt Jesus. Sein Leben, Sterben und Auferstehn vernichtet - dem der glaubt - die Satansfratze, stellt unvergeßlich das lautere Gottesbild vor uns hin. Unvergeßlich? Ja. Wie Jesus in den Evangelien erscheint, diese Befreiungsbotschaft kann der Menschheit nicht mehr verloren gehen. Auf die Dauer nicht. Auch in der schlimmsten Zeit der Christenheit, als offiziell nicht Jesus das Gottesbild bestimmte, sondern umgekehrt der Herrengott das Christusbild überdeckte - viele von uns haben die letzten Ausläufer dieser Epoche noch erlitten und ahnen, wie es heute in persischen Jugendlichen aussehen mag - auch da sprach das Evangelium zu den Herzen: So wie Jesus ist - solidarisch mit den letzten Menschen, spöttisch zu den Aufgeblasenen, schneidend gegen den Hochmut der Superfrommen, treuer Freund seiner Freunde - so ist Gott zu uns Menschen. Nicht neben Gott steht dieser Jesus, sondern in ihm ist Gott, ähnlich wie dein bester Freund in seinem Gesicht.

Gottes Menschlichkeit ist die eine Seite des Weihnachtsgeheimnisses. Die andere ist des Menschen Würde. Denn Christus ist einer von uns. Mehr: Wir dürfen Er sein! "Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geborn und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verlorn" (Angelus Silesius I,61).

Nicht auf den unmöglichen Platz zwischen Gott und Mensch sollen wir Christus stellen, sondern einmal mit Jesus ganz auf Gott den Einzigen blicken, dessen Liebe er uns offenbart hat, und zum andern in Jesus unser eigenes erlöstes Wesen sehen. Dann sind wir im Kern des Glaubens nicht von Juden und Muslimen getrennt, auch wenn ihre und unsere Glaubensgestalten nie übereinstimmen werden. Das macht aber nichts, denken Sie wieder an die viereckig-runde Tasse.

Et iterum venturus est cum gloria iudicare vivos et mortuos
und wird wiederkommen in Herrlichkeit
zu richten die Lebenden und die Toten

Sollen wir das Weltgericht fürchten? Nein und ja. "Der Tod eines Beamten" heißt eine Geschichte von Tschechow: Der Exekutor Tscherjakow hat in der Oper einen Hochrangigen beniest; je öfter er sich später entschuldigte, umso aufgebrachter wurde der, warf ihn zuletzt zornig aus dem Zimmer, woraufhin T. heimging, "sich auf den Diwan legte und ... starb". Solche Angst ist unvernünftig und gehört überwunden.

Eine Hauptaufgabe der Arbeitslosen ist es, die Arbeitnehmer zu disziplinieren - das hörte ich mit eigenen Ohren einen leitenden Herrn der Wirtschaft sagen. Die so geschürte Angst ist leider nur zu vernünftig; ihre Ursachen gehören durch bessere Politik überwunden.

Eine dritte Angst ist vernünftig und läßt sich auch in der idealen Gesellschaft durch keine Reform abschaffen. Von ihr lehrt die Bibel: "Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn." Hinter dem Schwachen, der auf meine ordentliche Pflichterfüllung angewiesen ist, steht der HERR und straft mich für jegliche Arroganz. Davor darf ich ruhig Angst haben, auch wenn der HERR durch irdische Vorgesetzte wirkt. Fährt der Busfahrer einer langsamen alten Frau pünktlich davon? Nicht wenn er das Donnerwetter seiner Leitstelle genügend fürchtet.

Kämpfen wir gegen die dumme Angst und gegen alles, was Kleine ängstigt. Die Angst des Starken vor dem Allerstärksten aber laßt uns im Interesse des Schwächeren aushalten; ohne sie täten wir unsere Pflicht nicht so treu, wie wir es im Grunde doch selber wollen:

"Es lebte einmal ein altes Weib, das war sehr, sehr böse und starb. Diese Alte hatte in ihrem Leben keine einzige gute Tat vollbracht.
Da kamen denn die Teufel, ergriffen sie und warfen sie in den Feuersee. Ihr Schutzengel aber stand da und dachte: Kann ich mich denn keiner einzigen guten Tat von ihr erinnern, um sie Gott mitzuteilen?
Da fiel ihm etwas ein, und er sagte zu Gott: "Sie hat einmal" , sagte er, "in ihrem Gemüsegärtchen ein Zwiebelchen herausgerissen, und es einer Bettlerin geschenkt." Und Gott antwortete ihm: "Dann nimm", sagte er, "dieses selbe Zwiebelchen, und halte es ihr hin in den See, so daß sie es zu ergreifen vermag, und wenn du sie daran aus dem See herausziehen kannst, so möge sie ins Paradies eingehen, wenn aber das Pflänzchen abreißt, so soll sie bleiben, wo sie ist." Der Engel lief zum Weibe und hielt ihr das Zwiebelchen hin: "Hier", sagte er zu ihr, "faß an, wir wollen sehen, ob ich dich herausziehen kann!" Und er begann vorsichtig zu ziehen - und hatte sie beinahe schon ganz herausgezogen, aber da bemerkten es die anderen Sünder im See, und wie sie das sahen, klammerten sie sich alle an sie, damit man auch sie mit ihr zusammen herauszöge. Aber das Weib war böse, sehr böse und schrie:
"Nur mich allein soll man herausziehen und nicht euch, es ist mein Zwiebelchen und nicht eures!" Wie sie aber das ausgesprochen hatte, riß das kleine Pflänzchen entzwei. Und das Weib fiel in den Feuersee zurück und brennt dort noch bis auf den heutigen Tag. Der Engel aber weinte und ging davon [Dostojewski, Die Brüder Karamasow, III 7 3].

Dem wahren Gericht stimmt unsere Vernunft zu, deshalb ist der Richter kein Fremder: "Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde" (Joh 15,15). In alten Trambahnen gibt es noch den Schaffnersitz, obwohl längst schon kein Schaffner mehr mitfährt. Zuweilen sitzt dort ein Ausländerbub und markiert den großen Herrn, lachend, weil ja jeder weiß, es ist ein Spiel. Die Kameraden verneigen sich, voller Freude, daß einer der Ihren dort oben ist und dadurch offenbart, daß die Gewalt wenigstens dieser Obrigkeit vorbei ist. - "Herr ist Jesus," dieses ehrwürdige Bekenntnis hat zuerst zu den Martyrien in der Arena geführt, später zu Tausenden von Scheiterhaufen und Millionen gequälter Gewissen. Sollte sein wahrer Sinn nicht eher im gelösten Kinderspiel aufscheinen als im blutigen Ernst der Großen?

Ist die unerlöste Heteronomie durch Theonomie überwunden, so darf auch deren wahrer Autonomie-Aspekt uns bewußt werden. Für solche, die in einer antiautoritären Phase stecken, einen fremden Richter nicht anerkennen wollen oder für nichtexistent halten, sei das Gottesbild demokratisiert. Unser Verantwortungsbewußtsein läßt sich ableugnen, aber nicht abschaffen. Selbst wer zeugen- und gefahrlos Unrecht tut, weiß sich im Grunde seines Herzens verantwortlich. Wem? Uns allen, der gesamten Menschheit. Ich stelle mir vor, wie der Blick des strengen Richters sich bei näherem Hinsehen als Facettenauge aus Milliarden verbundener Einzelblicke zeigt: Ihm wird alles Verborgene offenbar. Denn jeder noch so heimlich Mißhandelte wird selbst zu einer Zelle des Richterauges.

Ich weiß nicht, ob ich diese Einsicht Walter Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte verdanke, möglich ist es. In der dritten schreibt er: "Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l´ordre du jour - welcher Tag eben der jüngste ist."

Benjamin beschreibt den Jüngsten Tag als Sitzung mit einer Tagesordnung. Welcher Art die Sitzung sei, bleibt offen. Es kann eine Gerichtsverhandlung sein oder die Parlamentssitzung der erlösten Menschheit, worin es um die Aufarbeitung vergangener Vorgänge geht, oder auch eine Aktionärsversammlung, bei der Rechenschaft über Gewinn und Verlust abgelegt wird. Weil die Erlösung alle unsere Dimensionen betrifft, ist keines dieser Bilder ganz falsch, wesentlich für uns, die Menschheit, ist: Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird als ein Punkt der Tagesordnung aufgerufen. Das ist die traditionelle Vorstellung des Jüngsten Gerichtes ("liber scriptus proferetur", dieses Buch enthält die Tagesordnung), nur ohne deren autoritäre Schlagseite: Statt des Richters auf hohem Thron stimmt die erlöste Menschheit selber ab.

Wird das Jüngste Gericht so verstanden, dann gewinnt ein Ratschlag von Ignatius demokratische Leuchtkraft: "Zweite Weise, eine gesunde und gute Wahl zu treffen ... Vierte Regel: Schauen und Erwägen, wie ich mich am Tag des Gerichtes befinden werde; denken, wie ich dann in der gegenwärtigen Sache entschieden haben möchte, und die Regel, an die ich mich dann gehalten haben möchte, jetzt hernehmen, damit ich mich dann voller Lust und Freude finde" [Exerzitienbüchlein, 2. Woche, Nr. 187].

Cuius regni non erit finis
seiner Herrschaft wird kein Ende sein

Jesus und die ersten Christen waren gewiß: Die Welt steht kurz vor ihrem Ende, sehr bald bricht Gottes Reich mit Macht herein. Daran zweifelt heute kein Fachmann, zu klar sind die Beweise. "Von denen, die hier stehen," sagte Jesus einmal, "werden einige den Tod nicht kosten, bis sie den Menschensohn in seiner Königsherrschaft kommen sehen" (Mt 16,28). Und Paulus mahnt seine Korinther: "Brüder, die Frist ist kurz" (1 Kor 7,29). Er meint die Frist bis zum Tag der Wiederkunft des Herrn. Als die Jahre verstrichen und dieser Tag nicht kam, war die Enttäuschung groß. Wie haben die Christen sie bewältigt? Auf ganz verschiedene Weisen. Über sie wurde manch spannendes Buch geschrieben [großartig z.B.: "Das ewige Reich (1954) von Walter Nigg], einige deute ich kurz an.

Was heißt "bald"? "Bei Gott sind tausend Jahre wie ein Tag" (2 Petr 3,8). Mit Recht nennt W.Nigg diese Relativierung der Zeit "ein schlecht verklebtes Heftpflaster über die schwärende Wunde der Parusieverzögerung" (66); doch hat sie vermutlich viele getröstet. - Was heißt "Ankunft des Reiches"? Origenes erklärt die kosmisch-äußerliche Auffassung zum kindischen Mißverständnis. An Raum und Zeit dürfe man dabei nicht denken. Wenn der Christ "um das Kommen des Reiches Gottes betet, so betet er offenbar vernünftigerweise darum, daß das in ihm befindliche Reich Gottes emporwachsen und Frucht bringen möge." Dann wird er die Bibeltexte über das Weltende nicht mehr seltsam finden. Denn es steht uns allen bevor, in höchstens ein paar Dutzend Jahren. Jeder lebt ja in seiner einmaligen Welt, die sich aus all seinen Erlebnissen zusammensetzt. Meine ganze Welt geht unter, wenn ich sterbe. Unwiederbringlich? Das meinen die Ungläubigen. Der Christ hofft, daß unter dem Neuen Himmel auch die Neue Erde eines jeden von uns auferstehen wird.

Wenn der Anbruch des Gottesreiches nicht kosmisch zu verstehen ist, bleibt dann nur die innerseelische Deutung? Keineswegs, lehrt Augustinus. Laut ihm "ist jetzt die Kirche das Reich Christi und das Himmelreich" (Civ.Dei XX,9). Das tausendjährige Reich der Geheimen Offenbarung (20,4-7) brauchen wir nicht zu ersehnen. Wir leben schon in ihm! Laßt uns dieser Würde durch unser Leben entsprechen.

So war die urchristliche Idee des Reiches doppelt umgeprägt worden: Statt mit äußerer Gewalt die Weltgeschichte zu beenden, ergreift die Gottesherrschaft die einzelne Seele, zunächst verborgen und vorläufig in der Kirche, beim Tode offenbar und endgültig in der Ewigkeit. Diese Auffassung hat die Jahrhunderte der Volkskirche beherrscht; die meisten von uns haben sie in der Jugend gelernt und empfinden sie bis heute ganz selbstverständlich als die christliche Wahrheit.

Wohl gab es bei geistig erregten Gruppen in der Kirche sowie für den weltlichen Zeitgeist immer wieder auch andere Weisen der Reichserwartung. Für Abt Joachim von Fiore im 12. Jahrhundert etwa war das Alte Testament das Reich des Vaters, die Zeit der Kirche das Reich des Sohnes, bald aber werde - prophezeite Joachim - das Reich des Heiligen Geistes anbrechen. Noch in dem "Neuen Pfingsten", das Papst Johannes XXIII. vom Konzil erwartete, wirkt diese zündende Idee nach. Aufs Sichtbare geschaut, scheinen beide Propheten sich geirrt zu haben. Thomas Müntzer († 1525) hat die Reich-Gottes-Idee tief in die Farbe der sozialen Frage getaucht, auch seine Tat trug immer neue Früchte, in unseren Tagen die lateinamerikanische Befreiungstheologie. Am Baum des Reichsgedankens gewachsen, wenn auch weit vom Stamm gefallen sind schließlich sogar die Äpfel der neuzeitlichen Fortschrittsgewißheit und die sozialistische Utopie.

Wie stehen all diese Gestalten des Reiches heute da, kurz vor dem Ende des zweiten Jahrtausends? Nicht gut. Sozialismus und Fortschritt haben versagt, von Befreiung und geistlichem Reich ist, aufs Ganze gesehen, wenig zu spüren. Und der kirchlichen Seele ist ihr angebliches Privileg bitter geworden. Wie frühere Missionare bis zur Erschöpfung Heiden taufen konnten, um sie fürs Himmelreich zu retten (während ihre Vorfahren leider zur Hölle verdammt blieben!), das können wir nicht mehr nachvollziehen; einen so parteiischen Gott müssen wir als satanisches Mißverständnis bekämpfen. "Das Reich Gottes ist nahe. Denkt um!" (Mk 1,15) - wie könnte Christus uns heute seine Worte von damals erklären? Gibt es ein Verständnis des Gottesreiches, worin die Wahrheit der verschiedenen Sichten bewahrt und ihr Mißverständnis überwunden ist? Das folgende Gleichnis, scheint mir, könnte sich zu einer angemessenen Reichs-Idee weiterdenken lassen.

Mit dem Himmelreich ist es wie bei einer Chorprobe. Während die Stimmen ineinanderklingen, denke ich plötzlich um. Im Geist sehe ich nicht mehr die karge Wand des Probenraums, sondern fühle mich schon ins Konzert versetzt. Festlich strahlt die Kirche, begeistert lauscht das Publikum. Für diesen Abend haben wir Monate lang geprobt, jetzt ist es soweit. Jetzt? Unsinn, jetzt läuft doch erst die Probe ab, das Konzert ist viel später, irgendwann, dann. Aber nein, ich meine nicht das Kalender-Jetzt. Beim Singen tauchen wir alle gemeinsam in die Eigenzeit unseres Musikstückes ein, leben vollbewußt in seinen Melodien, Rhythmen, Akkorden. Uhr und Kalender sind abgetan, "weggeklickt". In dieser Musikzeit aber wird das Konzert jetzt sein. Derselbe augenblickliche Zusammenklang wird sich auch dann vollziehen - hoffentlich so, wie der Dirigent es will. In der Musikzeit gemessen ist das Dann so unmittelbar nahe, so da, daß zwischen dieser Probe und dem Konzert auch nicht der Hauch eines Taktteils vergeht, nicht die winzigste 64tel Note. Jetzt geht es um alles. Und weil mir das so klar ist, denke ich wieder um, versinke nicht in der holden Illusion des Konzerts, sondern nehme die Probe ernst, trotz der kargen Wände um mich her. Oder - neuer Schreck! - ist die scheinbare Probe gar schon die Aufführung? Sind irgendwo für die CD-Aufnahme Mikrophone verborgen, die wir nicht sehen, damit wir unbefangener singen? Wäre dies nicht nur in der musikalischen Zeit, sondern auch in meiner Lebenszeit bereits der Ernstfall? Dann erst recht: Frag nicht, mein Herz, singe!

"Denkt um! Nahe ist das Himmelreich" (Mt 4,17) -"Was steht ihr da und schaut in den Himmel" (Apg 1,11)? Das Chor-Gleichnis verbindet anschaulich beide Spannungspole der Reich-Gottes-Wahrheit, gibt der Frage "glaube ich an Gottes Reich?" ihren existentiell nachprüfbaren Sinn. Ohne Konzert wäre die Proberei ja wirklich so sinnlos, woe soe vielen Zeitgenossen erscheint; beim Proben mehr ans Konzert als an die Noten zu denken wäre Unsinn. Unser irdisches Leben ist die Probe, das Ewige Leben im Reiche Gottes ist das Konzert. Beider Zeit und Inhalt sind total identisch, wenngleich beider Seinsform total anders ist. Jeder geprobte Ton ist ganz und gar auf sich selbst als aufgeführt hin gespannt, bebt in der Erwartung, "daß sich das irdische Leben schwinge in den Himmel" (Thomas Müntzer). Kraft solcher Spannung ist des Christen Tun und Leiden Stunde um Stunde aus der Sinnlosigkeit erlöst, mögen die Probenumstände noch so schäbig oder widerlich sein. Lustmangel ist kein Grund zum Schwänzen. Beim totalen Konzert des Alls dabei zu sein lohnt jede Mühe.

Mir scheint, diese Deutung vermeide die Klippen der anderen: Nicht nur der Kirchenchor probt, auch alle übrigen Singgemeinschaften der Menschheit. Daß viele ihren Part für einzig gültig halten, schadet nichts; bei der Generalprobe werden sie merken, wie alles zusammenklingt. - Nicht nur, was der einzelne Sänger fühlt, ist wichtig; mein Nächster hört recht gut, wie ich danebensinge. Ums Gelingen eines großen Ganzen geht es, zu dem jeder seinen unentbehrlichen Teil beiträgt. Je mehr Menschen ihr Leben als Probe-Zeit ernstnehmen, um so besser steht es um die Gesellschaft als ganze. - Nicht an einem bestimmten Tag (bald oder bei meinem oder des letzten Menschen Tod) endet die Geschichte, sondern in jedem Augenblick sind die weltlichen Umstände schon unerheblich geworden, aber auf das Treffen der göttlichen Noten kommt alles an.

Kein Hirngespinst überspannter Frommer ist das Reich Gottes, vielmehr die kraftvoll vibrierende Grundspannung eines jeden Hier zum Dort=Hier des Himmels, eines jeden Jetzt zum Dann=Jetzt der Ewigkeit. Da unendlich, läßt diese Spannung sich nicht überspannen, nur mehr oder minder intensiv leben. Oder aber bis zur Sinnlosigkeit des bloßen Hier und Jetzt schwächen oder zu unsinniger Jenseitsillusion verkehren.

Ob es disharmonisch oder wohllautend, piano oder fortissimo zugeht: vertrauen wir uns von Note zu Note den Klängen des menschgöttlichen Konzertes an. Selbst was zunächst unsingbar schien, hat bei der Aufführung oft schon begeistert. Gegen Unglauben wie gegen Aberglauben bekennt der Christ: Dein ist das Reich. Ja, Gott Du unsere Freude: Dein Reich komme!


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