Jürgen Kuhlmann
Der Mensch braucht
doch einen OrtWas vor nun schon über zwanzig Jahren in einem kurzen Gebet Johannes XXIII., ein Papst von epochalen Intuitionen, vom Konzil erhoffte, daß es ein "neues Pfingsten" bewirke, erscheint mir heute lebenswichtig für unsere tief zerrissene Kultur. Jeder kennt den biblischen Pfingstbericht und sein Gegenstück, die Turmbaugeschichte von Genesis 11: Hier zuerst ein Turm und eine Sprache, dann kein Turm und viele Sprachen neben-, ja gegeneinander. Dort, beim Pfingstgeschehen, viele Zungen und Sprachen, aber miteinander, weil von einem Feuer, einer Liebe beseelt.
Das Neben- und Gegeneinander erleben wir heute als unbewältigten Pluralismus. In neuer Schärfe ist mir das beim Lesen eines packenden Buches aufgegangen: "Großes Solo für Anton" von Herbert Rosendorfer (Zürich: Diogenes-Verlag 1976). An einem 26. Juni wacht der Finanzamtssachbearbeiter Anton L. auf und stellt fest: er ist der einzige Mensch. Kleider, Geräte, Häuser der anderen sind noch da, auch die Tiere leben weiter - nur die Menschen sind weg, spurlos verschwunden. Mit einem Schlag gehören Anton sämtliche Läden und Hotels, er ist Weltmeister aller Sportarten, ja sogar Papst. Was der Autor alles an vergnüglichen Ereignissen und hintersinniger Reflexion ausbreitet, soll hier nicht verraten werden.
Unser Thema sei vielmehr die seltsame Faszination, die von dieser Super-Robinson-Geschichte ausgeht. Warum wirkt die Vorstellung, daß ich plötzlich der einzige Mensch bin, zunächst gar nicht schrecklich, sondern hinreißend verführerisch? Die Antwort, der Autor habe das Bild eben mit freundlichen Farben gemalt, reicht nicht aus. Warum bin ich, statt seinen Einfall gräßlich zu finden, scheinbar von ihm angetan?
("Es gibt eine Gegend in meinem Herzen, wo das Wort Onkel noch nie gehört worden ist", mußte bei einer Aufführung von "Kabale und Liebe" der unglückliche Schauspieler deklamieren, weil die Zensur die Rebellion gegen den Vater nicht duldete.) Anscheinend gibt es eine Gegend in meinem Herzen, wo das Wort Mitmensch noch nie gehört worden ist, wo ich buchstäblich der einzige Mensch bin. "Regression auf die Stufe frühkindlicher Allmachtsphantasien", kommentiert der Psychologe und hat recht. Doch ist dies nicht die ganze Wahrheit.
Ginge es allein um ein individuelles Problem, müßte dieses Individuum umdenken oder sich behandeln lassen; wäre es eine Schwierigkeit jedes Menschen, müßte die Menschheit sich damit abfinden. Zwischen ihr und dem einzelnen vermittelt jedoch immer eine irgendwie zivilisierte Gesellschaft, und ich fürchte: jene allgemein menschliche Versuchung, daß einer sich für den einzigen Menschen hält, wird in unserer Zivilisation bedrohlich verschärft. Denn in ihr nimmt die Vielheit bisweilen derart aggressive Züge an, daß sie gleich einer ätzenden Säure alle Geborgenheit und Lebensfreude zerfrißt. Kaum hat man sich in einer "wissenschaftlichen" Wahrheit eingerichtet und meint, die Welt wenigstens in diesem Punkt zu verstehen, da ertönt aus irgendeiner Ecke der Widerspruch: o nein, eher das Gegenteil sei wahr! Jeder einzelne dieser Fälle mag läppisch sein, zusammen vollführen sie jedoch einen geistigen "Lärm", der krank macht. Drei Beispiele aus vielen:
Profitgierige Mäster ruinieren durch Hormone das Kalbfleisch - dann teilt ein Zürcher Professor mit, Milch von einer trächtigen Kuh enthalte weit mehr solcher Hormone, und überhaupt: "Auch der Mensch bildet mehr Östrogene, als er je mit dem Fleisch hormonbehandelter Tiere aufnehmen kann." (FAZ vom 14. 1. 81).
Nach neuester Kenntnis leben idealgewichtige Männer "keineswegs am längsten, sondern beträchtlich übergewichtige. Die höchste Sterblichkeit lag bei den Untergewichtigen" (Die Zeit vom 15. 1. 81).
Auch die entscheidende Bedeutung der frühen Kindheit wird in Amerika derzeit bezweifelt; "Kinder seien hart im Nehmen, und dem dreißigjährigen Erwachsenen seien Erlebnisspuren der ersten Jahre ohnehin nicht mehr anzumerken" (FAZ vom 15. 1. 81).
Drei Meldungen einer einzigen Woche - Symptom entnervender Innenweltverschmutzung. Mit Ohnmachtsgefühlen steigt Zorn in mir hoch - auf mich, weil ich die jeweils neuesten Einzelerkenntnisse immer wieder so wichtig nehme; vor allem auf diesen ganzen Wissenschafts- und Werbungsbetrieb, der jedes Tagesfündlein immer gleich als alleinkundigmachendes Dogma herausstaffiert.
Zwischen all dem unaufgeräumten Geisteszeug komme ich mir wie in einer schmuddeligen Küche vor, mit Bergen voll dreckigen Geschirrs und einer fingerdicken Fettschicht überall - wo ist der Herkules, der hier ausmistet? Zum Teufel mit allen Mästern und Professoren, Diätaposteln und Konditoren, Rabeneltern und Psychologen! Stünde ich doch wie Anton L. in seiner menschenleeren Welt endlich vor dem Fluß, der wieder "klar geworden war wie ein Bergbach"! Mit einem Schlag wäre auch mein Geist sauber, hinter keinen neuesten Erkenntnissen müßte ich mehr herhecheln, ganz von selber wäre ich stets auf der Höhe der Zeit, in meinem jeweiligen Wissen bestünde die einzige Wahrheit. Wäre das schön!
Wäre das schön? Es wäre entsetzlich. Und daß ich es auf den ersten Blick schön finde, ist entsetzlich. Dieser (in letzter Konsequenz mörderische) Wahn ergibt sich jedoch - das ist meine These - mit logischer Unerbittlichkeit aus der Richtung, die das neuzeitliche Denken an einer bestimmten Stelle eingeschlagen und nie mehr verlassen hat. Etwas ist schrecklich schief gelaufen mit dem modernen Grundgefühl, und Rettung gibt es nur, wenn wir den Beginn jener Abweichung möglichst klar erfassen und uns dann beherzt einer anderen Tiefenströmung anvertrauen als damals. Die Behauptung wiegt schwer und klingt reaktionär; ich bin jedoch überzeugt, daß sie sich beweisen läßt - dem, der sich mit den folgenden Zitaten abmüht.
Descartes, der ortlose Denker
Wir müssen zurück ins Jahr 1637. 41 Jahre war René Descartes alt, als er seinen "Discours de la Méthode" herausgab. Darin berichtet er vom Ende seiner Schulzeit: "Ich fand mich verstrickt in soviel Zweifel und Irrtümer, daß es mir schien, als hätte ich aus dem Bemühen, mich zu unterrichten, keinen anderen Nutzen gezogen, als mehr und mehr meine Unwissenheit zu entdecken. Gleichwohl befand ich mich auf einer der berühmtesten Schulen Europas ... So nahm ich mir denn die Freiheit, von meinem Fall auf alle anderen zu schließen und anzunehmen, daß es eine Lehre von der Art, wie man sie mich früher hatte hoffen lassen, auf der Welt nicht gebe" (I,6).
Der junge René hatte die Orientierung verloren. Wie und wo sollte er zu neuer Gewißheit finden? Weder bei den Sinnesorganen noch im logischen Verstand, beide täuschen sich zuweilen. "Endlich erwog ich, daß uns genau die gleichen Vorstellungen, die wir im Wachen haben, auch im Schlafe kommen können, ohne daß in diesem Falle eine davon wahr wäre, und entschloß mich daher zu der Fiktion, daß nichts, was mir jeweils in den Kopf gekommen, wahrer wäre als die Trugbilder meiner Träume. Alsbald aber fiel mir auf, daß, während ich auf diese Weise zu denken versuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der es dachte, etwas sei. Und indem ich erkannte, daß diese Wahrheit: ich denke, also bin ich, so fest und sicher ist, daß die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, daß ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könne" (4,1).
So weit so gut; als Fundament, der totalen Skepsis abgerungen, ist der Felsengrund dieser Einsicht von unschätzbarem Wert. Wie fährt unser Denker aber fort? "Sodann, aufmerksam untersuchend, was ich denn bin, und sehend, daß ich so tun kann, als hätte ich keinen Körper und es gäbe keine Welt noch einen Ort, an dem ich mich befinde, daß ich aber deshalb nicht so tun kann, als ob ich gar nicht wäre; und daß im Gegenteil gerade aus meinem Bewußtsein, an der Wahrheit der anderen Dinge zu zweifeln, es ganz augenscheinlich und gewiß folgt, daß ich bin; wenn ich dagegen nur aufgehört hätte zu denken - wäre auch alles übrige, das ich mir jemals vorgestellt habe, wahr gewesen -, ich doch keinen Grund mehr zu der Überzeugung hätte, ich sei gewesen -: so erkannte ich daraus, daß ich eine Substanz bin, deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken, und die zum Sein keinen Ort braucht noch von irgendeinem materiellen Ding abhängt" (4,2).
Nur ein Satz, aber der hat es in sich. Deutlich - wie selten in der Geistesgeschichte - können wir beobachten, daß an einer ganz bestimmten Stelle ("daraus"; de là) die Weiche für das neuzeitliche europäische Bewußtsein in eine bestimmte fatale Richtung gestellt wird, an deren Ende wir uns heute vorfinden.
Natürlich kann ich so tun (feindre), als wäre ich reines Bewußtsein ohne Körper oder bestimmten Ort. Das bedeutet: während und sofern ich die beschriebene existentielle Grunderfahrung vollziehe, abstrahiere ich von allen individuellen Umständen. "Abstrahieren ist nicht Lügen", hat gewiß auch der junge Descartes in der Schule gelernt; dies ist eines der wichtigen Prinzipien, welche die Scholastik von Aristoteles übernommen hat. Tatsächlich ist das entdeckte Fundament für alle gleich. "Ich denke, also bin ich", dieses allererste Staunen darüber, daß es mich überhaupt gibt, hängt in seinem inneren Sinne überhaupt nicht davon ab, wo und unter welchen Umständen ich es erlebe.
Kein Zweifel also: Ich darf so tun, als hätte ich keinen Körper. Wie zweideutig gleichwohl auch dieser Satz schon ist, zeigt die deutsche Übersetzung (in Band 261 von Meiners philosophischer Bibliothek): "daß ich mir einbilden könnte, ich hätte keinen Körper". Sich etwas einbilden ist wesentlich mehr als abstrahieren.
Wie sollen wir aber erst die gewagte Folgerung beurteilen? "So erkannte ich daraus, daß ich eine Substanz bin ..., die zum Sein keinen Ort braucht." Daraus, daß ein Umstand nicht zum Sinn meines inneren Vollzuges gehört, folgt keineswegs, daß er auch zu meinem Sein nicht nötig ist! Denn beim Denken weiß ich nichts von meinem Gehirn, von der Entwicklungsgeschichte meiner Sprache, den vielfachen Bedingungen meiner Sozialisation, den sie fortführenden Mitmenschen. Zum inneren Sinn meines Staunens gehört all das nicht, darin hat Descartes recht. Wohl aber brauche ich zum Sein einen bestimmten "Ort", heute sagen wir "Situation" (von lat. situs = Ort).
Der Satz "ich brauche zum Sein keinen Ort" ist also falsch. Freilich hat Descartes so auch nicht geschrieben. Vielmehr heißt es: "Ich erkannte daraus, daß ich eine Substanz bin, deren ganzes Wesen oder Natur nur im Denken besteht und die zum Sein keinen Ort braucht." Daß er, der leidenschaftliche Denker, sein Wesen ins Denken verlegte, nur die reine Subjektivität als substantiell ansah, während alles übrige ihm unwesentlich, akzidentell vorkam: das eben ist die besondere Prägung, die dieser Philosoph sich selbst und seiner Epoche gab. Zu tadeln haben wir ihn deshalb nicht, wohl aber müssen wir uns heute fragen, ob wir ihm auf diesem Weg weiterhin folgen wollen.
Zuschauer und Planer - aber nicht dabei
"Ich bin eine Substanz, die zum Sein keinen Ort braucht." Verdeutlicht heißt das: als denkendes, erkennendes Subjekt bin ich situationsunabhängig, Vielfalt und Verschiedenheit gibt es nur in meinem Gegenstand, nicht aber in mir, dem Selbstand. - "Neun Jahre lang tat ich nichts anderes als hier und dort in der Welt herumzureisen mit der Absicht. in all den Komödien. die sich dort abspielen, lieber Zuschauer als Mitspieler zu sein" (3,6).
Auf grausam vollkommenere Weise, als Descartes sich das hätte denken können, ist uns, seinen späten Erben, dies sein Trachten in Erfüllung gegangen. Wenn in Wohnzimmern und Hotelhallen allabendlich dieselben Komödien und Tragödien das Bewußtsein von Millionen prägen, dann ist jedes dieser isolierten Individuen buchstäblich "eine Substanz, die zum Sein keinen Ort braucht", weil es wirklich nur darauf ankommt, wo das Programm sich abspielt, nicht wo der Flimmerkasten steht. Und nachdem der neuzeitliche Mensch lange genug Zeit hatte, im Bewußtsein seiner Situationsunabhängigkeit die Umwelt rational planend umzugestalten, ist er auch als Flugpassagier fast schon ortlos; egal wo der Jet landet, sehen, hören, fühlen die Flughäfen sich ähnlich an.
Descartes hat damals, in einer noch überaus bunten Welt, sich die Rolle des nur zuschauenden Subjekts vollbewußt erwählt. Von aller Buntheit in sich selbst hat er absichtlich abgesehen, sie als unwesentlich erachtet. Dabei war er sich darüber klar, "daß hieraus inzwischen keine Gefahr oder kein Irrtum entstehen und daß ich meinem Mißtrauen gar nicht zu weit nachgeben kann, da es mir ja für jetzt nicht aufs Handeln, sondern nur aufs Erkennen ankommt" (Med. I,11). Natürlich kann ein theoretisches Selbstverständnis aber nicht lange unpraktisch, folgenlos bleiben. Wer meint. daß er innerlich situationsunabhängig sei, hat keinen Grund, auf die gewachsenen Strukturen seiner Situation groß Rücksicht zu nehmen; er wird sich nicht mehr an irgend etwas Bestehendem ausrichten, sondern seinen einheitlichen Neuentwurf durchsetzen wollen. sein Wissen wird Herrschaftswissen: "Jene alten Städte. die - anfänglich nur Flecken - erst im Laufe der Zeit zu Großstädten geworden sind, sie sind, verglichen mit jenen regelmäßigen Plätzen, die ein Ingenieur nach freiem Entwurf auf einer Ebene absteckt, für gewöhnlich schlecht proportioniert" (2,1).
Drang nach "reinem" Wissen verdreckt den Geist
Da sind wir nicht mehr so sicher. Zwischen Anfang und Ende der Epoche des Subjekts scheidet eine philosophische Tiefenerfahrung. Wir haben erlebt: der Mensch braucht zum Sein doch einen Ort. auch Familie, Region und Muttersprache sind für uns bedeutsam, nicht bloß Menschheit, Kosmos und Mathematik. Das heißt aber: wir müssen - ohne das Wahre und Gute der Neuzeit zu verlieren - zur Rettung des Planeten vor jene Weiche damals zurück und sie umstellen. Ebenso ausdrücklich, wie Descartes von der Situation abstrahierte. müssen wir betonen: der Mensch ist auch in seiner Wahrheit zuinnerst von Mitwelt und Epoche bestimmt. Daraus folgt: Der Versuch, die eigene Situation durch Reflexion voll "in den Griff zu kriegen", in ein allverbindliches Wissen hinein aufzulösen und so von ihren Grenzen selbst freizukommen, dieser närrische Versuch ist vom Ansatz her falsch. Ein solches "reines" Wissen wäre kein menschliches mehr, stand weder Buddha noch Jesus noch Hegel zu Gebote; jedes - mehr oder minder bewußte - Streben danach ist deshalb nichts als schmutzige Gier.
Womit wir wieder in der schmuddeligen Küche von vorhin sind. Helfen kann da nur der Ruf: Nimm endlich deine verdreckte Brille ab! Wenn deine Innenwelt verschmutzt ist, dann ist das nämlich nichts Objektives, sondern indem du dich selbst als situationsloses Subjekt mißverstehst und die Wirklichkeit zu dessen Gegenstand abwertest, der eigentlich klar und eindeutig zu sein hätte, bringt dein eigener Wahn den zermürbenden Pluralismus überhaupt erst hervor. Wirf jene cartesische Brille weg, nimm dich als "Geist in Welt" (K. Rahner) an, als ein selbstbewußtes Organ an einer bestimmten Stelle der Wirklichkeit, zu dem sein Ort, seine einmalige Perspektive innerlich gehört, so daß sein Wissen von Grund auf und naturnotwendig subjektiv bestimmt ist, dann fühlst du dich auf einmal wohl in deiner Küche.
Nimm in die Linke einen Apfel, in die Rechte ein Messer und erkenne: Auf unendlich viele Weisen kannst du durch ihn eine Schnittfläche legen; jede sieht anders aus, an keiner kann man den Apfel ganz erfassen. Ähnlich kann jede wissenschaftliche Erkenntnis nur eine bestimmte Abstraktionsebene durch das konkrete Ganze schneiden, muß notwendig alle Faktoren vernachlässigen, die nicht in dieser Ebene verlaufen und gleichwohl das Ganze betreffen. Nimm es gewissen Fachidioten nicht übel, daß sie ihren natürlichen Ort vergessen und ihre Spezialität zum künstlichen Ort machen - fall aber nicht auf den cartesischen Trick herein, daß jeder seine besondere Schnittfläche unversehens für die "eigentliche" Wirklichkeit und seine Theorie für die Wahrheit ausgibt. Wirklich ist der ganze Apfel, wahr wären auch noch unendlich viele andere Schnittflächen, die du nie kennen wirst. Nimm am Tanz der Kontroversen teil oder nicht, trachte nach möglichst allgemeiner und gewisser Wahrheit, sei aber frei von dem Lügenideal unperspektivischer Objektivität. Die hat es nie gegeben und wird es nie geben. Eben jener Drang nach "reinem" Wissen verdreckt den Geist.
Eine Stadt aus vielen Häusern
Gehen wir das Thema noch von einer anderen Seite her an. Bis ins Mittelalter galt das Ideal einheitlicher Orientierung für die ganze Christenheit. Auch damals gab es viel Verwirrung, auch ein Turm mitten in der Ebene ist ja zuweilen von Nebel verhüllt. Doch war man überzeugt: es gibt diesen Turm. Später lag der dann in Trümmern, die Ebene war leer. Etwas mußte geschehen.
Wir haben mitverfolgt, was tatsächlich geschehen ist: Da Orientierung unmöglich schien, wurde sie durch einen Gewaltstreich für unnötig erklärt. Der Mensch, so hieß es, sei wesentlich ortlos, wichtig sei allein, daß er - sich gegenüber - die objektive Welt immer besser erkenne, er selbst aber solle sich in seiner reinen Subjektivität daheim fühlen. Da der Mensch in Wirklichkeit aber nicht ortlos ist, lief dieses Programm darauf hinaus, daß statt des früheren einen Turmes nunmehr unzählige solche Türmlein errichtet wurden, bis die Sprachen heillos verwirrt waren.
So steht es noch heute. Miteinander zu reden scheint sinnlos; denn wenn meine Wahrheit stimmt, brauche ich dich nicht; wenn sie aber - wie ich dumpf zitternd ahne - vielleicht doch nicht stimmt, warum sollte es dir besser gehen? Setzen wir uns lieber nebeneinander und glotzen wir, dann sind wir wenigstens eins mit den meisten und wissen, was die wenigen, die etwas zu sagen haben, uns heute vorzusetzen geruhen. - Eine solche "Kultur" hat keinen Grund, andere unterentwickelt zu heißen, und unbekehrt wohl auch keinen Bestand.
Gibt es nur dieses mörderische Entweder / Oder? Entweder den Imperialismus des einen Turmes oder die Anarchie der unzähligen Möchte-gern-Türmchen? Descartes damals war in dieser Zwickmühle befangen. Verständlich: "Wie man mich früher hatte hoffen lassen" (I,6) - eine solche Lehre gab es nirgends auf der Welt, an einem fremden Turm irgendwo konnte er sich nicht orientieren. Eine derart enttäuschte Hoffnung ändert jedoch wohl ihr Ziel, nicht aber sogleich ihre Struktur; den einen Orientierungsturm suchte der junge Mann weiter und fand ihn auch am Ende: in der eigenen Subjektivität. Insofern war der Schritt vom geistigen Imperialismus zur tausendfach imperialistischen Anarchie wahrscheinlich zunächst unvermeidlich.
Heute bedrängt uns die Einsicht: Es war ein Schritt in die falsche Richtung. Was hätten wir also tun sollen damals, als der eine Turm zertrümmert und die Ebene leer war? Besser gefragt: Was sollen wir heute tun, da nicht nur der eine Turm verschwunden ist, sondern auch die vielen arroganten Türmchen in Trümmern liegen?
Bauen wir uns eine Stadt, in der jeder sich an jedem Haus orientiert, dem eigenen wie den fremden, und lassen wir Fenster und Türen unversperrt. Besser: Erkennen wir an, daß wir in dieser Stadt längst leben! Damit ist gemeint: Weil ich weiß, daß ich jede Wahrheit stets aus meinem Blickwinkel sehe, deshalb rechne ich von vorneherein damit, daß andere die Welt aus ihrer Sicht erblicken, nenne darum ihre - mir noch so fremden - Aussagen nicht gleich "falsch", sondern "anders", und spreche mit dir, in der Hoffnung, es möge neben deiner und meiner - auch unsere Welt geben.
Systematisch-präzis: Nicht (wie in unserer cartesischen Zivilisation) durch aggressive Reduktion auf eine zwanghaft intendierte Uniformität wird der Pluralismus bewältig (die ist prinzipiell unmöglich und frustriert den auf sie Fixierten zentral), sondern allein im stets offenen Dialog von Subjekten, die ihre Situationsverhaftetheit akzeptieren und deshalb versuchen, ihre jeweiligen Situationen durch wechselseitige Anerkennung (nicht zu übersteigen, sondern) zu erweitern.
Die perspektivistische Perspektive
Wenn wir die Idee einer - alle Situationen übergreifenden - einzigen Wahrheit für unmenschlich und falsch erklären: läuft das nicht auf öden Relativismus hinaus? Keineswegs! Zur Erläuterung bringe ich einen Text, den ich für einen der klarsten Wegweiser dieses Jahrhunderts halte. So schreibt Ernst Robert Curtius (1925; in: "Marcel Proust", Bern 1952):
"Eine und dieselbe Anschauungsform bezeugt sich im Dinglichen und im Seelischen. Die Relativierung des Räumlichen durch das perspektivische Sehen gewinnt eine neue Bedeutung: Sie erweist sich als Strukturform der gesamten seelischen Erfahrung (...) Es läge nahe, von einem universalen Relativismus zu sprechen. Aber diese Formel könnte irreführen. Sie könnte so verstanden werden, als besage die Relativität alles Seins eine Wertindifferenz, als hebe sie Bedeutung und Qualität der Dinge auf. ‚Relativismus' gilt uns als Synonym von ‚Skepsis'. ‚Alles ist relativ' wird aufgefaßt als gleichbedeutend mit ‚nichts gilt'. Wenn wir Proust verstehen wollen, müssen wir diese Denkweise ganz fernhalten. Gerade ihr Gegensatz ist wahr: Daß alles relativ ist, bedeutet. daß ‚alles gilt'; daß jede Perspektive berechtigt ist (...) Ich würde Relationismus sagen, wenn eine solche Neubildung erlaubt wäre (...) Der schlechte Relativismus (...), der skeptische, die Werte auflösende - er gehört zu jenen Zersetzungsprodukten, in denen die geistige Anarchie des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts ihren Ausdruck fand (...) Durch den Perspektivismus wird das werdende Bewußtsein des 20. Jahrhunderts den Relativismus des 19. überwinden" (S. 112 ff).
Oder erst das dritte Jahrtausend die Verwirrung des zweiten? Doch lassen wir das Prophezeien. Jedenfalls gibt es nur in solch "perspektivistischer Perspektive" Hoffnung für unsere Kultur . Nicht ein Turm und eine Sprache, aber auch nicht viele Türmchen und vielfaches Kauderwelsch, sondern viele Häuser und viele Feuerzungen zueinander, deren jede gleichberechtigt wahr ist. Wollten wir stattdessen weiterhin darauf bestehen, daß es (im Grunde oder im Idealfall) nur eine einzige Wahrheit gibt, dann hätte Rosendorfers Anton L. es tatsächlich am besten, ihm redet niemand mehr drein. "Ich habe die Menschen - nein: Die Menschen habe ich nicht geliebt. Ich habe die Menschen sogar gehaßt; aber die Menschheit habe ich geliebt, heiß geliebt von ganzem Herzen" (331).
Unsere Sprache ist sehr genau: Gleichgültig wird alles dem, dem die Rivalität der Türme leid ist. Wer das Beziehungsgeflecht der Häuser achtet, erlebt sein eigenes Haus als gleich gültig und freut sich, daß es den Nachbarn mit ihren ebenso geht. Je mehr solche "Mentalität der Bezogenheit" sich ausbreitet, um so klarer wird es uns allen werden, daß Subjektivismus und Exklusivität nicht bloß falsch sind, sondern überflüssig.
Veröffentlicht in ORIENTIERUNG (Zürich) vom 30.6.1981, S. 143 ff.
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