Jürgen Kuhlmann: Kat-holische Gedanken

Demokratisierung der Kirche?

oder: Gibt es Stereo-Tun?


Dafür kämpfen die einen, die anderen spotten: die Kirche könne nun einmal keine Demokratie werden, sei auf den Felsen des Petrus gegründet (Mt 16,18). Der sich allerdings oft als Stolperstein erwiesen habe, kontern die einen, indem sie Jesu Vorwurf "skándalon" (Mt 16,23) im Wortsinn verstehen. In dieser Fehlfunktion gehöre der Petrusfelsen aus dem Weg der Gläubigen geräumt, am besten eben durch Demokratisierung der Kirche.

Beiden Parteien zur Besinnung grabe ich den folgenden klassischen Text aus, damit wir alle - auf welcher Frontseite wir auch, hoffentlich dem Gewissen folgend, stehen zu sollen glauben - uns doch darin einig wissen: Weil die Kirche in Gottes Geheimnis verwurzelt ist, überfordert sie die Fähigkeit unseres Verstandes, die Dinge logisch durchzudenken und widerspruchsfrei zu organisieren. Für die Kirche gilt deshalb erst recht die Einsicht von Niklas Luhmann, "daß soziale Systeme eine widersprüchliche Normorientierung erfordern und daß, wenn sie sich eine widerspruchsfreie formale Normordnung schaffen, ein gewisses Maß an Illegalität unvermeidlich wird" [Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964,305].

Kurz nach der ersten wahrhaft europäischen Revolution von 1848 erschien in Paris ein Buch mit dem Titel "Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus". Verfasser war der spanische Gesandte in Frankreich, Don Juan Donoso Cortés, Marquis de Valdegamas (1809-1853). Bei ihm gilt es genau zu unterscheiden. Der Politiker war in der Jugend liberal, nach 1848 wurde er zum "Hauptsprecher der Reaktion in Spanien" [Großer Meyer V,64 (1886)]. Heute wird er von Wortführern der Lefebvre-Gruppe als konservativer Kronzeuge angeführt. Das mindert nicht seinen Rang als Denker. Beim folgenden Text, scheint mir, hat ihm ein Engel die Feder geführt (Hervorhebungen von mir):

"Betrachtet man die päpstliche Würde isoliert, so scheint die Kirche eine absolute Monarchie. Betrachtet man ihre apostolische Konstitution in sich, scheint sie eine machtvolle Oligarchie. Betrachtet man einerseits die Würde, die den Bischöfen und Priestern gemeinsam ist, und anderseits den tiefen Abgrund zwischen Priestertum und Volk, so scheint sie eine unermeßliche Aristokratie. Richtet man die Augen auf die unermeßliche Menge der über die Welt hin zerstreuten Gläubigen und sieht man, daß Priestertum, Apostolat und Papsttum ihnen zu Diensten sind, daß in dieser wundervollen Gesellschaft nichts zugunsten der Herrschenden befohlen wird, sondern zum Heil derer, die gehorchen; wenn man das tröstliche Dogma der wesenhaften Gleichheit der Seelen betrachtet; wenn man sich erinnert, daß der Retter des Menschengeschlechtes die Kreuzesqualen für alle und für jeden Einzelnen der Menschen erlitten hat; wenn man den Grundsatz verkündet, daß der gute Hirt für seine Schafe sterben soll; wenn man überlegt, wie das Ziel des Wirkens all der verschiedenen Dienste in der Sammlung der Gläubigen besteht: so scheint die Kirche eine unermeßliche Demokratie im glorreichen Sinn dieses Wortes, oder mindestens eine Gesellschaft, die auf ein wesenhaft volkhaftes und demokratisches Ziel hin eingerichtet ist. Und das Einmaligste an der Sache ist: die Kirche ist alles das was sie scheint.

Bei den übrigen Gesellschaften sind diese verschiedenen Regierungsformen miteinander unvereinbar, oder wenn sie sich vielleicht zu einem verbinden, verbinden sie sich nie, ohne daß sie viele ihrer Wesenseigenschaften verlieren. Monarchie kann nicht mit Oligarchie und Aristokratie zusammen leben, ohne daß die erste verliert, was sie von Natur aus an Absolutem hat, und diese, was sie an Macht haben. Monarchie, Oligarchie und Aristokratie können nicht mit der Demokratie leben, ohne daß diese ihren Exklusiv-Anspruch verliert, wie die Aristokratie ihre Macht, die Oligarchie ihre Eindringlichkeit und die Monarchie ihre Absolutheit, so daß ihre gegenseitige Vereinigung sich schließlich in ihre gegenseitige Vernichtung umkehrt. Allein in der übernatürlichen Gesellschaft Kirche passen alle diese verbundenen Regierungen harmonisch zueinander, ohne daß sie von ihrer ursprünglichen Reinheit und Größe etwas verlieren. Diese friedliche Verbindung von Kräften, die untereinander gegensätzlich sind, und von Regierungen, deren einziges Gesetz - menschlich gesprochen - der Krieg ist, ist das schönste Schauspiel in den Annalen der Welt."

Bis hierher reichte die Hilfe des Engels. Im folgenden Absatz sehe ich die Einseitigkeit des Politikers durchschlagen, hier fehlt die Wahrheit der Demokratie, an ihre Stelle tritt ein Auftrag Gottes an den Monarchen, ohne Kontrolle von Seiten des Volkes:

"Könnte die Regierung der Kirche definiert werden, so könnte man sie definieren als eine unermeßliche Aristokratie, geleitet von einer oligarchischen Macht, die in die Hand eines absoluten Königs gelegt ist, dessen Amt es ist, sich beständig als Ganzopfer für die Rettung des Volkes hinzugeben. Diese Definition wäre das Wunder der Definitionen, ebenso wie die in ihr definierte Sache das größte Wunder der Geschichte ist." [I. Buch, 3. Kap. gg. Schluß, übersetzt aus der Ausgabe Madrid 1946 (II,372 f)]

Wie man sieht, bleibt die Frage "Kirche demokratisierbar?" unlösbar im Paradox hängen. Antworten läßt sich allein im Stil des Buddha: Weder ist die Kirche eine Demokratie noch ist sie keine Demokratie, weder ist sie eine Monarchie noch keine Monarchie. Ähnlich, wie ein Stereo-Signal weder links ist noch nicht links, und weder rechts noch nicht rechts.

Was folgt daraus praktisch? Bei der Stereo-Anlage ist das klar: Jeder Pol realisiere möglichst unverzerrt das eigene Signal, und beide seien eifrig auf ihr gesundes Gegeneinander bedacht, denn ein Kurzschluß würde den Stereoklang zerstören. Soweit das Gleichnis zutrifft, wäre es von den päpstlich Gesinnten deshalb ebenso töricht, prinzipiell gegen die Demokratisierungsbemühungen der anderen Seite zu sein, wie umgekehrt von Wir-sind-Kirche, würde das Papstamt dort grundsätzlich abgelehnt. Protestanten und Altkatholiken gibt es ja schon, Konversion dorthin ist kein katholisches Programm. Vernünftige Polarität führt zu politischer Polarisierung; vor Spaltung aber bewahre uns der Heilige Stereo-Geist. Stünden beide Lautsprecher in getrennten Räumen, wäre es um den Stereo-Klang getan.

Als Paulus dem Petrus in Antiochien mit gutem Grund "ins Angesicht widerstand" (Gal 2,11), hat er bestimmt nicht den Heiligen Vater demütig gebeten, er wolle doch gnädig erwägen, ob man bei den Heiden vielleicht doch auf die Beschneidung verzichten könne. Er hat gesagt, wie er es hielt. Und der Papst hat dem zuletzt nicht mehr widersprochen, weil er den Bruch mit diesem offenkundig von Christus selbst berufenen Apostel nicht riskieren wollte. Zuletzt! Bestimmt nicht gleich. Paulus konnte warten. Weil der Papst Nachfolger des Petrus ist, dürfte er damit rechnen, daß immer wieder einmal ein Bischof in Limburg oder anderswo [Zusatz im April 2003: oder ein Laienkreis, der für den ökumenischen Kirchentag in Berlin die eucharistische Gastfreundschaft vorbereitet] sich hinsichtlich einer bestimmten Frage in seinem Gewissen als Nachfolger des Paulus berufen weiß: und also nicht meint, die Logik des Zentrums in dessen eigener Begrifflichkeit verständig widerlegen zu können, ihr vielmehr kraft eigenen Rechtes die andere Logik der Peripherie entgegensetzt und es dem geistgeleiteten Lauf der Heilsgeschichte überläßt, welcher organisatorische Kompromiß irgendwo zwischen den rational inkompatiblen Vernunft-Polen jeweils die Realität bestimmt.

Die Unterscheidung zwischen Verstand (ratio) und Vernunft (intellectus) findet sich bei Augustinus, vermutlich ist sie älter. Ein flinker Wissenschaftler oder Technokrat kann auffallend dumm sein, andere blicken durch, trotz Mathe fünf. Seit dem Jahr 400 hat das Weltbild sich gewandelt, über "ewige Dinge" sprechen wir nicht mehr so leicht, der Gehalt von Augustins Einsicht aber bleibt gültig: "Wenn dies die rechte Unterscheidung von Weisheit und Wissenschaft ist, daß zur Weisheit die vernünftige Kenntnis ewiger Dinge gehört, zur Wissenschaft dagegen die verständige Kenntnis zeitlicher Dinge, dann ist nicht schwer zu beurteilen, welches davon den Vorrang verdient" [De Trinitate XII 15,25; PL 42,1012]. Der Verstand versteht Einzelnes, bezieht eines auf das andere, vergleicht Strukturen, entwirft logisch stimmige Modelle, in unserem Fall eine monarchische oder demokratische Kirchenverfassung. Vernünftige vernehmen in jeder Verstandeswahrheit ihren Bezug zum Gegenpol und bemühen sich zusammen mit Vernünftigen der Gegenseite, einen Kompromiß so zu gestalten, daß er die Grundanliegen beider Seiten möglichst nicht knickt. Vom weisen Gilbert Chesterton lassen sie sich warnen: "Verrückt ist nicht, wer den Verstand verloren hat, sondern wer alles verloren hat außer dem Verstand." Auch Karl Jaspers traf den Punkt genau:

"Das Überpolitische, das das Politische ordnen muß, ist nicht eine Instanz, die objektiv errichtet werden könnte ... Die Glaubwürdigkeit der Menschen beginnt im kleinsten Kreis intimer Gemeinschaft der Vernünftigen. Sie breitet sich aus in der Öffentlichkeit, im bewußten Widerstand gegen das Vernunftwidrige ... Aber eine organisatorische Förderung moralischer Erneuerung ist nicht möglich. Ihre Organisation wäre schon ihre Selbstaufhebung" [Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1958,310].

Daraus folgt nicht, die objektive Instanz Wir-sind-Kirche sei überflüssig. Sie ist, im, Gegenteil, notwendig. Doch kann sie allein nicht die christliche Vernunft darstellen, ist vielmehr nur deren linker Brennpunkt. Auch ihr Gegenpol, die sog. Amtskirche, kann das nicht allein. Sondern nur beide Pole gegen- und miteinander. Solange wir alle das wissen, ist nichts verloren. Ich stelle mir vor, wie Kardinal Ratzinger seinen Mitbischof Gaillot in dessen Wüstennest Partenia besucht und beide, vor der Erhabenheit der Wüste, miteinander Eucharistie feiern. Dann schreiben sie, nebeneinander sitzend, wider einander Gegensätzliches an dasselbe katholische Volk und jeder sendet den Brief des andern zum Satelliten empor. Wäre das nicht ein Fortschritt gegenüber dem Ersten Vatikanischen Konzil, als die päpstliche Post Weisung hatte, die Sendungen der Opposition zu verzögern ... ?

Juni 2002


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