Jürgen Kuhlmann

Die wahrste Liebesgeschichte

Eine ökumenische Hochzeitsrede


Ein seltsames Gefühl, so stelle ich mir vor, regt sich jetzt in vielen von Ihnen, gemischt aus Verwunderung, Wehmut und Zorn. Zum ersten Mal seit langer Zeit finden Sie sich wieder in einer Kirche; da steigen wohl bei den einen kindliche Erinnerungen auf, schöne und weniger schöne. Wie ich weiß, sind unter den Gästen aber nicht nur Christen verschiedener Bekenntnisse, sondern auch Juden, Muslime, Bahai sowie überzeugte Zweifler. Warum sind Sie hier? Die Gäste, weil unser Brautpaar sie eingeladen hat und sie den beiden an ihrem Hohen Tag die Ehre geben wollen.

Warum ist das Brautpaar in die Kirche gekommen? Zwei Vermutungen, meine ich, greifen zu kurz. Es ist nicht bloß das Wohlgefühl in einem schönen Raum bei Orgelklang und Kerzenduft, was uns hierher gebracht hat. Das Abenteuer Ehe ergreift den Menschen ganz und gar, nicht nur als Konsumenten. Äußere Pracht ist wie die hübsche Verpackung; der Inhalt der kirchlichen Hochzeitsfeier, zu der unsere Beiden sich bewußt entschieden haben, ist ein anderer.

Ein zweites Motiv spielt gewiß mit hinein: die Familien haben ein Recht auf alles, was zu einem rechten Fest gehört, also auch auf die kirchliche Trauung. Den Eltern Freude zu machen ist ja nun gewiß etwas Gutes, solche Freude werdet Ihr beiden hoffentlich bald selbst erleben dürfen. Und doch bin ich überzeugt, daß es im Tiefsten auch nicht nur die Kindesliebe ist, die Euch hierher geführt hat. Was aber dann? Warum hat überall auf Erden die Hochzeit mit Religion zu tun, mit Kirche oder Moschee, Synagoge, Tempel oder Pagode? Anscheinend genügt die Erde nicht, das Geheimnis der Ehe auszudrücken, stets muß der Himmel dabei sein. Das nur mit der Einmischung klerikaler Herrschsucht zu erklären wäre allzu banal. Lassen Sie jetzt einmal alles beiseite, was Sie über den Machtmißbrauch religiöser Institutionen denken. Mögen das noch so fundierte Urteile sein - auf unsere Feier bezogen wären es doch nur Vor-Urteile, die ihr nicht gerecht würden. Zwar ist es wichtig, den Apfel der Realität auch durch die faulen Stellen zu schneiden, heute wähle ich aber eine andere Schnittfläche und, wie jede, stimmt auch sie.

Dies ist eine Hochzeitsfeier und wir sind hier beisammen als Anhänger der gegensätzlichsten Konfessionen, Religionen, Überzeugungen. Zwei aufregende Rätsel sind das: zum einen die Ehe, zum andern die Widersprüchlichkeit der letzten Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Das Großartige ist nun: Jedes dieser Rätsel wird durch das andere erhellt. Die erfahrenen, vielleicht weise gewordenen Ehepaare unter Ihnen werden bestätigen, daß ihre Beziehung zueinander durch mancherlei gegensätzliche Etappen gegangen ist. Nun, nicht anders kann Gottes Liebesgeschichte mit der Menschheit verlaufen. Und wie bei uns die früheren Etappen nicht ganz und gar vorbei sind, sondern in der Erinnerung der Partner aufbewahrt bleiben und immer wieder einmal beim Durchblättern des Fotoalbums lebendig vergegenwärtigt werden, so ähnlich auch im Großen. Nur sind bei der Gott-menschlichen Liebesgeschichte die verschiedenen Etappen nicht nur in toten Fotos dargestellt, vielmehr in Gemeinschaften, die das jeweilige Sinn-Ereignis in Treue zu ihrer besonderen Tradition lebendig halten. So kann die Menschheit jetzt, da der Erdball zu einem einzigen globalen Dorf zusammenwächst, alle Etappen ihrer Liebesgeschichte mit Gott, dem Sinn des Universums, sich bewußt machen, indem sie die Wahrheiten der gegensätzlichen Überzeugungen nicht länger wider einander streiten läßt, sondern immer neu die einen auf die anderen bezieht, sozusagen als Pole eines wunderbaren Sinn-Mobile. Keine der absoluten Wahrheiten ist die Wahrheit, jede aber davon ein notwendiger Pol, ohne den das Mobile schief wäre oder abstürzen müßte. Sehen wir uns die wichtigsten dieser Etappen kurz an, so kann jeder von uns den eigenen Platz im Sinnkosmos ahnen und unsere beiden Hauptpersonen können sich auf das einstellen, was sie erwartet. Denn wenn die Sinngeschichte der Menschheit ihr Liebesabenteuer mit Gott ist, dann hat umgekehrt jede Ehe, im Maße sie gelingt, Anteil an den Ereignissen der Heilsgeschichte.

Ehe wir uns den Etappen im einzelnen zuwenden, braucht es eine Vorbemerkung. Die Bibel spricht von der Liebesgeschichte Gottes mit der Menschheit, an diese Sprache bleiben wir gebunden. Das heißt nicht, Gott sei männlich. Mag sein, es gibt irgendwo im Weltall einen Planeten, für dessen Bewußtsein nicht Gott und die Kreatur einander lieben, sondern die Göttin und ihr geschaffener Partner. Auch so herum stimmt die Geschichte, denn natürlich ist der Sinn des Ganzen nicht weiblich oder männlich, sondern beides oder keins. Doch ist das so ähnlich wie bei einem Fußballspiel; da erkennt der Schiedsrichter ein geworfenes Tor nicht an, obwohl auch Handball ein schöner Sport wäre. Wohl mag ein irdisches Paar sich privat auch zuweilen an jenem fremden Planeten orientieren, das kann dem Gleichgewicht nur nützen. Weil dies aber eine offizielle kirchliche Feier ist, halten wir uns an die Sprache der Heiligen Schrift.

750 Jahre vor Christus lebte der Prophet Hosea. Damals war es zwischen Gott und seiner erwählten Partnerin Israel zur schweren Krise gekommen, weil sie anderen Göttern nachlief, an ihrer Erwählung zweifelte und wie die anderen Völker sein wollte. Bei Hosea lesen wir nun, wie Gott seine Braut an die schöne Zeit ihres früheren Einverständnisses erinnert (damit ist der Bund am Berg Sinai gemeint) und die künftige Erneuerung dieses Bundes verheißt: "Siehe ich will sie locken, in die Wüste sie führen, zu Herzen ihr reden ... Dann wird sie mich wieder lieben wie zur Zeit ihrer Jugend, als sie aus Ägypten heraufzog. An jenem Tage - Rede des Herrn - wirst du rufen: mein Mann! ... Dann verlobe ich dich mir auf ewig in Wahrheit und Recht, in Huld und Liebe" (2,14-22). Sehen Sie: Die lebendige Erinnerung an die Brautzeit der Menschheit mit Gott, das sind, bis heute, die Juden. Zu ihnen gehört auch Jesus; der Stifter des Christentums war Jude, nicht Christ! Dieser erste Bund ist unüberbietbar, keine spätere Entfaltung oder Erneuerung bringt Größeres, als der Blitz der Begegnung gewesen ist, gewesen bleibt, wenn Sie mir solch grammatikalische Kühnheit gestatten. Deshalb bedarf das jüdische Verhältnis zu Gott keiner christlichen Vermittlung; die heutige Kirche sieht das endlich ein und betreibt keine Judenmission mehr. Für unser Brautpaar und für alle anwesenden Ehepaare folgt daraus: Erinnert Euch immer wieder der ersten Zeit Eurer Liebe, schöpft aus dieser Er-innerung Kraft und glaubt, mehr als späteren Enttäuschungen, jener herrlichen Hoffnung; denn sie bleibt eine immer gültige Wahrheit Eures Lebens miteinander.

Wofür stehen die Christen? Da lesen wir bei Paulus: Christus ist das Ja für sämtliche Verheißungen Gottes (2 Kor 1,20). Die Christen sind die Menschheit, sofern sie sich an das öffentliche Jawort ihrer Hochzeit mit Gott erinnert. Bei der Inkarnation werden Gott und Mensch ein Fleisch; weil die Ehe diese Vereinigung bedeutet (Eph 5,32), deshalb heißt sie in katholischer Sprache ein Sakrament. Das Christentum ist eine universale Erlösungsreligion: Alle Menschen sind gemeint, keineswegs bloß die eigenen Gläubigen. "Zeichen unter den Völkern" nennt die Kirche sich im letzten Konzil: ein Zeichen bedeutet immer mehr, als es selber ist! Der Backherdschalter bedeutet 250�, ist es aber nicht, der Drehzahlmesser steht selber still. So ähnlich bedeutet die Kirche: Heil für alle, sie ist aber selbst nicht so umfassend. Liebes Brautpaar, in dem Maße, wie Euer Bund hier vor Gottes Angesicht nicht nur die Worte der Wahrheit, sondern auch die Wahrheit der Worte enthält, schwingt er im Feld der ewigen Liebesspannung: Von jetzt an ist Euer Wir ebenso wirklich wie das Ich eines jeden und das Du, das heißt die bleibende Fremdheit des andern. Solch unbegreifliches Mit-ein-ander von Du, Ich und Wir heißt in Gott Dreifaltigkeit und bei uns Menschen ist es die Gabe und Aufgabe der Ehe.

Bei jeder Ehe folgt auf die Hochzeit irgendwann eine Krise. Als Überwindung einer solchen sehe ich den Islam. Die Christenheit hatte Gott monopolisieren wollen; byzantinische Religionsfunktionäre hätten die Stämme Arabiens am liebsten als Untertanen des Kaisers und seines Hof-Gottes gesehen. Die Frau Menschheit war in den schlimmen Fehler gefallen, ihren Mann als Besitz mißzuverstehen und zu eigensüchtigen Zwecken auszubeuten. Das ließ Gott sich nicht bieten, sondern berief Mohammed zu seinem Propheten. Zwar ist Er dem Bund treu, trotzdem bleibt Er frei, verliert nicht durch sein Ja zur Kirche das Recht, auch fernerhin anderen Menschen unmittelbar nahe zu sein, ohne kirchliche Vermittlung. Daran soll ein Christ sich mahnen lassen, sooft er Muslimen begegnet.

Allerdings ist auch der Islam nicht der Versuchung zum Mißverständnis entgangen. Dermaßen einseitig wurde Gottes souveräne Freiheit betont, daß umgekehrt von Liebe, Treue und unserer, der menschlichen Würde wenig übrigblieb. Ins selbe Ungleichgewicht fiel auch die mittelalterliche und dann die reformatorische Christenheit: Kein Wunder, daß die Frau Menschheit ihre Unterdrückung eines Tages leid war und ihrerseits rebellierte: das Ergebnis ist die Gottlosigkeit der emanzipierten Moderne. Auch sie ist also - das muß die Kirche noch lernen - eine unvermeidbare Etappe der Gott-menschlichen Liebesgeschichte.

Dasselbe gilt für den Glauben der Bahai; in ihm erreicht die Menschheit einen Zustand neuer Reife, gleicht der nachdenklichen Ehefrau, die im Album die Fotos früherer Etappen betrachtet und deren Gleichwichtigkeit erkennt. Das tun soll natürlich - mit den Denkmitteln je seiner Tradition - jeder Gläubige aller Religionen, insofern ist auch die Bahai-Wahrheit allgemeinverbindlich und heilsnotwendig; die Bahai bedeuten aber zeichenhaft gerade diese Etappe, entsprechen dem Foto der Frau beim Betrachten der anderen Fotos, das die übrigen Erinnerungen nicht ersetzt noch vereinnahmt, aber ergänzt.

Welchen Fortgang der Heilsgeschichte sollen wir, Zeitgenossen weltweiter Gottlosigkeit, für die Zukunft erhoffen? Denken Sie an My Fair Lady: Wütend verläßt Eliza ihren Sprachprofessor, weil er sie bloß als Mittel seiner eigenen Pläne mißhandelt hatte: Ich habe es geschafft, freut er sich, während sie doch weiß: Ich selbst bin die Lady, ich habe es geschafft. Erst muß sie sich freitrotzen, nur dann kann beider Liebe voll erblühen. Wird sie zurückkehren? Macht Er Schluß mit dem Hochmut seiner Bevollmächtigten, der religiösen Führer? Gott will doch keine Sklavin lieben!

Liebes Brautpaar, verehrte Gäste, so wunderbar fügen die verschiedenen Farben Ihrer gegensätzlichen Überzeugungen sich ineinander zum Abbild der ganzen Liebesgeschichte Gottes mit der Menschheit. Egal wo genau der einzelne sich in diesem Puzzle wiederfindet: er gehört dazu. Und, das Wichtigste: Innerlich, in unseren Herzen, will die ganze Wahrheit leben; nur ausdrücklich (wo wir gesellschaftlich auftreten und unseren Glauben formulieren) müssen wir jeweils einen bestimmten Pol betonen. Da kann keiner alles sein. Noch wirklicher aber als solche Getrenntheit ist unsere tiefe Selbigkeit. Nicht nur ein anderer Teil des Ganzen ist jeder; wir sind auch, gemeinsam, das Ganze all dieser Pole! Das ungefähr meint Paulus, wenn er die Christen Glieder des Leibes Christi nennt. Nicht nur spricht mein Mund diese Worte, sondern ich durch meinen Mund; nicht nur Ihr Auge sieht die Blumenpracht hier, sondern Sie durch Ihr Auge. Es ist eine große Stunde im Leben eines Menschen, wenn er auf einmal erfährt: auch durch mich, dieses arme Menschenkind, lebt auf meine besondere Weise das unendliche Bewußtsein überhaupt! Etwas vom Schönsten an der Liebe von Mann und Frau ist gerade dies: daß sie uns aus der Enge der Einzelperson immer wieder hinausreißt zur Ahnung solch göttlicher Weite.

Wünschen wir unseren Beiden deshalb von Herzen, daß die Gewißheit Eurer in Gott verankerten Gemeinschaft in Euch wachse, alle kommenden Krisen siegreich überwinde und Eure Familie zu einer gesunden Zelle am Leib der erlösten Menschheit werden lasse.

Mai 1991


Nachwort am 6. Dezember 2009

Diese Gedanken habe ich gestern beim Hochzeitsmahl anklingen lassen, nachdem unser Sohn Tomas bei einer Bahai-Feier seine türkische Braut Nevin geheiratet hat. Noch drei Hinweise:

  1. Die Etappen der Gott-menschlichen Liebesgeschichte bilden zusammen ein Gleichnis, das die Beziehungen der monotheistischen Glaubensweisen zueinander innerhalb des biblischen Denkrahmens verstehbar macht, so erleichtert es den Gläubigen die friedliche Achtung für einander.
  2. Entscheidend für die Wahrheit des Vorschlags ist, dass jede vergleichende Wertung unterbleibt. Die zeitliche Reihung der Etappen bedeutet weder Fortschritt noch Niedergang. Sobald eine Etappe begonnen hat, gilt sie für ihre Gläubigen weiter, auch wenn eine spätere in den Raum der Heilsgeschichte tritt. Als ich am Abend des 26. Januar 1991 vor einem großen Christusbild wahrnahm, dass ich der Offenbarung der Einheit aller Religionen weiterhin als Christ zustimme, nicht als Bahai, verstand ich auf einmal, warum so viele Juden seit bald zweitausend Jahren mit ihrem Recht nicht Christen werden. Zu jeder Zeit soll jede Etappe von lebendigen Gemeinden repräsentiert werden, nur so wird der ganze Beziehungsreichtum offenkundig - wenn nicht anschaulich so doch ahnbar. Wer frühere Etappen für überholt hält oder spätere für abtrünnig, urteilt ideologisch, nicht geistlich.
  3. Der obigen (nur geschriebenen) Hochzeitspredigt für Steffi und Gert folgte 1993 eine kleine Broschüre, 1996 das Büchlein "Ehrfurcht vor fremder Wahrheit", 2001 das Buch "Etappen der Großen Liebesgeschichte", 2006 ein Manifest im Internet (italienisch auch gedruckt), am 7. Oktober 2007 eine Sendung im Bayerischen Rundfunk und jetzt dank der Gnade Gottes die wirklich erklungene Hochzeitsrede.

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