Jürgen Kuhlmann

Entwerten oder gültig machen?

Wie ein amtlicher Hinweis zu denken gibt

Es gibt so etwas wie Volks-Charaktere, das beweist der Blick auf ein Schild in der Berliner U-Bahn-Station. Da wird auf deutsch scheinbar das Gegenteil wie auf englisch verlangt. Man soll den Fahrschein "entwerten", das ticket aber "validate", also gültig, wertvoll erst machen.

Zwei gegensätzliche Weltanschauungen blitzen auf. Der deutsche Fahrschein ist solange wertvoll, wie er von jeglicher Realität unbefleckt bleibt und sämtliche Möglichkeiten offenlässt. Zu jeder Zeit könnte ich damit überall hin fahren, was immer ich, vielleicht, irgendwann wollen mag. Sobald ich eine dieser Möglichkeiten allerdings tat-sächlich ergreife und das Papier stempele, ist dieser abstrakte, allgemeine Wert zerstört, ich bin festgelegt, eingespannt in irgendeine enge Realität, meine herrlich ideale Freiheit ist dahin. "Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen," heißt es im "Wallenstein": wie in einer überfüllten U-Bahn eben. Wertvoll ist uns die reine Möglichkeit; die bloße Realität gilt als wertlos. Also heißt es den Fahrschein tapfer, verlustbereit entwerten.

Anders denkt der Engländer. Nicht als abstrakt freien Herrn über alle Möglichkeiten sieht er sich, sondern weiß schon, wohin er will. Würde er in der Bahn ohne gültiges Ticket erwischt, träfe ihn Schande und Strafe. Darum will er den sonst wertlosen Zettel durch den Stempel überhaupt erst wertvoll machen. Das ist eine positive Tat, ähnlich wie wenn jemand, um sein Regal zu befestigen, eine Schraube aktiv in die Wand treibt. Mit welchem Gerät? Natürlich mit einem screwdriver. Der Deutsche nennt dasselbe Werkzeug Schraubenzieher. Zweck seiner Tat ist die Herstellung möglichst allgemeiner Reinheit: Nach dem Ziehen der Schraube wird das Bohrloch aufgefüllt, überstrichen, und die Wand ist wieder wunderschön.

Einen dritten Gegensatz lernt jeder Englischstudent als ein Paar "falscher Freunde": "Self-conscious" heißt nicht "selbstbewusst" sondern das Gegenteil. Stellt etwa eine Dame beim Ballfest erschrocken fest, dass eine riesige Laufmasche ihre Wade verunziert, dann richtet ihr Bewusstsein sich, statt – wie normal – auf den Saal und die anderen Menschen, plötzlich auf sie selbst, wie die anderen sie sehen: sie wird self-conscious. Gut britisch-empiristisch bedeutet "selbst" ihr das, was andere und sie selber als unmittelbar vorfindlich erfahren. Die im deutschen Sinn Selbstbewusste heißt auf englisch self-confident: Sie vertraut, dass ihr empirisches Selbst o.k. ist, fremder Kritik standhält. Im deutsch-idealistischen Sinn bedarf es keines besonderen Zutrauens; die Selbstbewusste ist sich ihrer selbst ja nicht als einer realen, sichtbaren Winzigkeit bewusst, vielmehr als kraftvoller Herrin potentiell unendlicher Möglichkeiten: Mir kann keener. Und gäbe es doch ein Malheur wie jene Laufmasche: Ihr könnt mich alle.

Und die Moral? Jedes Volk lerne vom anderen. "Und Gott sah alles, was ER gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut" (Gen 1,31): beides, Möglichkeiten wie Realitäten. Mein Vorsatz steht fest: Ich will mich jeweils auf das Gute konzentrieren. Der ungestempelte Fahrschein sei mir nicht ungültig sondern wertvoll. Meine Möglichkeitsfelder werden mir vom Schöpfer geschenkt, ich will mich ihrer dankbar erfreuen: Wie ein Jüngling, der noch keine erwählt hat, locker mit vielen Schönen tanzt. Im Augenblick eines Entschlusses schalte ich jedoch von deutsch auf englisch um, entwerte mein Ticket nicht sondern mache es gültig: Das ist jetzt mein Leib, meine irdische Realität, vom Schöpfer mir bereitet, und das ist gut so.

Bis vielleicht irgendwann manches allzu fest und eng geworden ist: dann ist nicht mehr der Schraubentreiber dran sondern wieder der Schraubenzieher. Ungleiche Wirkung – selbes Gerät. Wer beim Werkzeug daheim wie beim Stempelapparat vor der U-Bahn die nämliche Sinnspannung entdeckt, die auch sein eigenes Leben durchschwingt, von winzigen Alltagswahlen bis hin zu tiefstgreifenden Entscheidungen: er oder sie hat ein brauchbares Denkzeug, sich selbst und seine Mitmenschen ein wenig klarer zu verstehen. Dafür sei den Berliner Verkehrsbetrieben gedankt.

Berlin, Ostern 2004


Nachtrag im August 2012:

Eine herrlich paradoxe Stereo-Form stellt den Gegensatz kurz hin. In Essen steht auf dem Fahrschein lapidar: Nur gültig mit Entwerterdruck.


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