Jürgen Kuhlmann
WAS DER FALL IST Ich stehe am Rand eines Abgrunds; drüben auf der anderen Seite der weiten Schlucht, winzig auf die Entfernung, sehe ich das Hochhaus unserer Behörde. Näher trete ich an den Rand - und merke plötzlich erschrocken, daß ich das Gleichgewicht verliere. Keine Rettung mehr: ich falle. Zehntausend Meter senkrechter Absturz, und dann ist es aus. Entsetzlich das glasklare Gefühl des Endes, des lange verdrängten. Nur mehr der Sturz gilt. Wie lange wird er dauern? Wie viele Minuten bin ich noch am Leben? - Halt! Mein Begleiter hat es gerufen, zu meinen Füßen schiebt sich eine Art eiserner Mulde vor und fängt den Abgeglittenen auf. Wie ich zur Besinnung komme, surrt auch schon der Wecker.
"Der Mythos dessen, was der Fall ist", diese Formulierung von Horkheimer und Adorno hat mich neulich begeistert. Knapp verweist sie die modische Tatsachengläubigkeit, die nichts außer Fakten gelten läßt, fort aus ihrer angemaßten Selbstverständlichkeit und hin zur Schar der anderen Mythen: jener wirkkräftigen Vorstellungsrahmen, die ganze Epochen beherrschen, nur so lange aber, bis die kritische Vernunft ihnen hinter die Schliche kommt.
Wie aber - welch kunstvolle Purzelbäume schlägt die Sprache! - wenn ich den Mythos dessen, was der Fall ist, im Sinn meines Traumes ummythologisiere? Dies ist der Fall, jenes ist der Fall, sogar ich selbst bin der Fall: der eben geträumte nämlich. Und keine auffangende Mulde schiebt sich in der Wirklichkeit dazwischen, ungebremst bin ich seit jeher am Fallen. Mehr als zehntausend Meter freilich mißt die Distanz bis zum Aufprall; von wie weit her der Grund des Abgrunds aber auch auf mich zurast: zerschellen werde ich an ihm, kein Zweifel.
Habe ich nicht gestern noch ganz anders gefühlt? Kein Mensch - das geht mir auf - erlebt seine Welt ungedeutet; irgend einen Sinn hat sie immer, und sei es den einer Bühne für einen Schauspieler auf der Suche nach seiner Rolle, seinem Sinn. Niemand lebt ohne Mythos. Das unbegreifliche Ganze wird stets - außer vielleicht von geübten Buddhisten - in Analogie zu irgendwelchen überschaubaren Situationen erfaßt. Mein bisheriger Privatmythos z.B. scheint recht verbreitet: Kam mir mein Leben nicht so ähnlich vor wie ein Examen, bei dem die Fragen schlecht zu lesen sind, so daß ich zwar weiß, daß ich etwas zu leisten habe, aber nicht genau, was?
Von dieser Zwangs-Atmosphäre hat der Traum mich befreit. Nein, nicht eine Prüfung ist das Fundamentalgleichnis, sondern der freie Fall. Mit neuen Augen sehe ich auf der Straße die Menschen hasten. Auf einmal sind sie nicht mehr meine Konkurrenten beim Examen, auch nicht dessen Aufgaben. Vielmehr sind sie alle meine Genossen beim selben sausenden Fall. Hat so ähnlich vielleicht mein Freund Hans M. (vor vier Jahren am Matterhorn abgestürzt) zum letztenmal seinen Kameraden erblickt? Häuser, Autos, Trambahn, das Flugzeug am Himmel, alles ist der Fall, derselbe riesige Sturz in den Abgrund. Und nicht einmal der Himmel selbst ist fest: "Himmel und Erde werden vergehn."
Aber MEINE Worte, sagt Christus, werden nicht vergehen. O mein Gott, einzig Du bist nicht der Fall. Du bist die Mitte, der wir zustürzen. Zerschellen werden wir bestimmt. DANN aber? Dieser totalen Frage verdankt das Leben vor dem Tode seine heißeste, aufregendste Spannung. Wenn ich bald der Fall gewesen sein werde, wer, was und wie werde ich DANN, gewesen, sein?
Diesem DANN falle ich neugierig entgegen. Wohl wird es auch die Examensnote offenbaren. Wer aber durch und durch am Fallen ist, kann der sich vor irgendeinem Durchfallen letztlich fürchten? Gewiß nicht. Deshalb lächle ich meinen Mitfallern im Vorbeigleiten heiter zu. Alle sollen sie unsere wahrste Wahrheit erfassen: Wir sind der Fall, und Gott ist die Liebe. Nichts sonst? Überhaupt nichts.
August 1978
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