Jürgen Kuhlmann

Das Geheimnis des Fingers

Gespräch, frei nach Meister Eckhart, über Mystik, Identität, Differenz.

»Genau wie der Leib eine Einheit ist und dabei viele Glieder hat, alle die Glieder des Leibes aber, sind ihrer auch viele, doch nur ein Leib sind, so auch Christus.« (1 Kor 12,12)

»Man soll wissen, daß der Finger und die Hand und ein jegliches Glied von Natur aus den Menschen, dessen es ein Glied ist, viel lieber hat als sich selbst und sich gern und unbedenklich freudig in Not und Schaden begibt für den Menschen. Ich sage zuversichtlich und wahrheitsgemäß, daß ein solches Glied sich selbst durchaus nicht liebt, es sei denn um dessen willen und in dem, von dem es ein Glied ist. Drum wäre es gar billig und wäre naturgemäß für uns das Rechte, daß wir uns selbst keinesfalls liebten, wenn nicht um Gottes willen und in Gott.« (Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hgg. von Josef Quint, München 1963,128)

(A:) Laß mich los! - (B:) Wie denn? Ich habe dich gar nicht. - (A:) Doch. Du hältst mich am Finger. - (B:) Deinen Finger halt' ich fest, nicht dich. - (A:) Mein Finger, das bin ich selbst. - (B:) Irrtum. Wenn du willst, beweise ich es dir und reiße ihn aus. - (A:) Bitte nicht. Dann zerfiele die Materie, die er ist; der Finger aber würde ich bleiben und mir, kann sein, als Phantomschmerz wehtun. Auf jeden Fall bin ich mein Finger. - (B:) Warum hab' ich dann bloß den Finger und nicht dich? - (A:) Weil ich unendlich viel mehr bin als mein Finger. Den hast du zwar, wie er spürt und ich in ihm, du hast mich am Finger. Dadurch hast du, solange der Finger am Leib ist, meinen Leib. Aber nicht mich selbst, die Person. Die hat nur, wem ich sie gebe. - (B:) Und dein Finger? Hat sie der? - (A:) Gute Frage. Ja und nein. Ja: Denn indem ich meinen Finger will, will ich ihn als selbstbewußt, meiner selbst bewußt; ich, als Person, will auch mein Finger sein. Ja, mein Finger hat mich. Aber auch nein: Denn nur im Verbund des Leibes und von der Person belebt, ist der Finger ich selbst. Als dieses Stück Materie ist der Finger nicht ich, bloß ein Ding. Ohne es könnte ich leben, mancher lebt fingerlos. Wirklich mich haben tut mein Fingerding nicht. - (B:) Geheimnisvoll, dein Finger. - (A:) Allerdings. Kratzt die Katze meinen Finger, so kratzt sie mich am Finger, also ist mein Finger ich; bisse ein Hund ihn ab, so bisse er nicht mich ab, also ist mein Finger nicht ich. Glatter Widerspruch, doch beides stimmt.

Das Schöne ist nun: Wer die dem Finger innere Spannung zwischen Ding und Ich-Vollzug einmal erlebt und verstanden hat, läßt sich vom Anschein des Widerspruchs nicht mehr stören. Wörter sind ein Notbehelf. Den Geschmack einer Orange, den Wohllaut einer Stimme können sie nicht ausdrücken. Auch der Sinnpolarität eines lebenden Fingers werden sie nicht gerecht, das ist weder verwunderlich noch zum Erschrecken. Wie der Chinese für »ich« angeblich drei Wörter braucht, je nachdem ob er zu einem Höheren, Niederen oder Gleichen spricht, so läßt sich eine Sprache denken, die beim Finger exakt unterscheidet, ob das Ding abgesehen von mir gemeint ist oder ich, des Dinges selbstbewußter Vollzug. Gebildeter als unsere wäre diese Sprache aber auch nicht; sie würde die Wahrheit verschatten, daß Sinn des Dings nur ist, mein »Lebzeug« zu sein. -

(B:) So weit so klar. Aber worauf willst du hinaus? Sind deine Gedankenspiele Seilhüpfen für Erwachsene oder bedeuten sie etwas für wirkliche Menschen? -

(A:) Und ob! Es geht um ein philosophisches Programm zum vernünftigen Selbstvollzug, gerichtet gegen zwei gleich schlimme Gefahren: religiöse Sklaverei der einen, gottlose Banalität der anderen. Habe ich verstanden, wie mein Finger nicht ich ist und ich dennoch auch mein Finger bin, dann kann dieses Gleichnis mir bis in den innersten Grund durchsichtig werden und ich ahne, wie ich, dieser Mensch, nicht Gott bin und Gott dennoch auch ich sein will, ich und jeder andere Mensch. Darum fühle ich mich weder als Untertan eines großen Fremden, voller Angst vor der Willkür des Herrn, noch als kurz aufblitzendes Stäubchen ohne größeren Zusammenhang. Wie ich nicht will, daß mein Finger vor mir kuscht - bin ich es doch selbst, der in ihm als Finger sich erlebt! - so will Gott uns nicht als furchtsame Sklaven, schafft uns vielmehr zu selbstbewußten Gliedern seines eigenen kosmischen Leibes. Und wie mein Finger kein abgetrenntes Individuum ohne Tiefen-Ich ist, sondern zusammen mit anderen Gliedern von meiner Ich-Person zum selbstbewußten Leib zusammengefaßt wird, so soll auch der einzelne Mensch sich nicht mißverstehen als losgelöstes Bewußtseinsatom auf kurzer Bahn zwischen dem Auftauchen aus dem Nichts und dem Zurücksinken ins Nichts, vielmehr glaube ich, daß mein kleines Ich nichts anderes ist als ein bestimmter Konzentrationsvollzug des allumfassenden göttlichen Ich auf mich, sein winziges Selbst-Organ hier und jetzt, ähnlich wie nicht nur meine Hand jetzt den glatten Füller spürt, sondern in den Fingern wirklich ich selbst mich auf seine Glätte konzentriere, während ich zugleich als Gehör Vogelgezwitscher vernehme, und als Blick Tintenstriche auf Papier. -

(B:) Dein Wunsch, selber Gott zu sein, klingt verführerisch, trotzdem bin ich froh, daß diese Idee sich bei uns nie durchsetzen konnte, sooft sie es auch versucht hat. Weißt du: Wäre alles bloß eine Beziehung von mir zu mir selbst, das wäre einfach langweilig. Nicht romantisch genug. Lieber halte ich es mit dem klugen Christen Gilbert Chesterton:

»Liebe ersehnt Persönlichkeit; deshalb ersehnt Liebe Teilung. Der Instinkt des Christentums freut sich, daß Gott das All in kleine Stücke zerbrochen hat, weil es lebende Stücke sind. Sein Instinkt sagt lieber ,,Kleine Kinder lieben einander" als einer großen Person zu sagen, sie möge sich selbst lieben. Das ist der geistige Abgrund zwischen Buddhismus und Christentum: Für den Buddhisten oder Theosophen ist Persönlichkeit der Fall des Menschen, für den Christen ist sie Gottes Ziel, der ganze Punkt seiner kosmischen Idee. Die Weltseele der Theosophen verlangt vom Menschen Liebe nur, damit der Mensch sich in sie hineinwerfen kann. Aber das göttliche Zentrum des Christentums hat den Menschen tatsächlich aus sich hinausgeworfen, damit er es lieben könne. Die östliche Gottheit ist wie ein Riese, der Bein oder Hand verloren hat und immer danach sucht; doch die christliche Macht ist wie ein Riese, der in seltsamer Großzügigkeit seine rechte Hand abschneidet, damit sie von sich aus ihm die Hand schütteln kann« [Orthodoxy (London 1909), 243]. -

(A:) Wunderbar. Und dann? Dann spürt, beim Händeschütteln, die lose Hand selig: Es ist mein eigenes größeres Ganzes, zu dem ich heimgefunden habe. DU, mein Gott, bist mein innigster Freund weil DU zugleich ICH bist, tiefster Quell meines Ich. Des Ringes Mitte steht ihm innen gegenüber. Bloß Ich ohne Du wäre langweiliges Einerlei, bloß Du ohne Ich unerlösbare Spaltung. Nur die nie voll begreifbare Einheit von Selbigkeit und Spannung erfüllt unsere Sehnsucht nach Sinn. -

(B:) Da stimme ich dir zu. Du solltest dann aber dein Fingergleichnis besser ausbalancieren. - (A:) Wieso? - (B:) In ihm kommt der Du-Aspekt zu kurz. Dein Finger ist nur eine Ich-Weise, kein echter Partner für dich. Aber schau: ich halte ihn immer noch fest. Angenommen, du überläßt ihn willig mir, bist einverstanden, daß er zu mir gehört, als Teil meiner Hand gilt, die ihn umschließt: dann kommt er in ein echtes Du-Verhältnis zu dir; denn was meine Hand will, kann dein Ich nicht bestimmen, sondern muß es auf sich zukommen, sich davon überraschen lassen. -

(A:) Soweit kann ich dir folgen. Was entspricht dem im Großen? - (B:) Eine wichtige Einsicht, die wir zu Beginn noch nicht hatten. Es gibt im Finger nicht bloß die beiden Seinsweisen: das bloße Ding und den Selbstvollzug der Person. Sondern dazu den vom Finger verspürten Selbstvollzug der anderen Person, die ihn ergreift. - (A:) Wer ist das in der wirklichen Welt? - (B:) Für Christen: Gott der Vater, von dem her und zu dem hin die Person seines ewigen Kindes ist, des Sohnes, zu dessen Leib wir als seine Glieder gehören. Daß der Vater dem Sohn auch ein fremder Anderer ist, hat Jesus am Karfreitag schaurig erlebt, erstorben. -

(A:) Wir müssen Chestertons Gleichnis ergänzen. Nicht die Hand haut der Riese sich ab um ihr begegnen zu können, ein vollständiges DU stellt er sich gegenüber, sein göttliches Ebenbild. - (B:) Ja. Dann kann ich als lebendige Zelle des Leibes Christi, die zu sein ich berufen bin, entsprechend den beiden Hauptgeheimnissen unseres Glaubens drei personhafte und zwei naturhafte Dimensionen meines existntiellen Grundgefühls unterscheiden. - (A:) Das klingt kompliziert. - Nur bis man verstanden hat, was gemeint ist. Dann schenkt dieses Denken eine herrlich entkrampfende Klarheit. Man sieht dank dem schlichten Fingergleichnis ein, wieso im Lärm der ideologischen Widersprüche jede Stimme einen wichtigen Pol des ganzen Mobile ausdrückt, und kann von jeder Überzeugung das annehmen, worin sie stimmt. - (A:) Ich bin gespannt. -

(B:) Seit dem Konzil von Chalkedon (451) unterscheidet die Kirche bei Christus zwei Naturen: die göttliche, von Ewigkeit her, und die angenommene menschliche. Ebenso kann ich in meinem Ichgefühl zweierlei Tiefen unterscheiden. Ich bin das geschaffene endliche Wesen, mein nicht notwendiges empirisches Ego, stets zu krebsigem Hochmut oder resigniertem Aussatz versucht. Und in mir lebt ungeschaffen, zeitlos aus sich quellend, das Selbstbewußtsein des göttlichen Wesens. Jenes geschaffene Ichgefühl entspricht der Erfahrung: Mein Finger spürt den Füller. Dieses ungeschaffene Ichgefühl entspricht der Tiefen-Erfahrung: Ich selbst bin es, der jetzt als Finger den Fühler fühlt, ich selbst, der auch dann ich wäre, wenn ich keinen Füller, ja keinen Finger hätte. Echt mystisches Selbstbewußtsein bläht keineswegs das Endliche zum Unendlichen auf, entdeckt vielmehr mitten im zeitlich Begonnenen und Vergehenden die zeitlose Ich-Präsenz: Ich lebe, nicht mehr ich, Christus lebt in mir.

Beide Ich-Weisen, die kosmisch-geschaffene wie die ungeschaffen-mystische, treten gemäß dem anderen christlichen Hauptdogma in je drei Gestalten auf. Die religiöse DU-Dimension hat Anteil an Jesu Beziehung zu DIR, seinem und unserem Gott. Als endliches Verhältnis ist dies jene »schlechthinige Abhängigkeit«, die nach Schleiermacher die Religion kennzeichnet (ich / DU); als gleichrangige Beziehung ist es die innergöttliche Freundschaftsliebe (ICH / DU) von Vater und Sohn, die sich als Liebesmystik den Herzen mancher Begnadeter spürbar, aller Glaubenden wahrhaft mitteilt.

Die »pantheistische« EINS-Dimension hat Anteil an Jesu Geborgenheit in IHR, der Heiligen Liebes-Gischt. Kosmisch ist dies das Aufgehen im Ganzen, das Mitschwimmen im Großen Fluß des Lebens; beim Passieren einer Flußpferddherde fand Albert Schweitzer seinen Grundbegriff »Ehrfurcht vor dem Leben«. Das mystische EINS-Bewußtsein hat sich am eindrucksvollsten in der Buddha-Tradition ausgestaltet und wird vor allem als Zen-Meditation jetzt auch im Westen erfahren.

Die ICH-Dimension schließlich hat Anteil an Jesu menschlich-göttlichem Freiheitsbewußtsein. Kosmisch entfaltet es sich im Humanismus zwischen Sokrates und Camus, seiner mystischen Weise begegnen wir im indischen A-dvaita (Unzwei), [Vgl. Raimon Panikkar: »Die abrahamische Tradition sucht die Differenz, für sie ist Gott kein Geschöpf. Der indische Geist sucht dasselbe Mysterium, aber nicht die Differenz, sondern die Identität. Beide gehören zusammen.«] auch im deutschen Idealismus. Wird der allerdings so verstanden (ob zu Recht, bleibe offen), als sei das Selbst Krönung und Ziel des Bewußtseinsprozesses, während die Liebe unterwegs zurückbleibt: so widerspricht der Christ solcher Stufung, ihm gelten alle drei göttlichen Dimensionen als streng gleichrangig absolut, in sich wie in uns. -

(A:) Du hast nicht zuviel versprochen. Wenn ich die Bewußtseinsgestalten, die mir in Menschen und Büchern begegnen, durch die Brille des trinitarisch-christologischen Rasters betrachte, erkenne ich tatsächlich in jeder die Wahrheit eines Fingergefühls oder die Spannung zwischen verschiedenen. Die freundliche Atheistin erlebt sich als dieses bestimmte Lebewesen, gleicht dem Finger der lesenden Blinden, ganz ins Tasten versenkt, unbekümmert um Fragen des Tiefen-Selbst. Meine frommen Freunde sind Finger eines Menschen, der - mehr oder minder willig - von seinem Herrn an der Hand gefaßt und geleitet wird. Jene esoterische Dame fühlt sich wie ihr Finger, während sie sich in der Badewanne entspannt: wohlig im Ganzen aufgehoben. Mein meditierender Zenmeister gleicht dem Finger in der Wanne, der aber jetzt nicht schlicht die Wärme empfindet, sondern auf sein Bewußtsein sich besinnt, nicht das (sozusagen punkthafte) Selbstbewußtsein, vielmehr die weite, den ganzen Leib und auch den Finger durchströmende Lebendigkeit: Alles ist Eines, und dies All-Leben bin ich. Punkthaft hingegen empfindet der Advaita-mystische Finger sein innerstes Selbst: Im Finger wie in allen anderen Organen lebe ich, nicht strömend verteilt, sondern in MIR gesammelt, nicht der Gleiche in Auge und Ohr, Kehle und Fuß, doch überall und auch inseits ihrer aller ganz derselbe. All diesen Zeugen je ihrer besonderen Wahrheit gebe ich von Herzen recht, wie Ignatius von Loyola im Exerzitienbüchlein (Nr. 22) mahnt: »daß jeder gute Christ bereitwilliger sein muß, die Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verurteilen«. -

(B:) Gut und recht. Solch wohlwollende Deutung darf aber nur der erste Schritt einer Begegnung sein. »Friede, Freude, Eierkuchen« ist nicht genug. Der Humanist vertritt eine wichtige Wahrheit; wer aber aus Prinzip bloß humanistisch denken wollte, wäre bald ein Opfer gottloser Banalität. Umgekehrt bekennt Frömmigkeit eine wichtige Wahrheit; der nur Fromme aber verfällt allzuleicht der religiösen Sklaverei. Wirklich zu lieben fällt beiden schwer, wie Jesus im schönsten seiner Gleichnisse an den verlorenen Söhnen zeigt. Sich auf einen der sechs Wahrheitspole zu beschränken mag phasenweise gesund, von der inneren Entwicklung gefordert sein - das volle Heil schenkt sich so, daß alle drei göttlichen Dimensionen und beide Naturen Christi unser Bewußtsein auf eine Weise prägen, die der glaubenden Vernunft einen hochgespannten Frieden bringt, obwohl von jedem Pol des geistigen Mobile aus der Verstand die übrigen Pole nur mehr unscharf erblickt. Was die Physiker gelernt haben, darf Gläubigen nicht als unzumutbar gelten. -

(A:) Sie haben es, im Gegenteil, leichter als die Physiker. Während die ihre gegensätzlichen Modelle mühsam aus Experimenten ableiten müssen, erfährt Gottes Gleichnis, der lebendige Mensch, in seinem Fingerbewußtsein all jene Sinnpole unmittelbar, so daß er an ihnen nicht zweifeln kann, so wenig sein Verstand ihr Ineinander begreift. (B:) Ja. Beschließen wir unser Gespräch deshalb mit einer anderen Einsicht von Chesterton. Die Ideologen aller Fronten warnt er: »Verrückt ist nicht, wer den Verstand verloren hat, sondern wer alles verloren hat außer dem Verstand.«

Mai 1999


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