Jürgen Kuhlmann

Dank an Sigmund Freud

Der Name Sigmund Freuds gehört zu den wenigen, die in die Alltagssprache eingegangen sind. Jeder kennt die Freudschen Versprecher: daß jemand sich verspricht, und dabei kommt eine geheime, verdrängte Wahrheit heraus, die viel wichtiger ist als das, was er sagen wollte. Da hat sein Unterbewußtsein sich wieder verraten, denken die anderen und bangen vor dem Moment, wo es ihnen ebenso ergehen wird. An solch kleiner Szene läßt sich die ungeheure Wirkung ablesen, die Freud auf die Menschheit ausgeübt hat. Denn noch vor hundert Jahren hat niemand gewußt, daß er ein Unterbewußtsein hat. Was heute selbstverständlicher Besitz einer erdumspannenden Zivilisation ist, war damals nur von wenigen geahnt.

Jemand könnte nun abwinken: Na und? Tatsächlich ist Sigmund Freud heute noch umstritten. Sein Werk, die Psychoanalyse, gilt manchen Zeitgenossen als unbeweisbar, gar als Scharlatanerie. Vor allem viele Christen haben etwas gegen jenen "ganz gottlosen Juden" (so nennt Freud sich selbst in einem Brief an seinen Freund Oskar Pfister, der evangelischer Pfarrer war). Hat der nicht die Religion eine "allgemeinmenschliche Zwangsneurose" genannt, die es zu überwinden gilt? Andere Christen halten es lieber mit jenem Pfarrer Pfister, der an Weihnachten 1925 an Freud schrieb: "Sie werden lächeln, aber ich spüre in Ihrer Nähe auch etwas von der Klarheit des Herrn." Aus drei Gründen, scheint mir, ist Sigmund Freud einer der Wohltäter der Menschheit.

Erstens hat er ihr den Schlüssel zum Keller des Seelenhauses verschafft, eben zum Unterbewußtsein (er selbst sagte lieber "Unbewußtes"), so können wir an die Schätze heran, die dort lagern, und auch an die gestörten Mechanismen; für deren Reparatur hat Freud uns brauchbare Werkzeuge geschaffen. Die haben sovielen Menschen geholfen, daß man nicht mehr von Scharlatanerie sprechen darf; freilich geht die Methode derart fein vor, daß sie eher Kunst als Wissenschaft ist.

Eine ganze Freiheitsdimension hat Freud uns erschlossen: was vor ihm als unabänderlich festgelegtes Schicksal erschien, gab er dem heilenden menschlichen Handeln zurück. Ehedem waren die Menschen ihren Konflikten und Komplexen hilflos ausgeliefert, konnten die nur als Realität hinnehmen, als Sache eben, mit der man zurecht kommen mußte. Dank Freud weiß man, daß die Zustände im Unterbewußtsein Tat-Sachen sind, Ergebnisse früherer Taten, seien das die unserer Eltern und Geschwister, seien es unsere eigenen Reaktionen darauf, und daß sie deshalb durch neue Taten zu anderen Sachen werden können. Weil das christliche "Heil" - seit Jesu Begegnungen mit Kranken - auch mit menschlichem Heilwerden zu tun hat, deshalb sollte ein Christ mutig jede Möglichkeit ergreifen, daß er durch achtsamen Umgang mit den Kräften seines Unbewußten doch nach und nach ein gesünderer (und folglich auch andere weniger krankmachender) Mensch werden kann.

Dabei muß es gar nicht um dramatische Krankheiten und die Hilfe teurer Therapeuten gehen. Auch kleine Macken schädigen das Leben, mit solchen können Menschen aber durchaus selbständig zurechtkommen, haben sie nur das Prinzip Tat-Sache einmal tief begriffen. Mancher Seelenmechanismus, der ohne Freud ein festgerostetes Wrack bleiben müßte, läßt sich mit etwas Psychoanalyse-Öl wieder beweglich und heil machen. Verdrängungen werden aufgedeckt, scheinbarer Unsinn zeigt sich plötzlich als anderer Sinn. Der peinliche Versprecher des karrierefixierten Managers beim Höhepunkt seiner Rede öffnet ihm hinterher die Augen über den Abgrund, in den sein ungebremster Aufstieg ihn hätte stürzen lassen ...

Zweitens hat sich die Einstellung zu den Kindern gebessert. Als die Menschen noch nicht wußten, wie entscheidend die Eindrücke der frühen Jahre für das ganze Leben eines Menschen sind, da ist man mit den Kindern oft arg rücksichtslos umgesprungen, weil einem gar nicht bewußt war, was man ihnen antat. Z.B. war es in besseren Kreisen vielfach Brauch, das Kind zunächst einer bezahlten Amme zu übergeben und erst nach ein paar Jahren ins Elternhaus zu holen. Die Kleinen sollten ja nicht verzärtelt werden. Auch heute werden Kinder herumgestoßen oder sonstwie mißhandelt, zunehmend aber mit schlechtem Gewissen. Wenn den Eltern die Größe ihrer Verantwortung für das seelische Wohl der kommenden Generation klarer ist als früher, dann ist das zum großen Teil das Verdienst von Sigmund Freud.

Drittens haben wir Heutigen ihm zu danken für unsere unbefangenere Einstellung zur Sexualität. Um es bildlich zu sagen: Die Göttin Venus der Antike war vom kirchlichen Herr-Gott allzusehr an den Rand gedrängt, ja grausam unterdrückt worden. In diesem Punkt hatte sich die Frohbotschaft des Evangeliums buchstäblich zur Drohbotschaft verkehrt, einem heutigen Jugendlichen sind jene höllischen Ängste, die man früher wegen "Unkeuschheit" ausstehen mußte, kaum mehr vorstellbar. Auf die Gründe dieser schlimmen Entwicklung können wir hier nicht eingehen, sie reichen weit zurück in vorchristliche Zeiten.

Sigmund Freud war der erste, der dieses alte Tabu gebrochen, die Sexualität den Dämonen entrissen und wieder zu etwas normal Irdischem gemacht hat, ja im Grunde zu noch mehr. Im Februar 1909 schrieb er an Pfister, "daß wir in der sexuellen Befriedigung an sich nichts Verbotenes oder Sündhaftes erblicken können, sondern sie als ein werthaftes Stück unserer Lebensbetätigung anerkennen. Sie wissen, unsere Erotik schließt das ein, was Sie in der Seelsorge 'Liebe' heißen, und will durchaus nicht auf den groben sinnlichen Genuß eingeschränkt werden." Wer so dachte, dem ist nicht die spätere gegensätzliche Fehlentwicklung anzulasten, die aus der vitalen Hochspannung der Sexualität einen unverbindlich-öden Konsumentenzeitvertreib machte, oder gar Lustprinzip und Leistungsprinzip zum Sexsport verschmorte.

Wie stellen wir uns als Christen zu Freuds Atheismus? Nun, auch große Menschen irren. Warum Gott sich diesem Mann nicht geoffenbart hat, ist beider Geheimnis, geht uns nichts an. Freuds Nein zum Gottesglauben sprechen wir nicht mit. Doch können wir auch hier von ihm lernen. Denn sein Unglaube trifft den wahren Gott gar nicht, vielmehr steht dieser jüdische Prophet sozusagen in einer Reihe mit denen des Alten Bundes. Auch sie haben die falschen Götter und Gottesdienste aufs schärfste angegriffen. Freud hat nicht nur unrecht: in allzu vielen Fällen ist das, was den Menschen als "Religion" ins Herz geträufelt wird, ob süß oder bitter, tatsächlich Gift. Gerade jene Geisteshaltung, die sich um die Jahrhundertwende in Wien Katholizismus nannte, war vielleicht doch nicht genau das, was Jesus sich als Gemeinde der Seinen vorgestellt hat ...

Aber lassen wir derlei Spekulationen, sie führen nicht weiter. Sigmund Freud hat gegen ein übermächtiges Tabu gekämpft und es besiegt. Schnürt uns vielleicht ein anderes Tabu die Luft ab? Muß derzeit nicht erröten, wer vom "Sinn des Lebens" zu sprechen wagt? Wo doch "jedermann weiß", daß es so etwas gar nicht gibt, sondern bloß Interessen, Kampf ums Dasein, Lobbies und zuletzt das Zerplatzen aller Illusion? Die Arroganz des Vordergründigen, wie sie bei der heutigen Erwachsenengeneration herrscht, ist ebenso idiotisch wie damals die viktorianische Prüderie. Am besten ehren wir die Großen der Vergangenheit, wenn wir in ihrem Geist das Unsere tun.


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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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