Jürgen Kuhlmann

Orientierung im Sinngewirr

Stellen wir uns einen Forscher vor, der in seinem Laboratorium arbeitet. Der Schreibtisch ist mit Blättern voller Formeln bedeckt, Apparate summen, Lämpchen blinken, auf heißer Spur geht es voran. Inzwischen ist es Nacht geworden, noch immer bleibt der Durchbruch aus. Schluß für heute. Draußen tief durchgeatmet und ein Blick hinauf zum Himmel. In funkelnder Pracht steht da ruhig Stern neben Stern. Ach, so habt ihr schon vor zweitausend Jahren auf Cäsar und seine Leute herabgeschaut und noch viel früher auf den Höhlenmenschen, wenn der vor seine Höhle trat. Und in weiteren zweitausend Jahren? Was wird bis dahin aus der Entdeckung geworden sein, die mich eben noch so umtrieb? Bestenfalls eine winzige Fußnote. Wer bin ich? Der Forscher? Dann gibt es mich noch nicht lange und bald nicht mehr. Oder bin ICH der Mensch, der zu den Sternen aufblickt? Dann gibt es für MICH weder Geburt noch Tod. Und selbst wenn unsere Erde einmal keine Menschen mehr trägt: bestimmt stehe ICH dann in ganz anderen Körperformen auf anderen Planeten unter einem ähnlichen Himmel und vernehme auf dieselbe Frage "wer bin ich?" dieselbe Antwort: ICH.

Was ist Mystik? Der Begriff wird verschieden definiert. Für die einen ist so gut wie jeder Mensch irgendwann ein Mystiker, andere meinen, daß echte mystische Erfahrungen sehr selten seien, wieder andere halten das Wort gar für inhaltlos. Bei dieser Sprachlage haben wir das Recht, uns auf jenen Sinn zu verständigen, den das Wort hier haben soll. Mit Mystik meine ich jene Einstellung, welche die Augen vor der Buntheit und Vielfalt der Welt "verschließt" (das heißt das griechische Wort myo), um den inneren Sinn stattdessen auf die reine Selbigkeit und Einheit "inseits" der mannigfachen Oberfläche zu richten. Dies ist die Mystik im weiteren Sinn, so gedacht ist tatsächlich jeder Mensch irgendwann ein Mystiker - falls er nicht völlig ins Tierische zurückgesunken oder zum totalen Fachidioten vertrocknet ist. Mystiker im engeren, selteneren Sinn ist dann, wer nicht nur seine Vernunft auf die reine Tiefe richtet, sondern aus ihr auch Antwort vernimmt, so deutlich, daß sein Leben sich ändert. Solche Erleuchtungen geschehen, daran läßt sich nach allen Zeugnissen, die uns vorliegen, nicht zweifeln, seit grauer Vorzeit bis zur Jahreswende 1952/53 für den UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld.

Bei einer mystischen Erfahrung lassen sich drei Etappen unterscheiden. Zuerst lebt der betreffende Mensch, wie wir alle, unbefangen im Vielen, hält dieses für das Eigentliche. In einer zweiten Etappe wird er von innen her durch das Eine überwältigt und so zum Mystiker. Das Viele erscheint ihm jetzt wesenlos, als gleichgültige Hülle des allein wichtigen Kerns. In der dritten Etappe erfüllt die Kraft des Kerns auch das Äußere, die Vielheit erhält teil an der Würde des Einen. Der ausgereifte Mystiker ist deshalb weit realistischer als die bloßen Realisten.

Als Gleichnis Gottes ist der Mensch geschaffen, deshalb kann jeder von uns die Struktur dieser absoluten Erfahrung im eigenen Bewußtsein wiederfinden. Wenn ich im Folgenden "ich" sage, verstehen Sie dabei bitte nicht mich, sondern sich selbst. Ich bin eine organische Vielheit. Mein Fuß spürt durch die Schuhsohle hindurch den Boden, mein Ohr hört Straßengeräusch, mein Auge sieht eine Wolke, meine Backe spürt den Wind. Jedes dieser Erlebnisse ist anders, sie alle - und manch andere, an die ich jetzt nicht denke - bilden das Insgesamt meines Lebens. In diesem Vielen halte ich mich auf (erste Etappe). Bis ich merke (zweite Etappe): nein, auf all das kommt es letztlich nicht an. Ich bin tiefer wirklich als alle diese Vollzüge. Sie könnten mir fehlen, ich könnte fußlos, taub, blind sein. Was bleibt, wenn ich mir jedes Einzelgefühl wegdenke?? Sehr einfach: ICH. Ich bin ich, erkenne und will mich, auch abgesehen von jeglichem besonderen Vollzug.

Solcher Durchbruch zum zugleich einen und allgemeinen ICH-Wesen aller einzelnen Ich-Erlebnisse bildet, im Kleinen, den mystischen Durchbruch im Großen ab, wenn ein Mensch aus dem Taumel der Vielheit herausgerissen und ins Eine des Ganzen versenkt wird. Ich lege meine Hand auf den Tisch und merke: Ich bin unfaßbar mehr als diese einzelnen Finger, ich bin ich. Scheinbar entgegengesetzt und doch kein Widerspruch dazu ist dann die dritte Etappe, die Ausstrahlung des Einen ins Viele: die Finger sind nicht nur sinnliche Einzelvollzüge, sie sind Organe meiner, ja selber ich. Das Auge, das die Wolken erblickt, bin ich, die vom Wind gestreichelte Backe bin ich. Es gibt keinen Gegensatz zwischen meinen Gliedern und mir.

Ja: Das Viele ist nicht das Eine (denn es kann dem Einen fehlen); das Eine ist unendlich viel wirklicher als das Viele, und dennoch ist das Eine das Viele und das Viele das Eine. Da stöhnt der Logiker, der Mystiker lacht. Und witzelt: die Katze kratzt mich am Finger, der Hund beißt nur den Finger ab, nicht mich. Bin ich also mein Finger oder nicht? Einem Computer läßt diese Sachlage sich nicht erklären, es ist ja aber auch keine Sach-, sondern eine Lebenslage.

Bezeichnen wir nun, einer klaren Sprache zuliebe, den Menschen der ersten Etappe, weil er sein Gemüt auf die vielfältige Welt ausrichtet, als Kosmiker; ihm steht in der zweiten Etappe der Mystiker gegenüber, der sich von der Welt ab und dem einen Sinnkern zuwendet. Solange beide Haltungen unreif sind, widersprechen sie einander. Der Mensch der dritten Etappe hingegen darf mit demselben Recht Kosmiker wie Mystiker heißen, er versteht die beiden anderen, während diese einander häufig verachten. "Und das Wort ist Fleisch geworden": Jesus ist die real-exemplarische Vereinigung des mystischen und des kosmischen Pols. Seit ihm sind bloße Kosmik wie bloße Mystik überholt, entsprechen nicht mehr der Fülle der Zeit.

Wenden wir diese Unterscheidung auf die drei trinitarischen Dimensionen an, so erhalten wir die sechs großen Weltanschauungstypen. Die kosmische Weise des Du ist die Religion, wie sie in den theistisch geprägten Kulturen vom Katecheten den Kindern vermittelt und von Rabbinern, Imamen und Pfarrern gesellschaftlich repräsentiert wird: Der Herr der Welt ist Gott; an Ihn soll jeder Mensch glauben und seinen Willen tun, darin besteht der Sinn des Lebens. Die mystische Weise des Du ist die Liebesmystik, bei der ein Herz vom persönlichen Gott ergriffen und entzündet wird, so daß es sich in Liebe zu Ihm verzehrt.

Die kosmische Weise des Ich ist der selbstbewußte Humanismus. Sein atheistischer Widerspruch zur Religion geschieht keineswegs nur aus Versehen oder weil die Religion ein falsches Gottesbild zeigte; er ist vielmehr notwendig. Der Verstand denkt in scharfen Alternativen, er kann nicht zugleich die menschliche Selbständigkeit und den riesigen Schatten des Herr-Gotts anerkennen. Allein die Vernunft vermag zu ahnen, wie das Ganze einerseits wirklich als ich, zum andern aber auch mir gegenüber leben will. Die mystische Weise des Ich ist jene SELBST-Offenbarung, die vor allem in Indien erblüht ist und alle Lebewesen, vom Grashalm bis zum weisesten Brahmanen, als Selbstverendlichungen des einzigen absoluten ICH erfährt. Wen dieser Strom irgendwann erfaßt hat, wem die ungeheure Proportionalgleichung (ICH das SELBST verhalte MICH zu mir, dieser Person, ähnlich wie ich, diese Person, zu mir, sofern ich in diesem Finger ein bestimmtes Sonderbewußtsein habe, nein: bin) einmal aufging und alle Entfremdung zerschmolz, der erinnert sich später an die Zeit, da dies geschah.

Die kosmische Weise des Eins ist jener rauschhafte Lebensschwung, wie er sich etwa im Fasching, bei Festen oder auf dem Kettenkarussell einstellt. Südländern fällt er insgesamt leichter als uns im Norden, Afrika und Lateinamerika gelten als seine besondere Heimat. Freilich wehren Afrikaner sich mit Recht dagegen, wenn ihnen nur diese Schublade zugewiesen wird, während die Rationalität europäisch heißt. Jede Rasse ist selbstverständlich zu beiden Weisen aller drei Pole befähigt. Trotzdem gibt es so etwas wie typische, einprägsame Bilder. Zu ihnen aber gehört eben der hingerissen hemmungslose Tanz afrikanischer Stämme und der Karneval von Rio - wie ebenso (um zur mystischen Eins-Weise überzugehen) der schweigend dasitzende Zen-Mönch, er überläßt sich nicht dem bunten Taumel des Vielen, sondern bleibt geduldig der Offenen Weite des ungegenständlich Einen zugewandt.

Jede dieser absoluten Fühlweisen kann eher hell oder eher finster erlebt werden; jede spannt ihr eigenes reiches Sinn-Universum aus und hat die eindrucksvollsten Gestalten hervorgebracht. Mit irgendeiner von ihnen verglichen, muß dieser Frieden stiftende Ansatz als arm, schematisch, abstrakt erscheinen. Das ist unvermeidbar, eine Metatheorie kann die pralle Lebendigkeit echten Lebens nie selbst erreichen, sondern nur insofern zu ihr helfen, als sie den Übergang von der einen Sinnwelt zur anderen erleichtert, Angst vor fremden Wahrheiten abbaut, bloße Toleranz oder Sinntouristik zu herzlichem Respekt vertieft.

Sehen wir uns jetzt die Gräben zwischen den kosmischen Ideologien des näheren an. Solange jede der drei sich als einzige letztgültige Sachwahrheit ausgibt, bleibt ihr Streit unversöhnbar; über diesen beschränkten Standpunkt sind wir hinaus. Daß die drei Sinnweisen, als jeweilige Lebenswahrheiten begriffen, sich miteinander vereinbaren lassen, davon sind wir im Prinzip überzeugt. Jeder Widerspruch zwischen ihnen beruht auf einem Mißverständnis, die Quelle dieser Mißverständnisse aber ist eben die Verwechslung von Sach- und Lebenswahrheit.

Wenn z.B. die Frage tatsächlich hieße, ob es einen Gott gibt oder nicht, dann hätte allerdings nur entweder das Du recht oder das Ich. So gestellt, als scheinbar eindeutiges Sachproblem, ist die Frage aber falsch. Mögen beide Streiter noch so sehr von der Eindeutigkeit ihrer Worte überzeugt sein, irren sie dennoch. Denn der Dialog vollzieht sich zwischen Lebenswahrheiten, die zueinander sozusagen senkrecht stehen, einander also nicht eigentlich, je in ihrer eigenen Kraft, widersprechen können. Der Fromme meint mit "Gott" Dich, die mich total bejahende LIEBE, den weltüberlegenen guten Herrn des Ganzen; das religiöse Auge ist vom Licht dieser Sonne erfüllt und sieht in jeglicher Helle ihr Licht. In der rationalen Kühle des Ich hingegen heißt "Gott" ein großer Jemand, der einerseits nirgends ist, anderseits doch zur Wirklichkeit gehören soll, in Wahrheit ist er die Projektion des Überich an den Himmel. Sein absolut fordernder Blick verfinstert die Welt. Ein Freund beneidete in seiner Jugend jedes Suppenhuhn, weil es keine unsterbliche Seele hatte und nur in den Topf, nicht zur Hölle wanderte, wohin er selbst unterwegs war, weil er seine Nächsten nicht liebte wie sich selbst, Beweis: in einer Welt des Elends aß er teurer als nötig und ließ so andere verhungern, denen ein Scheck geholfen hätte. Heute ist er tüchtig in seiner Wissenschaft und froh, jenen "Gott" los zu sein. Ein Frommer, der ihm zu widersprechen wagt, lese Luk 11,46 und klopfe an die Brust.

Eine andere falsche Frage zieht einen Graben zwischen Ich und Eins. Sie heißt: Braucht der Mensch Aufklärung oder große Gefühle? Natürlich braucht er beides; da beides sich aber nicht zugleich ausdrücken läßt, deshalb giften Aufklärer und New-Age-Apostel sich gegenseitig an, die Kultbücher der einen Seite erfahren bei der anderen nur Spott. Ebenso hat (beim Graben zwischen Eins und Du) auch die wechselseitige Verachtung von Strengfrommen und Einheitsschwärmern teils recht, teils unrecht. Recht, weil bei einem Ebenbild der dreieinigen Fülle jegliche ideologische Einseitigkeit tatsächlich eine Schande ist, "wandle vor mir und sei ganz," spricht Gott (Gen 17,1). Doch ist solche Ganzheit uns Fragmenten nur so möglich, daß wir zwischen gegensätzlichen Ausdrucksweisen abwechseln, deshalb ist die Verachtung jeder Dimension ihrerseits auch einseitig, verächtlich und falsch. Wahr sind sie nur ineinander, sagbar ist dieses Gefüge aber eben nur in abstrakter Metasprache. Sobald jemand wirklich auf einer Dimension lebt und von ihr aus spricht, verschwindet die Wahrheit der anderen beiden Weisen aus seinem Reden: "Alle Menschen sind Lügner" (Ps 116,11; Röm 3,4).

Das Verhältnis der drei Mystiken zueinander sei hier nur gestreift. Wer von einer gepackt ist, weiß sich zuinnerst mit allen und allem verbunden, nimmt keinen Gegensatz mehr als letztgültig. Sobald er seine Erfahrung ausspricht, ist er freilich versucht, die eigene Weise für die eigentliche und die beiden anderen für Mißverständnisse zu halten; denn die Dreifaltigkeit des Absoluten ist ein Glaubensgeheimnis, das den Verstand auch des Mystikers übersteigt. Je nach dem, welche Dimension ihm aufblitzt, erfährt jeder ja tatsächlich absolut Anderes und nicht nur, wie er fast notwendig meint, bloß eine andere endliche Färbung. Die Verwirrung nimmt zu, wenn im Schoß der einen geistlichen Tradition eine ihr fremde Dimension sich offenbart. Dann gibt es jüdische Einheitsmystik, der das Du versinkt, oder ein Brahmanensproß verläßt den Lotussitz und tanzt vor seinem Gott oder es kommt zu sonstiger Ketzerei und Spaltung, die allein vom dreieinigen Ja in der Tiefe überwunden werden kann.

Was folgt, wenn das Gesagte im Prinzip stimmt, daraus für Sie persönlich? Sie verstehen, daß meine Antwort nicht sehr konkret sein kann. Doch läßt sich einiges sagen. Egal z.B. ob Sie Ihren Kinderglauben bewahrt oder verloren haben, ist Ihnen wohl aufgegangen, daß die christliche Wahrheit umfassender ist als er. Das heißt: Das Bewahrte gehört vertieft und ergänzt, das Verlorene verlangt nicht nach Rückgewinn desselben, noch weniger nach "ersatz" (wie die Franzosen sagen) im Sinn von Malzkaffee und Kunstleder. Richten Sie sich nicht nach den Werbesprüchen professioneller Sinnanbieter, sondern befragen Sie Ihren ganz persönlichen Durst. Widerstehen Sie den Billigreißern der Szene, halten Sie lieber die innere Leere drogenlos aus. "Die Geduld erreicht alles," wußte Teresa. Wir dürfen vertrauen: Wer sein Herz von Tand und alten Lasten entledigt, dem strahlt eine absolute Dimension um die andere auf. Alles hat seine Zeit. Das Ganze vollzieht sich in mir, stolz straffe ich mich; das Ganze tritt mir gegenüber, demütig werfe ich mich vor DIR auf die Knie; das Ganze birgt mich, friedlich lasse ich Dich und mich los. Leibhaftiges Sakrament der belebenden Drei-Einheit ist die gelingende Ehe. Auch in ihr verschränken sich alle drei Sinn-Achsen. Unsere Einheit ist der Glücksborn, aus dem jedes von uns lebt; je nach Verantwortungsbereich soll mal ich dir, mal sollst du mir gehorchen; jeder von uns gönnt dem anderen herzlich sein unauflösbar besonderes Ich. Sobald die Reflexion sich eines dieser Momente vornimmt, sind die anderen fürs Denken verschwunden, wunderbarerweise aber nicht fürs Leben. So lernt das Denken nach und nach, auf Mono-Durchblickerei gern zu verzichten.

[Aus: Friedliche Spannung (1992)]


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