Jürgen Kuhlmann

Vorsicht Splitter!

Manchmal, wenn ich jemanden über die Kirche jammern höre, fällt mir ein "surrealistischer" Witz aus den Fünfzigern ein: Wie ein Mann im Café ein Glas Tee bestellt, den Tee über die Schulter schüttet und das Glas aufißt. Bis auf den Henkel, den legt er auf den Aschenbecher. Zahlt, geht. Ein Gast sieht entsetzt zu und fragt den Kellner: Verstehen Sie das? Nein, mein Herr, antwortet der, ich verstehe es auch nicht. Wo doch der Henkel das Beste ist!

Natürlich braucht der Wein der christlichen Heilsbotschaft Gefäße, sonst kann keiner ihn trinken. Ohne Faß, Flasche oder Glas kein Wein. Und natürlich sollen die Gefäße möglichst sauber sein. Wessen Glas dreckig ist, helfe mit, es zu spülen, oder suche ein reineres. Auf jeden Fall trinke sie oder er den Wein. Esse aber, um Himmels willen, nicht das Glas auf! Dazu ist es nicht da. Wem im Mund Splitter knirschen und aus den Lippen Blut rinnt, hat das Glas mißverstanden.

Die Kirche, an die der Christ glaubt, sie gehört zum Wein und bestimmt dessen Geschmack: es ist die stärkende, tröstliche Heilsgemeinschaft durch Jahrhunderte und über Völker hin, die sich offenbart, wo zwei oder drei in Jesu Namen beisammen sind. Der Kirchen-Apparat jedoch ist die Kirche nicht, ihn hat sie bloß; nicht an ihn glaubt der Christ, sondern durch ihn oder trotz seiner, er ist "nicht zum Verzehr bestimmt", wie es leider nur auf Orangenschalen heißt (die eh' kaum wer ißt) und nicht auf unverdaubaren Verlautbarungen "der Kirche" ...

Mancher braucht freilich Ballaststoffe. Wer andere weiß, nehme einen tiefen Heilsschluck, erfülle sich mit der allumfassenden Liebe Gottes und lasse das Glas getrost stehen. Wozu es zornig zerschmettern? Auch in den kommenden Jahrtausenden wollen die Menschen noch trinken.

Dezember 1991

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Siehe auch des Verfassers Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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