Jürgen Kuhlmann
Begeistertes Wiedersehen
Hoffentlich ein Gleichnis
"Einen mußt du mir geben, Bruder. Den da!" - "Laß den Hammer fallen. Sofort. Sonst muß ich schießen." Es ist mir ernst. Das merkt er. Verächtlich schnaubend läßt er seinen riesigen Hammer los - und spuckt mir voll ins Gesicht. Ich wische das Zeug ab und sage: "Geht in Ordnung, Bruder. Ich verstehe dich. Aber ich bin für diese Männer verantwortlich. Ich darf dir keinen geben."
Während des großen Luftangriffs auf Frankfurt am Main mußte ich einen Zug abgeschossener alliierter Flieger durch die brennende Stadt führen. Nie vergesse ich, wie die Männer einmal, während ringsum die Bomben ihrer eigenen Leute einschlugen, an einer Wand lehnten und langsam miteinander sprachen, was sie als Kinder gelernt: Our Father who art in Heaven, hallowed be Thy Name ...
In einer Vorstadt sahen wir ein kleines Haus in Flammen. Davor stand ein Mann, ein riesiger Kerl, anscheinend ein Schmied, denn er hatte einen gewaltigen Hammer in der Hand. Mit dem stellte er sich mir in den Weg, zeigte auf das Haus und keuchte: "Schau, Bruder, da drin verbrennt meine Frau. Und mein Kind. Deine Leute da haben das getan." "Die nicht," sagte ich, "die haben genau soviel Angst vor den Bomben wie wir." "Macht nichts, aber ihre Freunde droben. Einen mußt du mir geben. Den da." Schon wollte er einen kleinen Amerikaner packen und mit seinem Hammer totschlagen. Entsetzt schaute der mich an. Es blieb mir nichts übrig als meine Pistole zu ziehen.
Die Spucke im Gesicht war unangenehm aber nicht schlimm. Ich hätte tatsächlich geschossen; mit Gefangenen korrekt umzugehen war ja damals fast der einzige Stolz, den wir noch hatten. Und lebensnotwendig für die Zeit nach dem Krieg. Jede Untat gegen ihre Kriegsgefangenen würden die Sieger streng ahnden.
Es folgte meine eigene Gefangenschaft in Frankreich, die harte Aufbauzeit. Erst in den siebziger Jahren hatte ich endlich meinen richtigen Beruf gefunden: Reiseleiter und Münchner Stadtführer. Eines Tages steige ich in meinen Bus mit amerikanischen Touristen, greife zum Mikrofon und stelle mich vor: "My name is Henry." Aufgeregt stürzt da von hinten her ein Herr auf mich zu: "Henry! Wo warst du im Krieg? Frankfurt?" "Ja." "Wo warst du bei dem großen Angriff?" Er war es, der kleine Kriegsgefangene, den ich vor dem Hammer bewahrt hatte. Die Freude könnt ihr euch vorstellen. Manches Fest haben wir während dieser Tour gefeiert.
Soweit der Erzähler, seit vier Jahren ist mein Vater tot. Der Nacherzähler der wahren Story, der von ihr schon als Kind, lange vor der Schlußpointe, immer tief ergriffen war, überläßt (was bleibt ihm übrig?) das Urteil dem Leser. Interessanter Zufall? Immerhin war mein Vater - kein Wunder - der Spezialist für US-Veteranen in München.
Als Christ lasse ich mir von der Begebenheit schlicht die Hoffnung stärken. O möchte es DANN ähnlich sein! Wenn die Unzähligen, für die wir nichts tun konnten/wollten, und all die, denen wir Unrecht taten, uns auf unsere Reue hin in Gottes Namen verziehen haben, dann könnte jede Wiederbegegnung mit solchen, denen wir nutzen durften, sich als eine Episode des Großen Festes herausstellen.
Die Christenheit sollte darum ihrer Rede vom "Jüngsten Gericht" die ursprüngliche Ausgewogenheit zurückgeben. Tatsächlich hat von vier Sinnpolen einer die drei übrigen verdrängt. Gewiß haben die Urchristen sich, wie wir, vor dem Endgericht gefürchtet, wo wir "über jedes unnütze Wort Rechenschaft ablegen müssen" (Mt 12,36). Solche Sorge wurde ihnen jedoch ausbalanciert von dem "zuversichtlichen Freimut" (1 Joh 4,17; "Freudigkeit" bei Luther), als welcher mündige Liebe darauf hofft, daß Gott unser Übles zwar hin-, eben dadurch aber unser Gutes herrichten wird, ähnlich wie jemand sein Fahrrad richtet, indem er Dreck und Rost entfernt. Dies sind die beiden Passiv-Pole des Gerichts.
Anders als wir kannten die frühen Christen auch die aktiven. Als Paulus von einem Zivilprozeß zwischen Christen erfuhr, mahnte er die Gemeinde: "Wißt ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? Und wenn durch euch die Welt gerichtet wird, seid ihr dann nicht zuständig, einen Rechtsstreit über Kleinigkeiten zu schlichten" (1 Kor 6,2)? Ich stelle mir das göttliche Richterauge deshalb als unendliches Facettenauge vor; jeder Mensch ist nicht nur dessen erblicktes Objekt sondern auch sein mitblickendes Teilsubjekt. Als Mitinhaber des göttlichen Lebens werden wir auch mitrichten. Und dabei nicht nur über solche urteilen (hoffentlich mehr her- als hinrichtend), die uns Böses taten, sondern auch allen Helfern und Wohltätern aus tiefstem (weil vergottetem) Herzen danken.
In diesem Sinn sei jene erstaunliche Begegnung im Bus allen ein aufmunterndes Gleichnis, die einem verlorengegangenen Menschen gern nochmals danken möchten. Du wirst es können. Und tust gut daran, das ewige Fest jetzt schon Tag um Tag achtsam vorzubereiten. Auch in "nachchristlicher" Zeit und auch, falls du die Osterbotschaft vom Großen Wiedersehen mit dem Auferstandenen nicht glauben kannst/willst. Daß sie vielleicht ja doch stimmt - warum soll sie einem kritischen Sinn unwahrscheinlicher vorkommen als jene Wiederbegegnung der zwei Weltkriegssoldaten Jahrzehnte danach? - solche unbeweisbare Hoffnung mag auch in ein sog. "ungläubiges" Herz einen elektrisierenden Funken senden. In Wahrheit ist es ja gar nicht ungläubig, sondern anders gläubig, gläubiger vielleicht als manches selbstgewiß fromme Gemüt, das Gott und Christus fortwährend im Munde führt sowie in der Dimension kirchlicher Bravheit einen hohen Wert erreicht, nicht jedoch beim harten Einsatz für das Gute. In vielen Richtungen kann jemand Jesus nahe oder fern stehen. Anders als Ihm und meinem Vater hat man mir noch nie ins Gesicht gespuckt.
September 2001
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