Jürgen Kuhlmann
Unsere Heiligen
Organe des Heiligen Geistes
Kann ein Blick ins Wörterbuch glücklich machen? Ja, z.B. einen Schüler nach der Schulaufgabe. Kann ein Blick ins Wörterbuch aber auch zu einem Schwall tiefer geistlicher Freude führen? Das klingt unwahrscheinlich. Und doch ist es mir so ergangen.
Für ein Mystikerbuch soll ich Texte des Ostkirchen-Heiligen Gregor Palamas übersetzen. Ehrenvolle Aufgabe: Schon über 600 Jahre ist er tot, auf deutsch aber hat seine Gedanken noch niemand nachgedacht - oder doch? Was wissen wir von den verborgenen Begegnungen der Geister! Gedruckt jedenfalls gibt es den zu übersetzenden Text bisher nur auf Griechisch und Französisch.
Die Heiligen, lese ich da, seien "órgana tou hagķou Pneśmatos". "Órganon" heißt "Werkzeug". Werkzeuge des Heiligen Geistes sollen wir sein. Eine schöne Idee, gewiß. Vielleicht darf ich zuweilen ein Hammer sein, mit dem Gottes Geist einen Nagel einschlägt, daran ein hilfreiches Bild hängt. Oder die Zange, mit der ein störender Nagel entfernt wird.
Im französischen Text heißt es "instruments". Dabei kommt mir Feineres in den Sinn, etwa der Füllhalter, mit dem ich schreibe: Die Botschaft, die wir vermitteln, ist nicht unsere, wohl die Kleckse, die sie manchmal unleserlich machen. Vor allem aber kommt vom griechischen "órganon" ja auch unser Wort "Orgel". Musikinstrument des Heiligen Geistes zu sein - kann es ein edleres Selbstverständnis des Christen geben?
Ja. Und deshalb bin ich mit dieser Übersetzung unzufrieden. Werkzeug, Instrument, das ist weithin etwas Äußerliches. Ein Hammer und sogar die prächtige Orgel sind im Grunde nichts als tote Apparate. Selbst fühlen sie nichts, sind reinweg nur Mittel zum Zweck. Derart ungeistlich kann der heilige Gregórios über uns nicht gedacht haben, das fühle ich. Kein Apparat will ich sein, nicht einmal Gottes Apparat. Sondern etwas Lebendiges.
Eine kühne Übersetzung böte sich an. "Organ" heißt auf deutsch ein beseeltes, dem Ich innerlich verbundenes Werkzeug. Kann "órganon" aber auch "Organ" heißen? Kein Zweifel, unser Wort leitet sich von dem griechischen her - hat das griechische Wort "órganon" aber auch diese Bedeutung gehabt? Immerhin gibt es in der Sprachgeschichte vielfältigen Sinnwandel. Ohne philologische Überprüfung wage ich diese Verdeutlichung nicht.
Deshalb der Blick ins Wörterbuch. Und, o Freude: "Órganon" heißt "Werkzeug, Musikinstrument" und auch "Sinneswerkzeug, Organ". Also schreibe ich getrost: Die Heiligen sind Organe des Heiligen Geistes. Und werde mir klar - während ich meinen Blick vom Schreibtisch zum blauen Winterhimmel hebe -, daß jetzt nicht bloß ein hoch "organisiertes" Protoplasma gewisse optische Reize in seinem Gehirn widerspiegelt. Nichts gegen die Wissenschaft, aber ihr "Instrumentarium" reicht nicht aus. Sondern das göttliche ICH in Person sieht in mir von seiner unendlichen Fülle ab und konzentriert sich auf meine Welt, ähnlich wie ich jetzt von anderem absehe, was auch mein ist (die Finger ertasten nichts, die Nase achtet nicht auf die Düfte), und mich als Auge voll auf die schöne Wolke dort konzentriere.
Leider lesen die Menschen nicht, was dasteht, sondern meist nur, was sie sowieso schon wissen. Andernfalls müßte diese aufregende Übersetzung den Leser geradezu elektrisieren. Denn vermutlich hat man ihm weder im Religionsunterricht noch in einer Predigt verkündet, daß er in aller Wahrheit ein Fühl- und Wirkorgan des Gottesgeistes ist. In der lateinischen Westkirche gilt dieses Verständnis als nahezu unerhört.
Einige Zeilen weiter unten bestätigt Gregor Palamas meine gewagte Deutung ausdrücklich, und zwar zitiert er eine Autorität, die auch in der Westkirche hoch geachtet wird. So schreibt der Kirchenvater Basileios: "Wie die Sehkraft im gesunden Auge, so ist die Energie des Geistes in der gereinigten Seele." Und mir wird klar: Durch unsere Heiligen ist Gott am Wirken.
Veröffentlicht in "Geist und Leben" 59/1986, 428 f.
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