Jürgen Kuhlmann
Rechtfertigung:
Geschenk in beiden Händen
Zum Streit um die
»Gemeinsame Erklärung«
In Glaubensfragen ist Einigkeit etwas Gutes, Konfliktbereitschaft auch. Lassen sie sich verbinden? Ja: wenn beide Seiten anerkennen, daß jede Glaubenswahrheit in sich gespannt ist.
Christen müssen den Sprung schaffen aus verständigem Alltags- oder Wissenschaftswissen hin zu dem ganz anderen Verstehen, das der glaubenden Vernunft eigen ist. Denn diese hat es stets mit Gott selbst zu tun, dem unbegreiflichen Geheimnis. Weil Es sich offenbart hat, kann und muß die Kirche es in Sätzen weitersagen, nur so können Menschen erkennen. Glaubbare Sätze haben jedoch eine prinzipiell andere Struktur als wißbare; während diese dem Verstand eindeutig verstehbar sind (»Moskau liegt nicht am Tiber«), ist jeder Glaubenssatz nur in dem Maße wahr, wie er als polare Teilaussage innerhalb eines ihn ausbalancierenden Sinnzusammenhangs gemeint und verstanden wird. Weil gelebter Glaube (einer Person oder Gemeinde) diesen göttlichen Sinnzusammenhang unausdrücklich aber wirksam mitvollzieht, deshalb macht er jede bestimmte Glaubensaussage wahr; ihre Verwiesenheit auf polar wahre Gegen-Sätze wird meistens gar nicht bewußt. Einigkeit herrscht.
Anders, sobald es zwischen Glaubenden zum Konflikt kommt. Bei Martin Luthers umstürzender Einsicht brach eine Glaubenswahrheit, die bisher im Gesamtkontext implizit geblieben war (»Rechtfertigung allein durch den Glauben«) plötzlich in den Vordergrund erst seines Bewußtseins durch und erwachte dann in seinen evangelischen Glaubensgenossen. Weil ihre Vereinbarkeit mit den damals vorherrschenden Gegen-Sätzen (etwa: »Wenn ich die Liebe nicht hätte, wäre ich nichts«) dem Verstand unbegreiflich ist, spaltet seither ein tiefer Riß die Christenheit; denn auf das nötige Unionskonzil warten wir noch.
Oder findet es gerade statt? Damit sind wir beim Thema: der umstrittenen »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre«. Worum geht es? So brisant ist diese Kirchensache geworden, daß sich auch die weltliche Presse ihrer annimmt:
»Die römische-katholische Kirche und der Lutherische Weltbund, Spötter sagen: der große Vatikan in Rom und der kleine Vatikan in Genf, führen seit einiger Zeit Gespräche mit dem Ziel, die Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts zu mildern ... Aber - und just hier fängt der Streit an - geht das überhaupt, ohne das theologische Denken Martin Luthers zu entschärfen, ohne ihm die Spitze zu nehmen? Und ohne die Identität und das Bekenntnis der lutherischen Kirchen abzuschleifen?« [Robert Leicht, DIE ZEIT v. 29.01.1998]
Am selben Donnerstag erschien in der FAZ ein Protestvotum von 141 protestantischen Theologieprofessoren: »Kein Konsens in der Gemeinsamen Erklärung«. Viele evangelische Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes hingegen, darunter die bayerische und die österreichische, haben die Gemeinsame Erklärung offiziell angenommen, nicht so die dänische. Ein Glaubensstreit tobt innerhalb der evangelischen Kirche - was können theologische Nicht-Profis aus ihm lernen? Jede Glaubens-Frage geht ja alle Christen an. Sehen wir deshalb von all dem hochgescheiten Staub ab, den derlei Kämpfe aufwirbeln, und fassen wir die zentrale Frage in den Blick.
Packend übersetzt Robert Leicht die Wahrheit Luthers in zeitgenössisches Denken: »Zum einen wird der Mensch aus dem Leistungsdruck und Erfolgszwang entlassen, sich im Letzten ständig selber zu rechtfertigen, sein Dasein zu legitimieren - vor sich, vor Gott und der Welt; er kann vielmehr einfach da sein. Zum anderen aber wird ihm, weniger gemütlich, die Illusion durchstrichen, er könne diese Selbstversicherung - ganz Erfolgsmensch, der er ist oder doch ganz gerne sein will -, wo es ihm denn in den Kram paßt, ganz hübsch alleine erreichen ... Wenn der Mensch mehr, ja wesentlich etwas anderes ist als die Summe seiner Taten und Untaten (Eberhard Jüngel), dann erst gibt es eine von Menschen nicht anzutastende Menschenwürde ... Und warum gibt es nun darüber Streit?«
Weil, solange nur dies gemeint würde, der Satz auch heißen könnte: Der Mensch ist gerechtfertigt kraft seines Menschseins. Das aber ist gerade nicht die christliche Botschaft. Sondern auf den Glauben kommt es an. Und was heißt Glauben? »Sich als angenommen Annehmen« (Paul Tillich). Der Mensch, von Gott aus dem Abgrund des Nichts geholt und stets vom Schwindel zum Rückfall verlockt, gleicht einem hilflosen Kletterer am Seil der Bergwacht. Keinen Schritt kann er tun. Also nichts? Doch: Er kann das Seil kappen. Indem er, zum Beispiel, Luthers Hauptsatz mißversteht und »Herr, ich glaube« trällernd einen Mitmenschen in die Verzweiflung treibt. Liegt das Heil also doch an Werken? Oder kommt es »teils aus Glauben, teils aus Werken« (Ernst Käsemann)? Nein, ganz und allein aus Glauben.
Ob jemand aber wirklich glaubt oder nur vermeintlich, (katholisch gesprochen:) ob sein Glaube als Liebe lebendig ist, diese Frage stellt sich laut der Gemeinsamen Erklärung (26) auch »lutherischem Verständnis: Im Glauben vertraut der Mensch ganz auf seinen Schöpfer und Erlöser und ist so in Gemeinschaft mit ihm. Gott selber bewirkt den Glauben, indem er durch sein schöpferisches Wort solches Vertrauen hervorbringt. Weil diese Tat Gottes eine neue Schöpfung ist, betrifft sie alle Dimensionen der Person und führt zu einem Leben in Hoffnung und Liebe. So wird in der Lehre von der "Rechtfertigung allein durch den Glauben" die Erneuerung der Lebensführung, die aus der Rechtfertigung notwendig folgt und ohne die kein Glaube sein kann, zwar von der Rechtfertigung unterschieden, aber nicht getrennt.«
»Der vermeintliche Konsens ist bei näherem Hinsehen eben doch nur ein fauler Kompromiß«, schreibt die evangelische Journalistin Heike Schmoll am 28.12.1997 in der FAZ. Nun: Ob eine Übereinkunft fauler Kompromiß sei oder heilsamer Konsens, das läßt sich nicht ihrem Wortlaut entnehmen, hängt vielmehr davon ab, wie man ihn versteht. Meinte man, den Gegensatz beider Positionen in eine einheitliche mittlere Position verwandelt zu haben, mit der beide Seiten sich (unter Bauchschmerezen) abfinden können: das wäre ein fauler Kompromiß. Gegen ihn steht das Wort der Schrift: »Daß du doch kalt wärest oder heiß! Da du aber lau bist und weder kalt noch heiß, will ich aus meinem Mund dich speien« (Offb 3,16). Weil es bestimmt Gemüter gibt, die eine unangefochtene »Gemeinsame Erklärung« der großen Kirchen so lau (und folglich vom Glauben gar nichts) verstehen würden, deshalb ist der Professoren Protest wichtig.
Er wird übrigens aus extrem rechtskatholischer Ecke beklatscht: »Eine Einheits-Deklaration aber, die nicht in der Wahrheit ruht, sondern in äußerlichen Formelkompromissen, würde verheerende Folgen haben: Sie würde bei Katholiken wie Protestanten, Christen wie Nichtchristen den Eindruck hervorrufen, daß es auch der katholischen Kirche nicht mehr um die Wahrheit gehe, daß die in Trient und anderswo feierlich definierte Glaubenslehre eine beliebig manipulierbare Manövriermasse sei, "Wahrheiten" mit Halbwertszeit und Verfallsdatum.« [Im Internet gefunden]
Heilsamer Konsens ist eine Übereinkunft hingegen dann, wenn der Gegensatz beider Positionen bejaht wird, nicht mehr als Streitgrund jedoch, sondern ähnlich dem Gegensatz zweier Stereo-Lautsprecher oder jenem Gegensatz bei einem Gespräch: »Welch schöner Sommerabend!« - »Also für mich ist das ein Wintermorgen!!« -»Einer muß unrecht haben«, meint ein Dritter, unrecht hat aber nur er; denn man telefoniert zwischen Bayern und Neuseeland. Entscheidender Unterschied zwischen Geographie und Theologie ist freilich der, daß beim Erdball unser Verstand den größeren Kontext begreifen kann, so daß nach Aufklärung des Mißverständnisses (es handle sich um ein Ortsgespräch) Streit unmöglich ist. Nicht so beim Glauben. Je intensiver ein Christ sich in die Glaubensstandpunkte beider Seiten hineindenkt, um so schmerzlicher wird ihm klar, daß deren Vereinbarkeit nur liebend zu hoffen, keineswegs aber zu begreifen ist. Nur dank ausdrücklicher »docta ignorantia« können wir die »coincidentia oppositorum« ahnend anerkennen.
Der Sache nach bejahe ich sowohl die Behauptung der Gemeinsamen Erklärung, es bestehe »zwischen Lutheranern und Katholiken ein Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« (40) [weil beide Mono-Signale miteinander stereo zusammenstimmen] als auch die Gegenbehauptung, die der Professoren-Protest immer wieder einhämmert: »Kein Konsens wurde erreicht« [weil beide Mono-Signale nur gegeneinander stereo, d.h. göttlich wahr sind, nicht aber ihre flache Mitte dann, wenn beider Seiten Apparatschiks einträchtiglich den Mono-Knopf drücken].
Wenn Robert Leicht es unternimmt, »die Probleme auf den wesentlichen Punkt zu konzentrieren«, so tut er dies zwar auf ebenso verständige wie verständliche Weise, doch gerade nicht so, wie es der gläubigen Vernunft aufgegeben ist: »Wenn die katholische Kirche und die lutherischen Kirchen die Spaltung des 16. Jahrhunderts durch Lehrverständigung überwinden wollten, müßten sie sich ... Luthers Einsicht entweder gemeinsam zu eigen machen oder sie gemeinsam um ihre radikale Pointe bringen.« Ich hoffe: Sie können sich, drittens, darauf einigen, eben den unaufgebbaren Gegensatz ihrer Glaubens-Ausdrücke als gottgewollte Verdeutlichung des in sich gespannten gemeinsamen Glaubens-Vollzugs zu achten und weiterhin zu leben.
So war es, genau besehen, bei jedem Beschluß jedes Konzils. Sogar beim christlichen Hauptdogma der Drei-Einigkeit wird in einem unbegreifbaren Doppel-Satz ein Widereinander von Perspektiven unbegriffen zugleich auseinander- und zusammengehalten. Augustinus räumt ein, daß Gott, wie ein Sein, so auch eine Person ist; von drei Personen sprechen wir nur deshalb, »weil wir wollen, daß wenigstens irgendein Wort die Dreiheit bedeute, damit wir auf die Frage "quid tres?" nicht ganz und gar schweigen müssen, obwohl wir bekennen, daß es drei sind"« (De Trin. VII 6 11). Ob es irgendwann einen ähnlich unauslotbaren Doppelsatz auch bei der Rechtfertigungsfrage geben wird, so daß dann alle Christen (in der nächsten Generation auch die Professoren) sich sprachlich einig sind? Das zu wissen tut nicht not.
Was auf jeden Fall verbessert gehört, ist die Begrifflichkeit der Gemeinsamen Erklärung. Nein, es geht bei diesem konfessionellen Widerspruch wahrlich nicht bloß um die »verbleibenden Unterschiede in der Sprache, der theologischen Ausgestaltung und der Akzentsetzung des Rechtfertigungsverständnisses« (40). Diese Sprache ist verräterisch: Verbleibend seien die Unterschiede, noch verbleibend wohl, aber irgendwann, wenn wir noch gescheiter werden, kriegen wir die schon weg. So ist es nicht! Nicht Oberflächenakzente im Gegensatz zu den gemeinsamen Grundwahrheiten halten uns auseinander, sondern polare Gegensätze, die in Gott selbst (nämlich der drei-einen Spannung) gründen und dennoch zugleich miteinander eins sind. Dafür hat der Schöpfer uns im Stereo-Klang des Orchesters, im überfarbig-einfachen Sonnenlicht und auch in der gegensatzreichen Einheit eines Familienbewußtseins hilfreiche Gleichnisse geschaffen. Oder ist die Weihnachtsstimmung jeder konfliktbejahenden Familie nur ein fauler Kompromiß?
Das nicht, mag jemand einwenden; trotzdem sei das vorgeschlagene »Stereo-Denken« unnütz; denn entweder setze es sich durch oder nicht. Wenn ja: dann würde die protestantische wie die tridentinische Spitze abgeschliffen; statt mitreißender Glaubensgestalten bliebe nur mehr jenes lau-bürgerliche Christentum, das tatsächlich die Gemeinden prägt, wo ja fast niemand diesen Streit überhaupt versteht. Ein Friedensvorschlag aber, der sich nicht durchsetzen darf, - wie soll man so etwas ernst nehmen?
Nun: Die Kategorie »Durchsetzung« ist mehr weltlich als christlich. Hat Christus jenen Frieden zwischen Juden und Heiden, der er ist (Eph 2,14), real durchgesetzt? Nein, die Kirche ist ein Drittes geworden. Hat Erasmus die Kirchenspaltung verhindert? Nein, doch steht er am Beginn der ökumenischen Bewegung. Auch das christliche Stereo-Denken wird sich nicht so durchsetzen, daß die Widersprüche verschwinden, das widerspräche seinem Begriff! Doch kann es Glaubenden helfen, mit den Gegensätzen geistlich umzugehen, und das auf zwei verschiedene Weisen. Entweder wie einer der Mono-Kanäle, d.h. jemand bezeugt weiterhin die Wahrheit Luthers oder die des Tridentinums, im begleitenden Meta-Bewußtsein aber, daß seine Wahrheit sich, um ganz zu stimmen, auf die Gegenwahrheit beziehen muß. Oder wie die »Mono-Mitte« der meisten, ahnend jedoch, daß Gottes Geheimnis nicht so harmlos ist wie es ihr vorkommt.
Kurz: Gerade damit der Glaubensgegensatz Luther / Trient fruchtbar weiterwirke, muß er zugleich geistlich ausbalanciert sein. Weil das Stereo-Gleichnis dazu helfen kann, deshalb verdient es, den Christen bekannt zu werden.
Im April 1998 schrieb ich an Frau Heike Schmoll in der Redaktion der F.A.Z. folgenden Brief. Einer Antwort ward ich nicht gewürdigt.
Betrifft: Gemeinsame Erklärung
Sehr geehrte Frau Schmoll,
meinen Glückwunsch; Sie haben es geschafft, die Ihnen wichtige Glaubensperspektive öffentlich zum Leuchten zu bringen. Ob es mir gelingt, Sie für mein
- nicht widersprechendes aber ergänzendes - anderes Paradigma zu interessieren? Versuchen will ich es. Denn so viele sind wir nicht, die in dieser Frage leben; kennen sollten wir einander.Beiliegender Essay ist noch unveröffentlicht. Das Thema bewegt mich seit 1960, damals schrieb ich - zweieinhalb Jahre vor dem Konzil - als 23jähriger Student in einem Beitrag zum Tridentinums-Zirkel im Germanikum: »Dies also, scheint mir, ist nach unserem Dekret die Gerechtigkeit: ein Geheimnis, und ein so umfassendes, daß jeder recht hat, der gläubig darüber etwas sagt, - solange er nur in der Einheit verbleibt und sich nicht anmaßt, das Größte nach Gott mit einem Auge durchschauen zu können.« P. Alszeghy SJ, unser verehrter ungarischer Professor, meinte hernach im Aufzug lächelnd, als Poesie sei das ja ganz nett gewesen, Theologie aber sei es nicht. Ich hoffe noch heute: doch.
Es geht um das Stereo-Denken: Die Gegensätze im Ausdruck müssen scharf gehalten werden, damit der gemeinsame Vollzug lebendig bleibt. Gemeinsam: Denn ich möchte als Katholik z.B. nicht auf das Gedicht von George Herbert (1593-1633) verzichten. Was es sagt, glaube und hoffe ich auch:
Judgement Almighty Judge, how shall poor wretches brook
Thy dreadful look
Able a heart of iron to appal,
When thou shalt call
For ev'ry man's peculiar book?What others mean to do, I know not well;
Yet I hear tell,
That some will turn thee to some leaves therein
So void of sin,
That they in merit shall excel.But I resolve, when thou shalt call for mine,
That to decline,
And thrust a Testament into thy hand:
Let that be scann'd.
There thou shalt find my faults are thine.Sollten Sie Zeit zu einer kurzen Antwort finden (oder gar der Stereo-Idee irgendwie weiterhelfen wollen), würde sich freuen
Ihr J.K.
Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/iustific.htm
Zurück zur Leitseite von Jürgen Kuhlmann Siehe auch des Verfassers Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de
Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann