Jürgen Kuhlmann

Brief an Walter


Versuch einer christlichen Jahnn-Lektüre

»Hans Henny Jahnn solltest du lesen,« riet mein Kindheitsfreund Walter mir schon vor Jahrzehnten. (1) Warum habe ich es erst jetzt getan? Ich vermute: weil der Rat mir unheimlich schien, belastet mit gefährlicher Fremdheit. Denn unsere Freundschaft (seit der ersten Klasse Gymnasium) mußte einen geistigen Abgrund überbrücken. In der Benediktinerschule gehörte ich auf die Seite der Frommen, er wurde zusehends religionskritischer. Zehn Jahre nach dem Abitur forschte er als Germanist über einen modernen Dichter, ich als Priester über einen alten Athosmystiker.

Mehr oder minder verborgen war mir freilich immer klar: um irgendeine Ecke herum wartet Walters Wahrheit auf mich, ohne sie ist mein Glaube römisch, aber nicht kat-holisch; denn in Christus ist das Ja zu allen Verheißungen Gottes wirklich geworden (2 Kor 1,20), mithin auch zu denen der humanistischen bis atheistischen Aufklärung. Dennoch habe ich den erwachsenen Blick auf diesen von früher her so angstbesetzten Wahrheitspol lange gescheut. Inzwischen bin ich dem Hauptwerk Jahnns begegnet, mit wachsender Faszination und tiefreichenden Folgen für meinen Christenglauben. Vom Ergebnis gibt der folgende Brief Rechenschaft.

Lieber Walter,

»der Nächste schon erkennt den Ursprung einer Aussage nicht,« (2) das bedenk bitte beim Urteil über die Früchte, die der Fluß ohne Ufer als Samen auf mein Erdreich geschwemmt hat. Jahnn selber hat - mit Bedacht, scheint mir - in sein Werk tiefe Rätsel eingebaut, »um dem fremden Virtuosen Gelegenheit zu geben seine Kadenz anzubringen;« (3) dieses Angebot nehme ich an. Wieweit der Autor oder seine Figur Anias (von der er sich ausdrücklich unterschieden hat) (4) meine Perspektive zu teilen bereit wäre, die Frage stellt sich nicht. Wichtig ist mir eine andere: Habe ich unseren jetzt gemeinsamen Freund recht verstanden und seine Intention so übernommen, daß die von ihm erblickte und so mühevoll dargestellte Wahrheit mit Hilfe einer geläuterten Kirche später auch solche Menschen wird erreichen können, die ihn selbst niemals oder nur in Abwehrhaltung lesen? Darum geht es mir bei diesem Beitrag zu unserem lebenslangen Gespräch.

I. Religionskritik

1) Das Gottesbild der Frommen ist falsch

Gegen die Frommen und ihr Gottesbild wehrt Anias sich, auch und gerade dann, wenn die Natur scheinbar zur Zuversicht ermuntert:

»Die Frösche, in den von Eis befreiten Tümpeln, sind zur Oberfläche gerudert, vergnügen sich, laichen. Das Grün der Kräuter, Gräser und Büsche ist nicht mehr zurückzuhalten, es schüttet sich über die Landschaft aus; nur die meisten der großen Bäume verharren noch - erst in wenigen Tagen werden sie verwandelt sein. Und während sich das meinem Auge Wunderbare vollzieht, vermehren sich die Raubzüge aller Lebewesen gegen den Schwächeren, der gefressen wird. Auch viele der Frösche werden gefressen. Es ist keine Schuld, der Schwächere zu sein. Es ist Schicksal. Und so dampft der Schmerz in den Duft des Frühlings hinein. Die warmen Ströme der Luft schmecken fade. Es ist, wie es ist. Und es ist fürchterlich. Und die Blinden danken Gott dafür. Und die Abtrünnigen danken ihm nicht. Sie leben ihr wüstes Leben, ohne zu danken. Mein Leben ist ohne die Zuversicht auf Gott.« (I 778)

Jahre zuvor, während er mit Tutein zusammen durch die Welt vagabundiert, erwidert er dem Freund dasselbe, nachdem dieser des Menschenlebens Chaos folgendermaßen beschrieb:

»Alles ist nur Auswahl, eine höchst ungeordnete; unser Tun, unsere Gefühle, unser Wissen. So ist es im Großen und Kleinen. Welche Straßen einer Stadt man durchschreitet, auf welche Stühle man sich setzt, an welchen Menschen man mit den Augen hängenbleibt, welche Bücher einem unter die Hände kommen, ob man ein Zuhälter oder ein Gelehrter wird. Jeder sieht nur einen Weg, den er gehen kann, er sieht die anderen nicht, die für seinesgleichen offen sind.«
»Und die Bequemen, die man die Frommen nennt, schon im Vorwege blind, schließen auch noch die Augen, erledigen die Bücher, indem sie ein Buch erfinden, sich der Autorität verschreiben und die Qual, das Unglück und das Gemetzel aus einer weisen Güte erklären, die jenseits der Sterne und jenseits der Zeiten thront.« (I 420)

Zwischen Größen- und Niedrigkeitswahn schillert der religiöse:

»Welche Armen im Geist haben es für klug gehalten, das unmittelbare Wohlgefallen an Feuer und Haus einer fernen Gottheit zu danken, die nicht mehr den Namen Flamme oder Stein hat, sondern überdinglich als eisiger schweigsamer Koloß den Wandel unseres Behagens als Züchtigung und Gnade nach Ratschlüssen der Weisheit austeilt, die unvernünftig scheinen und deshalb als unerforschlich gelten -? Warum haben die Dinge, die unser Dasein umgeben, ihren Wert eingebüßt? Warum mußte jenes Ungeheuer an Ungerührtheit, der Ursprung, der Nullpunkt in der Lambdakonstruktion ägyptischer Denker, zu persönlichem Leben erweckt werden, zu einem Wesen, dessen Gestalt dem Menschen gleicht? - Welche Überheblichkeit! Und welcher Fall! Alle Tore der Schöpfung sind zugeschlagen.« (II 501)

2) Das Christentum ist ein Irrweg

Weil Jahnn die real existierende Religion vor allem in christlicher Form kennengelernt hat, trifft sein Vorwurf auch das Christentum. In bitterer Kürze ist vom »kristlich unmenschlichen Karakter« des Kolumbus die Rede (I 497). In einem Brief bezeugt Jahnn:

»Das Kristentum ist mir ungeheuer auf die Nerven gegangen, diese Zweijahrtausende sausende Fahrt in die verkehrte Richtung. Die täglichen Einzelheiten sind wie der Dreck, den ein Autofahrer einem auf schlechter Straße um die Ohren spritzt.« (5)

Aus solchen Worten schließe ich, daß Jahnn zwischen altem und neuem Testament doch so etwas wie einen wesentlichen Einschnitt sah: sonst wäre die Fahrt schlicht vier Jahrtausende lang in die falsche Richtung gesaust. Gab es für ihn demnach am Beginn des Christentums einen Impuls, der sich auch anders, richtig hätte auswirken können?

3) Moral und Religion widerstreiten einander

Fragen wir jetzt, warum Jahnn das fromme Gottesbild ablehnt. Was genau stört ihn daran? Die Antwort springt dem Leser immer wieder ins Auge. »Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret« - den Vorsehungsglauben, der sich in diesem Liedvers ausdrückt, kann der Dichter, über die Grausamkeit der Realität von Jugend auf erschrocken, nur als Zynismus verachten.

»Die moralische Weltordnung ist vor meinen Augen zerkrümelt. Es gibt keine Reue in mir, nicht einmal Trotz. Es ist Einsamkeit um mich her, und sie schweigt. Die Felsen der Gesetze stehen in den siedenden Stromschnellen der Zeit. Kein Gott bewegt sie, um den harten Ablauf zu beschämen. Der Schwächere unterliegt dem Stärkeren. Das ist die Ordnung, die jeder erkennt, wenn er zu lügen aufhört.« (I 827)

Ohne von seinem Vater Näheres zu wissen, folgt auch Nikolaj dieser Fühlspur:

»Es ist zweifelsohne so, daß Gott, oder die Natur, von uns etwas Unmoralisches verlangt (sie verlangt, daß wir essen und uns behaupten) - daß wir uns, in gewissen Augenblicken, aus der Gesellschaft der Gesitteten hinwegbegeben ... Ihm wurde allmählich sehr bang zumute. Zum wenigsten ahnte er, daß das Religiöse und Moralische nicht jene Einheit bildete, die alle Oberflächlichen zu lehren bestrebt sind.« (III 219 f)

Allerdings gibt es ein Verbindungsglied zwischen Vater und Sohn: Tutein. Kurz vor Nikolajs Einsicht hatte Tutein zu ihm gesagt:

»Du kannst keine Anklage erheben, Kolaj - niemand nimmt dir die Klageschrift ab ... Diese Höker, die Gott pfundweise aushandeln und die Schöpfung für ein Altersheim halten, in dem Suppe an Zahnlose ausgeteilt wird ... Da scheint irgendwo - am Anfang aller Welten - ein Versehen unterlaufen zu sein - jemand hat Angst und Schmerzen erfunden. Ich fürchte, das ganze Weltall ist voll davon, das Feuer der Sterne und das Eis der Pole.« (III 198)

Ein Kernsatz des Buches wird ausdrücklich als Tuteins Spruch berichtet. Anias erinnert sich:

»Ich erfuhr früh genug, er überhörte das Brüllen, Blöken und Röcheln der Schlachttiere nicht. Er hat sich nicht gescheut, zuzusehen, wie sie starben. Er hat versucht, diese Welt auszuloten. Das unverhüllte Antlitz der Sünde erschaut niemand. Aber man kann dahin kommen, die eine Hand zu höhlen und mit Tierblut zu füllen und die andere mit Kot, in das entsetzte gebrochene Tierauge zu schauen und auf das ebenso entsetzte vorgefallene Gedärm ... Man hört auf, nach Gott zu fragen. Man vergißt, daß die Perlen des Rosenkranzes eine Forderung bedeuten. Man hat seit langem nicht mehr gebeichtet und die Lossprechung erhalten. Man will das Gefühl der Schuld gar nicht verlieren, man hat den Vorsatz, weiterzuleben, Muskeln unter dem Gaumen zu zerkauen, Blut und Milch zu trinken und das Entsetzen beiseitezustellen. Tutein sagte einmal: "Ganz ohne Schuld kann Gott nicht sein." -« (I 393 f)

So, wie viele Fromme sich Gott vorstellen, als zentralen Oberwaltungsdirektor des Seinsapparates, der für jegliches Versagen irgendwo »draußen in den Realitäten« letztverantwortlich ist, so kann, darf Jahnn sich das Weltprinzip nicht denken. Diesen Gott gibt es nicht.

4) Grenze der Kritik

Ist die Frage nach Gott damit erledigt? Für einen platten Aufklärer wäre sie es, ein solcher ist unser Dichter aber nicht. Anias ist nicht ungläubig:

»Ich klage nicht an; ich habe es oft, allzu oft getan. Ich weiß nur, daß ich anders bin als jene, die an Gott und Menschen glauben. Die Religion, mit der sie alle ihr Tun rechtfertigen, ist für mich verstreuter, undeutlicher. Das Ziel meines Glaubens ist nicht Gott. Ich möchte die Versöhnung mit dem Schicksal.« (II 298 f)

Warum will Jahnn nicht mit Anias verwechselt werden? Einen Grund finde ich in dessen seltsamem Erlebnis kurz vor seiner Ermordung. Da erscheint ihm der verstorbene Reeder und sagt:

»Man muß Ihnen vorwerfen, daß Sie falsch gelebt haben, daß Ihre Musik weniger die Freude als einen monströsen Hader ausdrückt. Freilich einen aufs Sonderbarste instrumentierten, in den das Leben spendende frühlingshafte Gestöhn, das den Akt der Geburten begleitet, unmerklich eingewebt ist. Bäume und Sträucher bekommen Blätter. Die Tiere werfen Junge. Der Mensch erlebt seine Erde. Sie haben das alles gesehen, empfangen. Sie haben daraus Musik konstruiert - doch Sie sind nicht ganz damit fertig geworden: das Lachen fehlt. Sie sind dem Schrecken der Maschinen und Zerstörungen gewichen -.« (II 687)

Eine scholastische Definition bestimmt den Menschen als ens risibile, Lachwesen; denn weder Tier noch Engel können lachen. Jene sind zu dumm, diese zu vollkommen. Tatsächlich spritzt aus dem schwerströmenden Fluß ohne Ufer fast nie ein heiterer Strahl. Selbst im Glück gleicht des Anias Gesicht dem eines »Tieres, das nicht lachen kann« (II 502). Kein Wunder - zum Lachen ist es, wenn ein bestimmter Lebenssinn beim Zusammenprall mit einem anderen oder mit dem Zufall plötzlich verpufft; »ein fast nutzloses Dasein« aber (I 438), das sich selbst als solches kennt, bietet dem Funken der Lustigkeit allzu nassen Zunder. »Und Gott sah, daß es gut war,« dieser Ja-Blick des Ganzen in Person auf seine Einzelrealitäten insgesamt, er schafft zugleich den unzerstörbaren Lebenssinn des Individuums und jenen Unendlichkeitsrahmen, vor welchem wir es, sobald es sich aufplustert, herzhaft auslachen dürfen - um uns und in uns. Des Reeders Tadel beweist Jahnns wache Selbstkritik; offenbar hat er gespürt, daß sein bitteres Nein zum jüdisch-christlichen Gottesbild nicht die ganze Wahrheit ist.

II. Modernes Heidentum

1) Neuhomerische Theologie

Wenn nicht jüdisch-christlich, wie faßt Jahnn das Göttliche dann auf? Bei der Beschreibung einer Weihnachtsfeier sagt er es uns selbst:

»Es gab nicht viele Wohnungen, in denen das schönste Fest mit so viel heidnischer undogmatischer Freude begangen wurde.« (III 68)

[Sein Freund Werner Helwig redet ihn an] »mit den Worten, daß ich Dich für einen gleichsam vorchristlichen, ja vielleicht vorgeschichtlichen Menschen hielte. Ich hätte Bauentwürfe von Dir gesehen, die mich sofort nach Mykene versetzt hätten. Du seiest irgendwie ein Mykenier, unlösbar und tief heidnisch in der eigenen Körperlichkeit verhaftet, nur eben mit einem höchst modernen, reflektierenden Intellekt begabt, der Dich zur Bekundung einer Mentalität befähige, die es heute nirgends mehr gäbe.« (III 765)

Ein paar Hinweise auf Jahnns Verbundenheit mit dem griechischen Heidentum: Bei der Einführung des Namens Ajax (II 238) wird Homer aus-drücklich erwähnt, später (II 374) werden Apoll und Daphnis, Patroklos und Paris genannt. Zu Beginn der Ilias heißt es: »Des Zeus Wille wurde erfüllt« (I,5); gemäß einer Überlieferung soll mit diesem Willen das Versprechen gemeint sein, das Zeus der Erdgöttin gab: ihrer Klage über die sie bedrückenden Menschen stattzugeben und deren unmäßig angeschwollene Zahl durch Krieg zu verringern. Daran erinnert mich der Satz »Armut und Kriege müssen die Zahl verzehren, der Speer ist gerade so schlimm wie das Pulver« (II 103). Die Gestalt des toten Reeders, »die gar nicht oder nur in großer Verdünnung und Undeutlichkeit da war« (II 681), läßt an die Schatten im Hades denken. Und bei Anias' Albtraum (»Ich war die Maus, die ein Bussard hoch oben in der Luft einkreiste. Sie sollte vor seinen Fängen entfliehen. Aber sie konnte es nicht.« II 173) fällt mir der Verfolgungstraum in der Ilias ein: »Weder vermag der eine zu fliehen noch der andere zu folgen« (22,200).

Jener alte Ziegenbock, »ehrwürdig und furchterregend« (I 731), der Anias den Saumpfad versperrte - war nicht der große Pan selber der »Geist, der sich so zu erkennen gab«? Ein gewöhnlicher Bock fühlt sich nicht für die ganze Natur verantwortlich, dieser aber - nachdem der Mensch einen aufgehobenen Stein doch lieber ins Wasser geworfen hatte - »verzieh mir diese Belästigung des Fjordes«. Geheimnisvoll ist das Ende der Geschichte: »Als eine halbe Stunde später der erste Mensch mir entgegenkam, fragte ich ihn, ob ihm ein Ziegenbock begegnet sei. Ihm war kein Ziegenbock begegnet.« - In der weiterentwickelten Pansflöte, der Orgel, hört des Orgelbauers Geschöpf Anias »den großen tönenden Atem Pans« (II 42). Und eine im griechischen Sinn panische Sommerstunde mit seiner Stute schildert er so:

»Ich habe mich der Kleider entledigt, habe mich auf Iloks Rücken geschwungen, und liegend, meinen Kopf neben ihrem Hals, habe ich zugeschaut, wie sie fraß. Meine Haut ist ganz vollgesogen von ihrer Wärme und von der Wärme des Himmels. Mein Glück war vollkommen. Meine Gedanken waren entschwunden. Meine Haut war wichtiger als mein Kopf. Ich war ein echter Kentaur und ein echter Zwitter, ein Freund Pans. Und der Wald war groß wie die Welt.« (I 917)

Heidnisch ist auch der vertraute Umgang mit den Erdgeistern. Ilok »denkt viel, und die Unterirdischen erzählen ihr hin und wieder allerlei Sachen« (I 779). Mitunter überkommt Anias »eine verzagte Sehnsucht nach der Begegnung mit Menschen«: »Aber ich begnüge mich lächelnd mit der Anwesenheit der Unsichtbaren« (I 917). Wenn Anias am Christentum überhaupt etwas schätzen kann, dann das Heidnische im Katholischen. In der Kathedrale von Las Palmas kniet Tutein sich hin.

»Ich blieb neben ihm stehen. Ich nahm wahr, er betete. Ich bewunderte ihn und seine Religion, diese ungeheure heidnische Welt, in der Gott wie ein zerklüftetes Gebirge steht. Eine Millionenschar von Heiligen klettert auf ihm umher, die Geister der Tiefe, die Nymphen der Brunnen und Bäche, die Untergötter der Bäume, Wege, des Feuers, des Wassers, der Äcker, heilige Tiere und Luzifer selbst, der Drache. Am Ende sogar der Mensch, der niedergekniet war, die ganze Menschheit, die tausendmal gestorbene und die gegenwärtig lebende. ER ist von Mittlern, Engeln, Teufeln und Erlösten umstellt, von den Verdammten, vom Kor der Hölle angefletscht. Sein himmlisches Reich ist so voller ungezählter Instanzen und Registraturen, so voller Bewegung und Pracht, voll malerischer und theatralischer Ereignisse, voll altertümlicher Geschichte, vom Klatsch der Legenden erfüllt, von Hymnen durchwebt, von Weihrauch und Weisheit geschwängert, daß Sünden, Kummer und Armut dieser trostlosen irdischen Welt nur wie ein Anhängsel des himmlischen Kolosses erscheinen, als das durch und durch Vergängliche, das unter allen Umständen verziehen und rückgängig gemacht wird. Im Feuer der Gnade schmilzt es dahin.« (I 501)

2) Neuheidnische Christologie

Für mich ist dies eine Schlüsselszene des Werkes. Ich sehe Tutein im Dom knien, ein Ruck des Bildes, da steht Jesus im Tempel und weiß blitzhaft: All diese Pracht zu Ehren Jahwes ist nicht falsch, nein Vater, aber ich kenne DICH besser und werde es ihnen sagen, den Theologen und dem Volk, wer DU wirklich bist, wer WIR - und sie - in Wahrheit sind. Den Alten ist gesagt worden, ICH aber sage euch ... - Nach dem Verlassen der Kathedrale sagt Tutein zu Anias:

»Ich bin kein Katholik mehr. Ich widersetze mich der Beichte. Die Verwandlung des Brotes ist ein Sakrament. Auch in unserem Körper werden Brot und Wein in Fleisch und Blut verwandelt.« (I 501 f)

Homer, der Vorchristliche, hatte hier die scharfe Grenze zwischen Menschen und Göttern gesehen: »Sie essen kein Brot, noch trinken sie funkelnden Weines; blutlos sind sie daher und heißen unsterblich« (Ilias 5,341 f). Tutein, nachchristlicher Heide, reißt nicht nur diese, sondern jegliche Grenze nieder:

Gerade fuhr ein zweirädriger Wagen vorüber, und das Pferd, das ihn zog, mistete. »Sieh«, sagte er und zeigte auf das Tier, »Hafer, Mais, Gras und Wasser werden auch in Fleisch und Blut verwandelt. Es wird alles auf dieser Erde, seiner Bestimmung nach, verwandelt.« -
Ich erschaute im Geist noch einmal den Koloß des katholischen Himmels. (I 502)

Wer ist Tutein? Leichtmatrose und Mörder, Zuhälter und Messerstecher, Pferdezüchter, Maler und leidenschaftlicher Freund - all das ist er, ähnlich wie Jesus ein Zimmermann und Wanderprophet war. Doch rückt Jahnn diesen Mann in ein überaus geheimnisvolles Licht. »Als ob er ohne Eltern entstanden wäre, damit er sagen könnte: 'Ich bin ich.'« (II 134) Das ist die beste Übersetzung von Jesu »ego eimi« bei Johannes.

Er sagte auch: »Daß auch ich von Menschen abstamme, ist verwunderlich. Ich bin irgendwelcher Leute angenommenes Kind. Ich habe keine Eltern und keine Verwandten. Ich bin nur da. Es war niemals davon die Rede, daß ich einem Vater oder einer Mutter ähnlich sähe.« (I 835)

Im Gespräch mit Nikolaj nennt Tutein - und zwar lange nach seinem Tod, als Auferstandener also! - sich selbst »ein uneheliches Kind - aus dem Schoß einer Dienstmagd« (III 194). Und sein Vater?

»Er sagte, er sei in Angoulême geboren, als Sohn eines Uhrmachers und Verfertigers technischer Wunderwerke, unter denen eine Planetenuhr noch das geringste der kunstvollen Instrumente.« (I 893)

Ich denke an den Sohn des Zimmermanns, der zugleich der Sohn des Schöpfers aller Sterne ist. Anias fühlt ähnlich:

»Ich denke an ihn, wie schön er damals war, wie besessen und eifrig! Wie voller unbestechlicher Wahrheit, was für ein Mensch, unergründlich und immer bereit, für mich offen und ohne Hintergründe zu sein! Nur das eine verschwieg er, daß er er selbst war, das Unentrinnbare, an dem wir alle erhaben und zerstückelt werden.« (I 771)
»So verlor Tutein alle Grenzen und alle festen Eigenschaften. Er unterschied sich kaum noch von Gott, der grau bebärtet ein entrücktes Greisendasein fristete und gleichzeitig jung und zeugend, gestaltlos alle Dinge durchdrang und bildete und in jedem das Leben, den eigentlichen Inhalt der Schöpfung, erlebte.« (III 221)

Nach der österlichen Jesusgemeinde klingt, was Nikolaj erlebt:

»Sichtbar geworden war immer nur eine geheimnisvolle leuchtende Kraft des Widerstandes, eine Liebe zu den Verunrechteten, eine Hilfsbereitschaft, die keinen Lohn erwartete, ein gütiges Verhalten den Einfältigen, Beladenen und Getriebenen gegenüber. Weniger Urteil und mehr Anerkennung. Doch Zorn gegen alle, die die geistige Wüste bereiteten, gegen lügende Lehrer und kaltherzige Bürokratien. Und kaum ein Zweifel war belassen worden, daß dies System der Weltbetrachtung sich von Tutein herleitete oder zum wenigsten durch ihn - in den Herzen seiner Freunde gefestigt worden war. Die Verehrung und Liebe, die sie zu ihm empfanden, war gleichsam von einer anderen, größeren Dimension als die gewöhnliche Liebe. Ihn hatte er suchen und finden sollen.« (III 221)

»Er unterscheidet sich von anderen Menschen. Schon sein Alter ist nichts Bestimmtes. Im allgemeinen haben Menschen ein festgelegtes Alter; das scheint für ihn keine Gültigkeit zu haben. Wenn ich ihn betrachte, ohne daß er zugegen ist - also ihn in der Erinnerung betrachte, dann ist er wie zwei oder drei Menschen zugleich.« (III 213)

Wie Tutein in den Herzen seiner Freunde weiterlebt, beweist auch Egil:

»Er konnte die Seele verwandeln. Er konnte jeden zwingen, ihn zu lieben und desgleichen, auf diese Liebe zu verzichten, weil er sie mit unvergleichlicher Verschwendung einmal erfüllte. Er blieb in allen Menschen, auch wenn er davonging.« (III 88)

Das ist der Klang des Liebesjüngers: »Daran erkennen wir, daß er in uns bleibt: nämlich an dem Geist, den er uns gegeben.« (1 Joh 3,24)

»Als er schwieg, spürte ich, daß er mich liebte, mit jener alles verzeihenden Liebe, die nichts ansieht ... Vielleicht habe ich mich an diesem Abend nicht geachtet und nur noch von seiner Gnade geatmet.« (I 928)

Ein andermal sah Anias »die ganz unirdische Erschöpfung in seinem Gesicht« (I 937). An die Christusmystik eines Paulus (»Ich lebe, aber nicht mehr ich, Christus lebt in mir« - Gal 2,20) und anderer klingen Sätze wie diese an:

»Tutein war fähig, das Wunder, sein erstes Wunder zu wiederholen. Das Wunder, daß ich vergehe, daß ich nur noch er bin, daß ich ganz und gar von ihm abhängig bin. Daß ich nur will, was er will. Daß ich nur ein Verlangen habe, ihn zu verlangen.« (I 940 f)

Die wechselseitige Bluttransfusion scheint mir deshalb das kühne Symbol einer noch tieferreichenden, wahrhaft sakramentalen Gemeinschaft zwischen Anias und seinem göttlichen Freund (vom »admirabile commercium« spricht die katholische Liturgie):

»Etwas seiner Existenzen hat Tutein mir zugeteilt; etwas der meinen habe ich ihm gegeben.« (II 198)

Im Epilog ist vom auferstandenen Tutein als dem Zweiten Menschen (mit großem Z!) die Rede (III 154), das ist ein biblischer Christus-Titel: »Der erste Mensch ist aus der Erde irdisch (Adam aus der Adamah), der zweite Mensch aus dem Himmel« (1 Kor 15,47).

Nach der »Einsargung« (II 158) des toten Tutein erzählt Anias:

»Nun brach wahrhaftige Trauer über mich herein, seinetwegen ... Er blieb fern. Er war nicht mehr. Er war sich selbst und mir nur noch ein Bündel Erinnerungen ... Wollte ich seine Nähe als Gespenst? Wollte ich seine Gegenwart nicht viel wirklicher als Fleisch und Knochen?« (II 160)

Ein solches Bündel Erinnerungen war auch Jesus für die Emmaus-Jünger: »Wir aber hatten gehofft« (Lk 24,21). Ihnen hat der Auferstandene sich gezeigt, in Fleisch und Blut. Ist Ähnliches auch dem Anias widerfahren? Die erträumten Freundesworte

»Ich bin wieder da. Für dich allein bin ich wieder da. Du kannst mich fühlen. Ich bin Fleisch, nicht Geist. Ich bin warm wie du, nicht kalt wie ein Leichentuch. Ich bin zu allem bereit. Mit dir zu essen, zu trinken, selbst zu den Ausschweifungen.« (II 219 + 620)

- hat Anias sie hören dürfen? Gewiß, es kam ein freundlicher junger Mann zu ihm. War Ajax aber Tutein? Die Frage erfährt keine eindeutige Antwort; denn der Roman blieb unvollendet. In einem Brief betont Jahnn beider Verschiedenheit (III 785); auch Anias denkt so: »Er war jung wie Tutein. Aber er war nicht Tutein.« (II 625) In einem Entwurf hingegen wird ausdrücklich ihre Identität festgestellt: »Tutein (A.v.U.)« sei des Anias Mörder; sodann berichtet der Mann, den Nikolaj als Tutein kennt, wie er selbst (als Ajax) in Notwehr Anias erschlagen habe (III 415 f). Vielleicht hätte Jahnn sich erboten, uns das Rätsel zu lösen, sobald wir ihm erklärt hätten, was genau menschliche Identität denn nun sei. Sind nicht alle Leben miteinander ein einziges göttliches Leben?

Meine christliche Stellungnahme

Und ist nicht eben dies der Sinn der christlichen Botschaft, daß die Schöpfung zur Teilhabe an der Dreieinigkeit berufen ist? Wenn ich jetzt bezeuge, daß ich von Hans Henny Jahnn gelernt habe, den christlichen Glauben besser zu verstehen, dann kommt eine solche Behauptung den Freunden des Dichters vermutlich als Dummheit vor, während nicht wenige meiner Glaubensgenossen sie als Ärgernis empfinden werden. Dennoch stimmt sie. In zwei Schritten will ich sie erläutern.

1) Für ein tieferes Neuverständnis des Heidentums

Es folgt der Entwurf zu einer Allerheiligenpredigt, die sich meinen jüngsten Jahnn- und Iliasstudien verdankt. Zugrunde liegt ihr die These, daß die Kirche - nicht erst seit Konstantin - aus der sie begründenden jüdisch-heidnischen Stereo-Wahrheit, statt deren Polarität geisterfüllt durchzuhalten, einen allzu verständigen ideologischen Kompromiß gemacht hat. Aus dem (uns enthaltenden) Ganzen als unserem DU wurde Gott zur höchsten Weltinstanz, dem Universalkaiser über uns. Und aus der göttlichen Würde eines jeden Ich wurde die Arroganz der Schergen dieses Allmächtigen gegen seine - und ihre - Untertanen. Kurz: Die geheimnisvolle Spannung aus absoluter Demut und absolutem Selbstbewußtsein verkehrte sich zur Schäbigkeit des Radfahrers, der nach oben buckelt, nach unten tritt. Uns Christen aus diesem Verrat wieder herauszuhelfen, dazu will auch meine Jahnn-Exegese ihren kleinen Beitrag leisten. - Hier also der Text der Allerheiligen-Rede:

Jeder Romtourist erinnert sich an das Pantheon, den prachtvollen Rundbau aus dem Jahre 27 v.Chr. Dieser Tempel sämtlicher (ungefähr dreitausend) Götter, die im Römerreich staatlich anerkannt waren, wurde nach dem Sieg des Christentums als Mahnmal stehengelassen, aber zugesperrt. Erst am 13. Mai 610 wurde er von Papst Bonifaz IV. als christliche Kirche geweiht, und zwar zu Ehren der Jungfrau Maria und aller Martyrer; am Vorabend hatte man auf achtzehn reichgeschmückten Wagen aus den Katakomben eine große Menge von Reliquien heiliger Martyrer herbeigebracht. Weil später für die vielen Kirchweihpilger im Mai die Lebensmittel knapp waren, wurde die Feier im 9. Jahrhundert auf den ersten November verlegt, da »nach der Ernte und Weinlese alle leichtlich gespeiset und getränket« werden konnten. - Soweit die Tatsachen.

Versuchen wir, die Idee jener frühmittelalterlichen Christen zu verstehen. Ich stelle mir vor, wie der Papst vor dem uralten verschlossenen Göttertempel steht. Im fernen Germanien rauschten die Götterbäume, auch jene Donar-Eiche im hessischen Geismar, die der hl.Bonifatius über hundert Jahre später fällen würde. Rom aber war aufgeklärt, seit bald drei Jahrhunderten galt dort der Glaube an den einen Gott und seinen Sohn Jesus Christus. Waren die Götter der Heiden wirklich mächtige Dämonen gewesen, wie die ersten Christen meinten? Sollte man nicht eher Einbildungen und Mißverständnisse in ihnen sehen? Dann gab es jetzt, nachdem die wahre Lehre sich durchgesetzt hatte, keinen Grund mehr, sich vor den alten Göttern weiterhin zu scheuen. Keine grausigen Gespenster hausten im Pantheon, viel eher Gespinste, die aber mittlerweile vom Heiligen Geist zerrissen waren, ebenso wie es den Spinnweben im Pantheon ergehen würde, wenn nur endlich frischer Wind hineinbliese. Ja, Schluß mit jenen falschen Übermenschen, den olympischen Götterfiguren, von denen Homer so schandbare und lächerliche Schwänke erzählt. Wer sind die wirklichen Übermenschen? Die Martyrer: die in der Kraft Christi, des einzigen Gottmenschen, mit dem Opfer ihres Lebens die Erlösungswahrheit bezeugt haben und von Christus deshalb hoch geehrt werden: »Wer siegt, dem gebe ich, mit mir sich zu setzen auf meinen Thron, wie auch ich gesiegt habe und mich gesetzt mit meinem Vater auf seinen Thron« (Offb 3,21). - So etwa könnten jene Christen gefühlt haben, die 610 aus dem Allgöttertempel die Kirche Maria zu den Martyrern machten.

Heutzutage ist es, bis weit in den katholischen Raum hinein, mit der Heiligenverehrung so gut wie vorbei. Ein Gottesbild aber, das nicht mehr in konkreten Vollblutmenschen anschaulich wird, vertrocknet auch selbst. Ohne grüne Blätter fehlt der Wurzel die Energie. Läßt Gottes Wirken in seinen Heiligen sich so glauben, daß ein modern fühlendes Herz auch nach der Begegnung mit ehrlichen Atheisten in solchem Glauben eine neue christliche Heimat findet? Ja; doch verlangt dieses Unternehmen zuvörderst eine Rückkehr tief hinein in die Fundamente des Christentums.

»Da gibt es keinen Juden noch Griechen ... sondern: Neue Schöpfung« (Gal 3,28;6,15). Stellen wir uns die Neue Schöpfung als einen Doppelbaum vor, der aus einem jüdischen und einem griechischen Schößling zusammenwächst, dann hat sich in der Kirchengeschichte der jüdische Stamm weitaus stärker entwickelt, der griechische blieb zurück. Für die meisten Christen ist, wie für gläubige Juden, Gott der eine absolute Herr: unser unendlich erhabenes, gebietendes, leitendes und richtendes DU. Dieser Glaube ist wahr (und auch der meine), es ist aber nicht der christliche Glaube, sondern allein sein jüdischer Bestandteil. Wie sieht der griechische aus?

An den Göttern Homers ist den Kritikern von jeher eines aufgefallen: sie sind nicht, was man moralisch nennt. Sie streiten nicht nur miteinander, sondern stiften auch die Menschen zum Krieg an. Z.B. hat der Göttervater Zeus es schwer, zwischen der Liebesgöttin Aphrodite und ihren erbitterten Feindinnen Hera (Ehe) und Athene (Vernunft) zu vermitteln. Nun, fast jedem Erwachsenen hat gerade dieser Götterkrieg schon die eigene Brust zerrissen, so daß er durch den märchenhaften Figurenschleier hindurch die harte, überaus realistische Wahrheit der griechischen Religion erblickt: In der Tiefe eines jeden menschlichen Ich (und Gemeinwesens) ringen gewaltige, zugleich schöpferische und zerstörerische Mächte gegeneinander. Der Psychologe Jung spricht von Archetypen, Soziologie und Geschichte kennen die Wucht kollektiver Ideologien, die in stets neuen Verkleidungen wider einander anstürmen. Nein, moralisch sind diese Götter nicht, aber zweifellos wirklich, weil wirksam.

In Christus gilt nicht mehr Jude noch Grieche, sondern Neue Schöpfung. Wie verwandeln sich die beiden Glaubensstämme, wenn sie zusammenwachsen? DICH den einzigen Gott, der nur ein Volk, das jüdische, erwählt, hat Jesus neu offenbart: als DICH, den guten Vater aller Menschen. Was aber wird, christlich, aus den göttlichen Mächten, die der Griechenglaube in der Tiefe eines jeden ICH am Wirken sah? Aus Gründen, die wir hier nicht bedenken können, ist dieser zweite Zwillingsstamm verkümmert geblieben. Dabei steht auch sein Wachstumsprinzip schon im Neuen Testament. Christus der Gekreuzigte »hat die Schlüssel der Totenwelt« (Offb 1,18), er ist »hinabgestiegen in das Reich des Todes« (Credo) und hat »den Toten die Heilsbotschaft verkündet« (1 Petr 4,6).

Diese urchristliche Idee kann heute, da das überkommene Gottesbild weithin verblaßt ist, dem Glauben der Vielen frisches Blut zuführen. Denn jeder Mensch, auch der hartgesottenste Zweifler und vermeintlich Gottlose, ahnt beim Gedenken an seine Toten, daß die Wirklichkeit gewaltiger ist als die uns verfügbare Realität hier und jetzt. Stunden gibt es, da spüren wir die freundschaftliche Gegenwart lieber Menschen, die längst tot sind, fast wie zum Greifen nahe. Mitunter sind ihre Zeichen uns derart deutlich, daß wir von ihnen sogar zu erzählen wagen; oft erinnert uns das milde Lächeln der Zuhörer dann freilich, daß es bei solchen Erfahrungen nie um Wissen geht, immer um Glauben.

Ja, die Toten leben in Christus. Das ist etwas Ungeheures. All jene Ströme menschlicher Energie, die seit Jahrhunderttausenden über die Erde hin vibriert haben, alle Sehnsüchte und Ängste, Schmerzen, Opfer und Triumphe: sie sind nicht vorbei, sondern klingen als ewig unvergänglicher Hall durch das gottmenschliche Bewußtsein des universalen Christus. Das ist die Wahrheit des Pantheon. Tief in jedem menschlichen Ich rauscht der Energiebrunnen aller seiner gestorbenen und dabei unsterblich gewordenen Ahnen. Das ist nicht bloß eine feierliche Umschreibung für die Macht der Gene! Das Instrument der Gene gleicht dem Kratzen von Pferdehaaren über Katzendärme - des Violinkonzerts Schönheit hat anderen Ursprung. In und durch uns wirken die Götter (sagt der Heide), werden frühere Menschen wiedergeboren (sagt der Hindu), lebt der verherrlichte Christus (sagt der Christ) und seine in ihn eingegangenen Heiligen (sagt der Katholik); nur von vielen gegensätzlichen Seiten her können wir uns dem Geheimnis unser selbst nahen. »Alles ist euer« (1 Kor 3,22), jede solche Glaubensweise kann uns helfen, den Anschluß an die Seinsenergie tief innen zu finden. Denn ohne sie wären wir nichts als die Rädchen jener Apparate, in denen wir funktionieren; mit ihr aber sind wir Menschen, d.h. lebendige Organe des göttlichen Leibes in dieser Zeit. - Ein solches Heidenchristentum ist in der Kirche nicht gerade üblich; weil es aber der eine Pol ihrer Wahrheitsspannung ist, deshalb sollte sie nicht zu stolz sein, es von jemandem wie Jahnn besser zu lernen.

2) Heidnische Christologie?

Abenteuerlicher bewegt mich die andere Frage: Was soll ich über Tutein denken? Daß Jahnn diese Figur als sein Christusbild ausgemalt hat, ist mir evident; wie stelle ich mich aber als Christ zu dieser Botschaft? Ist Tutein einer der falschen Messiasse, von denen Jesus gewarnt hat? »Wenn dann jemand zu euch spricht: Da! Hier - der Messias! Nein, hier! - glaubt es nicht. Denn Trugmessiasse und Trugpropheten werden sich erheben« (Mt 24,23 f). Bestimmt dann, wenn Tutein mit Jesus in Wettbewerb tritt, ihn den wahren Christus ablösen, ersetzen wollte. Dafür gibt es aber keinerlei Hinweis des Dichters. Nein, Alfred Tutein ist kein Rivale Jesu.

Wie aber, wenn ich seine Gestalt als ein auch mir zugedachtes Bild des Mensch gewordenen Gottes ansehe, das solche Züge Christi betonen soll, die am bisherigen Jesusbild fehlen oder - vielleicht notwendig - unterbelichtet sind? Jesus war Jude, trotzdem stellen afrikanische Christen ihn mit Recht als Schwarzen dar. Denn in ihm ist Gott (in Wahrheit) der ganze Mensch geworden, wenn auch (historisch sichtbar) nur jener Galiläer damals. Jesus war Jude, in Christus aber ist nicht mehr Jude noch Grieche, sondern die Neue Schöpfung. Plötzlich ergeht es mir wie dem Archimedes in seiner Wanne. Heureka! Tutein ist Jesus, wie er als Grieche hätte gewesen sein können, wenn also statt des jüdischen Poles der Christuswirklichkeit der heidnische sich historisch realisiert hätte.

Zwar ist es - auf die Absicht bezogen - ein wesentlicher Unterschied, ob jemand ein Jesus-Bild malen will oder eine Christus-Darstellung, die dem historischen Jesus in bestimmten Zügen offenkundig widerspricht; so gesehen, hat Jahnn freilich anderes gewollt als die kirchlichen Christusdeuter aller Jahrhunderte. Auf das Ergebnis geschaut, geht dieser Gegensatz allerdings gegen Null oder kehrt sich gar um. Gleicht dem wirklichen Galiläer Jeschua in vielem Tutein nicht sogar mehr als, beispielsweise, der goldstarrende Pantokrator byzantinischer Mosaiken oder der schafsanft blickende Tischlerjunge so mancher Bürgerbibel-Illustration?

Ich stehe vor einem großen Christusbild des Spaniers G.Bellod. Es zeigt den Erlöser als Wassermann, der mit ausgestreckten Armen die Bäume zu beiden Seiten des Flusses (Ez 47,7) miteinander verbindet, so daß die blockbildende Polarisierung der ICH-Äpfel links und der DU-Birnen rechts sich in ihre schwingende Polarität und dazu ein Gewimmel von EINS-Fischen wandelt. Niemand, auch der Gottmensch nicht, kann in seinem Alltagsleben all diese Momente gleichermaßen ausdrücken, kann zugleich der ältere und der jüngere verlorene Sohn und dazu ihre noch naiv harmonische kleine Schwester sein! Als Ziel und edelste Frucht des auserwählten Volkes hat Jesus seinen Vater niemals verlassen; dessen reines Du zu sein, war stets Jesu innerste Speise. Wenn Paulus auch das Gegenteil sagt, nämlich: Gott habe ihn »für uns zur Sünde gemacht« (2 Kor 5,21), dann liest der Christ meistens schnell weiter, hält sich bei solch unlösbarem Rätsel nicht auf.

Anders Jahnn. Er beschreibt den exakten Gegensatz zum historischen Jesus, einen heidnischen Gottmenschen, der also nicht die religiöse Du-Dimension des dreieinig absoluten Sinnes lebt, vielmehr die - soweit ich sehe von Jahnn nicht mehr problematisierte - ungeschiedene Einheit von Ich und Eins; eben sie heißt in christlicher Sprache "heidnisch" (dieser Begriff ist mithin in sich explosiv, hält die beiden Gegensätze der biblisch-patriarchalischen Position zusammen, dh griechische Autonomie und östlich-matriarchalischen Pantheismus. Das Wort so verstanden, ist Jahnns Denkweise heidnisch. Denn eben als solcher Widerspruch zwischen der auf Gott sich richtenden DU-Frömmigkeit der anderen und seinem eigenen Protest dagegen (in welchem griechisches ICH-Bewußtsein und pan-animistisches Welt-EINS-Gefühl ungeschieden zusammenwirken) scheint mir der besondere Schmelz seines Denkens zutreffend beschrieben.

Tutein hat die Sünde gekannt, überwindet die Lieblosigkeit des Ich- und Fleisches-Menschen ähnlich langsam wie Jesus seinerzeit die Lieblosigkeit des bloß Frommen, z.B. den Auserwähltheitswahn, siehe die Szene mit der »Griechin« (Mk 7,26). Obwohl Jesus ihr Volk mit Hunden vergleicht, denen man das Brot der Kinder, d.h. der Juden, nicht geben dürfe, läßt sie sich trotzdem nicht beleidigen, sondern traut ihm zu, daß er sich aus solchen Vorurteilen seines Volkes werde lösen können, und antwortet schalkhaft: Gewiß, Herr, aber die Hündlein unter dem Tisch kriegen doch auch etwas ab. Manche heutigen Christen vermuten: Damals hat Jesus sich geschämt. Seine Scham über unsere menschliche Verformtheit durch kollektive Eierschalen widerspricht nicht Jesu Gottheit; schlimm ist vielmehr der unverschämte Dünkel vieler seiner Jünger.

Ähnlich läutert der Erdroßler und Messerstecher Tutein sich mehr und mehr zu einem heilen Menschen, der kein Wesen erniedrigt, sondern sie alle zum Glauben an ihre göttliche Würde und Verbundenheit geleiten will. Mystisches hat der Dichter schon im Namen versteckt. Er läßt sich als Tut-Ein lesen: der das EINE tut, d.h. den einen tiefen Sinn des geheimnisvollen Universums in seiner menschlichen Existenz verwirklicht. Eine andere Lesart ist Tout-Ein (geboren wird Tutein ja in französischem Sprachgebiet - I,893). ALLES-EINS: Das ist das berühmte Hen kai Pan, das Ein und Alles, welches seit jeher den Menschengeist im Innersten ergreift und zuletzt die gewaltigen Denkgebäude des deutschen Idealismus auftürmen ließ. Wie gut Jahnn ihn kannte, weiß ich nicht; T(o)utein ist jedenfalls die Gestalt, in der das rätselhafte All-Eine sich diesem Dichter gezeigt hat: als Ineins der Gegensätze, aber doch so (das ist unsere unzerstörbare menschliche Hoffnung), daß die Freundlichkeit tiefer reicht, "wahrer" ist als jene Gleichgültigkeit, ja Grausamkeit, womit die reale Welt ihre Lebewesen quält.

Soweit, mein lieber Walter, das Ergebnis meiner Jahnn-Lektüre. Auf die Frage der Praktiker, was daraus denn nun folge, weiß ich keine schnelle Antwort, traue aber, daß Dich das nicht stört. Auf jeden Fall fühle ich, es sei mir ein wichtiger Faden wiedergeschenkt worden, der mich mit unserer gemeinsamen Kindheit verbindet. Wenn die heiße Holzplanke, auf der ich in diesem Sommer nach dem Schwimmen in der Sonne liege, mir auf einmal - wie Marcel Prousts Madeleine - die Zwischenzeit aufhebt und ein Gefühl des Kindes von damals, nämlich den Wunsch nach einem guten Freund, wieder in der Seele aufsteigen läßt, dann weiß der Mensch, der ich jetzt bin, jenen Wunsch erfüllt, glaubt sich von seinem allerbesten Freund noch herzlicher gemocht, als er es sich überhaupt vorstellen und erträumen kann. Der mir überlieferte Glaube an Christus den HERRn hat diese Zuversicht nicht erzeugt, erst seine Verschmelzung mit der neuen Freude an Tutein.

Hans Henny Jahnn und Dir verdanke ich die Begegnung mit der Figur dieses Freundes; sollte mein Brief Dich ermutigen können, daß auch Du von seinem überliterarischen Sein »glückhaft erfüllt« wirst dank einer »Wahrnehmung jenseits des Unrechts, das überall geschieht« (II 502),

dann wäre dies eine Herzensfreude

Deinem Jürgen

Anmerkungen:

1) Hans Henny Jahnn (1894-1959) ist einer der größten und zugleich unbekanntesten deutschen Schriftsteller. Geboren und gestorben in Hamburg, bekannt als Orgelbauer, lebte er zwischen 1933 und 1945 als Pferdezüchter, Landwirt und Hormonforscher in Dänemark. Im großen Brockhaus von 1990 heißt es über ihn: "Sein Werk, zum Teil schwer deutbar, war heftig umstritten. Psychoanalyse, Expressionismus und Naturalismus sowie eine verzweifelte Suche nach Sinn in einer von Jahnn als durch Verlorenheit, Schmerz und Zufall bestimmt gesehenen Welt haben seine Thematik beeinflußt. Aus Protest gegen Zivilisation, Konvention, mechanistisches Denken propagierte er einen heidnischen Vitalismus und entwarf die Utopie eines neuheidnischen Reiches ... Sein Hauptwerk ist der dreiteilige Roman »Fluß ohne Ufer« (1949-61)". Im literarischen Rang wird er von Kennern neben Proust und Joyce gestellt.

2) II 263. Ich zitiere Jahnns »Fluß ohne Ufer« nach der neuen Ausgabe (Hamburg 1986). Hervorhebungen sind von mir, gehören bereits zum Kommentar.

3) Brief an Helwig vom 29.4.46, III 771

4) Brief an Helwig vom 25.8.46, III 780

5) Brief an Helwig vom 20.3.46, III 769


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