Jürgen Kuhlmann
Unser göttlicher Rhythmus
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Neue Blüte - treue Frucht
Ein Glück dieser Wochen sind die blühenden Obstbäume. Warum erfüllen sie unser Herz mit solcher Freude? Sie stammt nicht nur aus lieblichem Anblick und süßem Duft. Marcel Proust wurde von der Schönheit der Birnbäume an Wirklichkeiten erinnert, "die man nicht mit Augen sieht, sondern im Herzen fühlt ... Waren die Bäume, diese großen weißen Gestalten, die sich zauberhaft über den holden Schatten neigten, nicht Engeln gleich?" [S.1459] Noch weit mehr als Engeln! Das Foto einer lachenden Schönen erfreut jeden, der es anschaut; wie begeistert es aber erst den, der sie liebt und sich von ihr wiedergeliebt weiß! Ähnlich sendet die Pracht eines blütenbesternten Obstbaums so etwas wie einen sakramentalen Freudenstrahl in unser innerstes Gemüt, weil sie einen Pol des Heils sowohl bedeutet als auch verstärkt: den Reichtum der Möglichkeiten, die des Schöpfers Liebe in der Schöpfung entfaltet, und zwar für uns Geschöpfe, damit sich immer neu entscheide - durch Zufall, Schicksal und unsere freie Tat - welches Mögliche wirklich, welche Zukunft zur Gegenwart wird, zum endlichen Jetzt im göttlich-ewigen NUN.
Diesen Übergang vom möglichen Vorher zum realisierenden Jetzt, ihn bedeutet der Wechsel vom Frühling zum Sommer: beide Spannungspole zusammen lassen uns eine Tiefenwahrheit aller Geschichte ahnen. Wer keinen davon vernachlässigt, sondern beide in Balance hält, tanzt auf einem der Seile, die miteinander den vielmißbrauchten Namen Heil verdienen.
Ist aber nicht - so mag man einwenden - auch der blütenprangende Baum schon wirklich? Und ist, umgekehrt, nicht auch die winzige Junibirne erst etwas Mögliches? Drohen ihr nicht noch allerlei Gefahren, ehe sie im Herbst ganz wirklich, reif geworden ist? Gewiß. In jedem Augenblick ist das Universum schon, also wirklich. Und zugleich ist es noch nicht, weil erst möglich. Durch jedes Stück Welt schwingt diese Spannung, also auch durch Frühling oder Sommer je in sich. Wir können aber auch auf ihre Beziehung achten. Ich stehe vor der Blütenlust eines Birnbaums und erblicke im Geist schon seine sommerlich grüne Etappe. Oder ich suche, einige Wochen später, mühsam die paar Dutzend Birnchen zu finden und vergleiche sie mit der Überfülle leuchtender Blüten in meiner Erinnerung. Was wir bei solchem Vergleich einsehen, ist nicht Frühling oder Sommer in sich, sondern ihre Polarität, das Wesen des Übergangs vom einen zum andern. Eben in ihm erkennt der Glaube eine der Grundwahrheiten des Heils.
Wie wertvoll eine wohlbalancierte Gesundheit ist, begreift am klarsten der Kranke. Sehen wir uns darum die Hauptübel an, unter denen jemand leidet, wenn ihm dieser geistliche Wechsel mißlingt. Es sind drei: Entweder fehlt der Blütenreichtum oder es kommt zu keiner Frucht oder ein Mißgewächs entsteht. Erstens gibt es mithin Menschen, für die sozusagen der Frühling ausfällt. Damit meine ich natürlich nicht solche, bei denen sich kein großer Reichtum an Lebensmöglichkeiten zeigt. Daß die eine mehr, der andere weniger Talente hat, das ist nicht zu ändern, so ist die Schöpfung gebaut. Auch in der Menschenwelt gibt es neben den Blühkünstlern viele schlichtere Pflanzen; ihre minder auffallenden Blüten sind jedoch, wenn einer nur genau hinsieht, nicht weniger schön. Unser Thema ist vielmehr einzig der Mangel solcher, für die der Frühling nicht stattfindet, das heißt: die ihre Möglichkeiten nicht wahrnehmen.
Jeder Lenz läßt auch da Blüten sprießen, wo noch nie eine Frucht saß; darauf achten jene Menschen aber nicht, halten vielmehr bloß das für möglich, was seit jeher wirklich ist. "Das war nie so," wehren sie ab, wann immer ein ungewohnter Vorschlag kommt. So verfehlen sie sich jedoch gegen den Schöpfer des Frühlings, der von sich sagt: Siehe, ich mache alles neu. Tut nicht bei jeder Begegnung mit einem anderen Menschen ein bisher unbekannter Horizont sich auf? Schlummern in so mancher Beziehung, die zum toten Holz der Routine verdorrt scheint, nicht doch kaumgeahnte Chancen des Neuanfangs? Ich kenne einen Rosenstock, der total erfroren schien, da wuchs ein Trieb aus seiner Wurzel sich wieder zu einem blühenden Busch aus, jetzt allerdings voll schlichter Heckenrosen: dahin ist die hohe Pracht von ehedem, das liebe Leben aber freut sich neu seiner selbst.
Der Frühling des Menschenlebens ist die Jugend im Flor unabsehbarer Möglichkeiten. Wem werden meine Kinder die andere Hälfte ihrer Ahnen verdanken? In welchem Beruf will ich den Menschen nützlich sein? Wer bei diesen Grundfragen den Frühling überspringt und schnurstracks auf die erstbeste Gelegenheit losrennt, wird leicht enttäuscht. Halt! "Du bist ein freies Kind in einem freien Land." Keine Sache sei dein Lebenslauf, sondern eine Folge von Tat-Sachen. "Decision" kommt von "de-caedere" und heißt wörtlich "Abhackung". Eine Tat ist um so freier, je bewußter der Täter sich zuvor der Fülle von Zweigen war, die alle fallen müssen bis auf den einen, der zum Baume wird.
Die Jugend eines jeden Tages ist der Morgen; auch vor dem Rentner, den die Tretmühle entlassen hat, liegen in der Frühe frische Chancen und laden ihn zur Wahl. Denn jeder solche Übergang ist eine Polarität des Seins selbst, letztlich sogar im Dreieinigen Leben verwurzelt, so daß an ihrem Wesen jeder immer wieder teilhat, mag auch der eine oder andere symbolische Ausdruck an bestimmte Etappen gebunden sein. Es ist das ähnlich wie bei der Geschlechter-Polarität: Nicht jeder Mensch ist eine Frau, jeder hat aber am Wesen des Weiblichen Anteil und soll auch seine weibliche Seite leben. - Soviel zur Verdrängung des Frühlings.
Doch auch beim Gegenpol kann die Balance scheitern. Wer sich in eine Blütenpracht allzusehr verliebt, bleibt schließlich fruchtlos. "Ich kann mich nicht festlegen," heißt es oft; aus lauter Freiheitssucht kann jemand zu jeglicher Bindung unfrei werden. "Wer denkt, heiratet nicht," dieses portugiesische Sprichwort ist doppelt lesbar: Hatte es im Frühling gewarnt (denk erst einmal, schau dich um, prüfe!), so ermuntert es im Sommer: Schluß mit dem Denken, greif zu, bald ist es zu spät. Wollten Baumblüten sich noch so sehr gegen die Bienen sträuben, abfallen müßten sie doch. Nicht nur Manager und Künstler müssen das tägliche Chaos der Möglichkeiten entschlossen zu je einer beschränkten Realität verdichten, für jedes Glücksgeschäft und Lebens-Kunst-Werk gilt dasselbe Gesetz: "Wer Großes will, muß sich zusammenraffen" (Goethe).
Wer beide Einseitigkeiten meidet, also zuerst seine Möglichkeiten sich ausbreiten läßt und dann eine verwirklicht, wird von einer dritten Gefahr bedroht: falsch zu wählen. Auch Böses bietet sich an. Wie schafft es der Baum, gute Früchte zu bringen? Indem er gut ist, weiß Jesus (Mt 7,17). Und wie schafft er es, gut zu sein? Die Frage sprengt unser Thema. Beim Entschluß mit Gottes gutem Willen im Einklang zu sein, diese höchste Lebenskunst läßt sich zwar üben; eben dies ist das Ziel der geistlichen Übungen des Ignatius. Offenbar kann es aber trotz fleißiger Exerzitien verfehlt werden, nicht alle Vorwürfe gegen Jesuiten sind ungerecht.
Leicht war die Unterscheidung der Geister zu keiner Zeit. Einer der ungeheuersten Neu-Anfänge unserer Geschichte war die Begegnung mit Amerika vor 500 Jahren. Wie hätten sich die Spanier in Mexiko verhalten sollen? Heute werden sie als böse Imperialisten auch deshalb beschimpft, weil sie vor der fremden Religion keine Achtung hatten. Nun bestand aber diese Religion hauptsächlich aus Menschenopfern: Bei großen Festen der Azteken wurde für den Blutdurst der Götter Tausenden ihr noch zuckendes Herz aus der Brust gerissen! Mögen die europäischen Soldaten noch so unchristlich gelebt haben - um diesen Gottesdienst teuflisch zu finden, waren sie Christen genug. Darauf erwidern Indianer, noch grausamer als ihre Opferkultur sei die abendländische "Massaker-Zivilisation": Europa soll an seine Hexen, Ketzer, Juden denken und vor allem an die Millionen von Indios und Negersklaven, die dem weißen Obergötzen Mammon hingeopfert worden sind!
Damit unser Geist in diesem Strudel des Weltbösen nicht ertrinkt, muß er bis zu dessen Grund tauchen, wo Gottes Gericht das Böse überwindet. Nur in der Kraft solcher Hoffnung können wir dann gleichsam neben dem Strudel wieder auftauchen in die eigene kleine Welt. Das Ozonloch kann ich so wenig hindern wie die Ausrottung der Indianer - wozu soll ich mich aber, in Gottes Namen, jetzt frei entschließen? Nicht alle Frühlingsblüten können Sommerfrüchte werden, welche kann, soll, will ich fördern? Da hilft eine theoretische Rede niemandem mehr, außer indem sie auf die Frage hinweist.
Nein, das Leben gleicht nicht einer Eisenbahn, die auf festgelegter Strecke unfrei drauflosbraust. Es gleicht auch nicht dem überfreien Auto auf dem großen Salzsee. Vielmehr ist es wie eine Trambahn, die an ihr Gleis gebunden ist, immer wieder aber wird sie von einer Weiche erregt. Davor gilt das Prinzip Neu, symbolisiert vom Frühlingsbaum, der uns zuruft: Freu dich deiner Möglichkeiten. Nach der Weiche dagegen gilt das Prinzip Treu, an das der Sommerbaum uns mahnt: Laß die Frucht deines Entschlusses reifen. Der Augenblick der Entscheidung schließlich, da die waagrechte Zeit vom Blitz aus der Höhe getroffen wird, er ist zugleich Mitte und Verewigung der ganzen Polarität Frühling/Sommer; versinnbildet wird das je entscheidende Jetzt vom bienenumsummten Baum, an dessen Zweigen neben vielen letzten Blüten schon die ersten Birnchen sitzen.
Schenke uns Gott, daß wir den "Kairós" immer recht prüfen (Lk 12,56) und diese drei Zeiten klar unterscheiden: wann Offensein für Neues "dran" ist, wann Treue zum Alten und wann der Entschluß, der das Neue schließt und die Treue eröffnet. Denn nur so - weil das Herz des Frühlings und des Sommers Gott ist - werden wir seinem erlösenden Auftrag gerecht: "Ich habe euch bestellt, daß ihr hingeht und Frucht tragt und eure Frucht bleibt" (Joh 15,16).
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