Jürgen Kuhlmann

Unser göttlicher Rhythmus

Mitte

Die Würde des Jetzt

Ach wäre es doch bloß schon Freitag, diesen Seufzer hört man bisweilen an irgendeinem trüben Montagnachmittag. Schwer lastet die Arbeitswoche auf dem Gemüt, am liebsten möchte es ihr Gewicht abschütteln und hinüber in die nächste freie Zeit springen. Verstehen können die meisten von uns solchen Wunsch. Ist er aber nicht trotzdem zum Erschrecken? Da wünscht jemand eine Portion seines Lebens - wohin? Ins Nichts. Die Zeit von Dienstag bis Donnerstag sollte es gar nicht geben. Gottes wunderbares Geschenk an uns Geschöpfe, das Jetzt, wird zurückgewiesen.

Zum Glück wird jener Satz meistens nur so dahin gesagt, ist nicht ernst gemeint. Schlüge dem Seufzenden eine Fee vor: wenn du willst,ist es schon Freitag - ich glaube, die wenigsten nähmen an. Dennoch bedeutet ja jedes lustige Wort immer auch einen ernsten Sinn, ähnlich wie manche Tabletten unter süßem Überzug einen bitteren Kern verstecken. Bei den Tabletten ist diese Methode vernünftig, denn die Medizin soll ins Blut; was der Mund fühlt, ist für die Wirkung egal. Anders bei geistigen Beschwerden; sie müssen auch geistig behandelt werden, das heißt wir sollten verstehen, worum es geht, nur dann gibt es Heilung. Wenn jemand, statt heute, schon übermorgen lebt, dann ist das nicht gesund.

Auch die gegenteilige Krankheit ist uns bekannt: statt heute nur vorgestern zu leben. "Man müßte nochmal zwanzig sein und so verliebt wie damals." Wahrscheinlich hätte die Fee auch in diesem Fall keinen Erfolg; mancher, der einen solchen Wunsch leichtsinnig daherträllert, würde entsetzt abwehren, wenn er auf einmal wieder zwanzig sein sollte: was, den ganzen Schlammassel noch einmal? Danke nein.

Seltsames Geheimnis, das Jetzt! Wir träumen uns von ihm weg, entweder voraus in die Zukunft, die ja aber noch nicht ist (und vielleicht - für uns - nie kommt) oder wir wünschen uns zurück ins Vergangene, das aber nicht mehr ist; doch sind solche Wünsche nur halb ernst gemeint, denn im Grunde wollen wir sein, wirklich sein aber können wir nur heute, jetzt. Das war immer so und wird nie anders sein. Als irgendwo ein Urmensch zum ersten Mal Feuer machte, da war es jetzt; wenn irgendwann der erste Mensch im Weltraum geboren wird, wird auch dieses Ereignis jetzt sein, ebenso wie alle Geschehnisse dazwischen, z.B. auch unsere Zusammenkunft hier.

Jedes Jetzt ist mit jedem anderen gleichberechtigt. Wohl ist die eine Zeit angenehmer als die andere, sogar der Heiligste oder Weiseste sitzt lieber am Frühstückstisch als auf dem Zahnarztstuhl - außer er hat Zahnweh. In dem aber, worauf es ankommt, in ihrer tiefen Wahrheit, teilen alle Augenblicke sich in dieselbe Würde: sie sind jetzt. Deshalb brauchen wir uns vor nichts Gewesenem oder Künftigem zu verstecken. Auch wir sind jetzt, mehr waren die Früheren nicht, Besseres werden die Kommenden nicht sein. Umgekehrt sollen wir uns auch nicht hochmütig über andere Zeiten erheben; denn worauf wir so stolz sind: daß wir jetzt da sind - das war die Wahrheit der Toten ebenso wie es der Wert der noch Ungeborenen sein wird. Wir gehören als Gleiche dazu, das sei uns genug.

Auf sein jeweiliges Jetzt soll ein Mensch sich gesammelt konzentrieren, und das muß man üben. Jetzt bin ich da. Diesen Augenblick will der Schöpfer. Es werde - diese(r) jetzt, spricht Gott, und ich bin. Das ist der innerste Sinn der mahnenden Bibelworte über jetzt oder heute. Die sollen wir nicht bloß neugierig lesen: wie war es denn damals, als der Verfasser "jetzt" schrieb? Das ist gewiß eine interessante Frage für Gelehrte und uns, ihre Leser; der Glaube aber (auch des Gelehrten) versteht nicht "damals", sondern was dasteht: heute, jetzt. "Erwählt euch heute, wem ihr dienen wollt" (Jos 24,15); "es kommt die Stunde und jetzt ist sie da" (Joh 5,25); "jetzt ist der Tag des Heils" (2 Kor 6,2).

Wahrscheinlich möchte mancher dem widersprechen: Was soll solche Konzentration nur auf das Jetzt? Ein Mensch muß doch planen, seine Zukunft in die Hand nehmen. Und er soll sich auch erinnern. Eben das, Voraussicht und Gedächtnis, macht ihn zum Menschen. Ganz in den gegenwärtigen Moment gebannt sind die Tiere. Wieder wie die Tiere zu werden, das kann doch wohl kein christliches Ziel sein!

Natürlich nicht. Von ihnen lernen aber sollen wir. Wie wach, wie voll dem Jetzt zugewandt ist etwa ein Hund, der auf den Stockwurf seines Herrn wartet. Ebenso intensiv "da" sollen auch wir sein, freilich auf menschliche Weise. Während das Jetzt beim Tier einem verlorenen Punkt gleicht, ohne Beziehung zu gestern und morgen, ist derselbe Punkt beim Menschen viel lebendiger, weil er als Gegenwartspol wie zwischen zwei Stahlfedern schwingt: die rechte heißt Erinnerung, verknüpft das Jetzt mit dem, was war; die linke Feder heißt Hoffnung und verbindet den Augenblick mit der Zukunft. Je stärker das Kraftfeld zwischen Gedächtnis und Erwartung eine Seele schwingen läßt, um so menschlicher, vernünftiger, wirklicher dürfen wir ihre Augenblicke nennen.

Der Unterschied zwischen krank und gesund liegt darin, ob jemand zu leben plant oder planend lebt, ob er in der Erinnerung lebt oder sich erinnernd jetzt lebt. Gottes Schöpfung ist das Jetzt, je in diesen Augenblick sind wir gestellt. Wie er sich uns zeigt, ob mehr als pures Jetzt oder mehr als lebendige Erinnerung oder mehr als aktuelle Zukunft, das hängt von den Umständen ab. Das pure Jetzt gilt z.B. beim Überholen auf nächtlich voller Autobahn; dabei sollte niemand in seinen Gedanken gestern oder morgen sein.

In anderen Situationen ist die Erinnerung dran, heute aber, das heißt: die Seele sei sich der Spannung zwischen damals und jetzt bewußt. "Kehre um und tu die ersten Werke" (Offb 2,5)! Zuchtloses Schwelgen in früheren Freuden; Jammern, wie öde doch jetzt alles sei, das ist im Grunde Unglaube, weil man so tut, als wäre die jetzige Welt nicht Gottes Geschöpf. Durftest du ehedem Honig schlecken, dann nutze seine Energie für das, was es jetzt zu tun und zu tragen gibt.

In wieder anderen Zeiten heißt es planen, die Zukunft vorbereiten, nicht wie das berühmte Milchmädchen jedoch, das vor lauter Träumen von ihrem künftigen Glück die Milch verschüttete, so daß aus dem Reichtum nichts wurde. Auch uns auf die ewige Zukunft bei Gott freuen dürfen wir immer wieder einmal, aber nur fest ins Jetzt beißend; wem die Vorfreude auf den Apfelgeschmack den Mund weit offen stehen läßt, der wird enttäuscht. Mit Recht mahnt Angelus Silesius: "Die Zeit ist edeler als tausend Ewigkeiten: Ich kann mich hier dem Herrn / dort aber nicht bereiten"[5,125].

Weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft dürfen wir mithin so verschwinden, daß die Gegenart leer bleibt, sonst fehlt in der Melodie unseres Lebensliedes ein Ton, das gibt eine Störung im himmlischen Konzert. Wie läßt sich das Jetzt-Bewußtsein einüben? Z.B. bei einer Geh-Meditation. Auf dem Weg - sagen wir zur Garage, ins Nachbarbüro oder beim Einkaufen - spüre zuweilen deinen Fuß, der auf festen Grund tritt. Und sage dabei: dieser Fuß jetzt - bin ich. Der Grund, der mich stehen und gehen läßt, ist das Jetzt, wird in diesem Augenblick von DIR geschaffen, mein Gott, und in DICH hinein verewigt, nicht leer, sondern zusammen mit mir. Alles, was "es gibt", besser was irgendwann irgendwo DU gibst, ist jetzt. Dieses Jetzt nimmt meine Fußsohle wahr, in ihr ich selbst, in mir DU selbst, mein innerstes Leben, das - alles Werden und Vergehen in sich zusammenhaltende - Ewige JETZT.

"Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht,
So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht."

(Andreas Gryphius, 1616-1664)


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