Jürgen Kuhlmann

Unser göttlicher Rhythmus

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Vertrauen zum Herbst

Je älter ein Mensch wird, um so mehr Moden hat er miterlebt. Der Rocksaum der Damen wandert hinauf und hinunter, die Hosen der Herren werden mal weiter, mal enger. Bedeutsamer sind die geistigen Moden. Manches galt in der einen Epoche als selbstverständlich und wurde in der nächsten mit tiefster Verachtung abgetan. Mit hängender Zunge hetzen Leute, die geistig "in" sein möchten, hinter dem Zeitgeist her, lesen eifrig die neuesten Artikel in den führenden Blättern und gelangen doch nie an ein Ziel: ist es doch das Wesen der Mode, daß sie sich immer ändert. Auch die Kirche kennt ihre Moden, das zeigt ein Blick in fromme Schriften von vorgestern ebenso wie ein Besuch in geistlichen Häusern, wo Christen verschiedener Generationen sich aneinander reiben.

Aber das Wesen des Glaubens wandelt sich nicht. Mit Recht hat der amerikanische Bischof F.Sheen von der Kirche gesagt, daß sie nie den Zeitgeist heiratet, sie würde sonst gar zu oft Witwe. Vielmehr bleibt sie für immer dem treu, dem sie angehört: Jesus dem Lebendigen. Während wir noch in schwankendem Kahn dahinschaukeln, steht Er, der Auferstandene, schon am Ufer (Joh 21,4), auf dem festen Grund der Ewigkeit. Weil in seinem Blick unser Sein liegt, deshalb sind auch wir schon über den Wechsel der Zeiten hinaus, obwohl wir immerfort noch von ihm mitgerissen werden. Es ist ähnlich, wie wenn Menschen sich auf einem Kettenkarussell herumwirbeln lassen: Alles dreht sich, man saust aufeinander zu und voneinander weg; die Mittelachse aber ist ungeheuer stabil, rührt sich kein bißchen vom Fleck. Darum ist der äußere Wechsel nicht Chaos, sondern Tanz; dank seinem Schwung außen ist die innere Ruhe nicht Starre, sondern Leben. So kreisen unsere Tage und Jahre, immer schneller scheint schon wieder ein Rundlauf vorbei, immer höher und weiter geht es hinaus.

Wem da schwindlig wird, weil jetzt das eine gilt und dann sein Gegenteil, dem hilft der vertrauende Blick nach innen, auf die Mitte, die stets dieselbe bleibt. Vielleicht begreift er plötzlich, was auf der ersten Seite der Bibel steht: "Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht." Ich kenne einen Menschen, den während einer Osternachtfeier dieser Satz aus Zweifelskummer gerissen und wieder fest auf die Füße des Glaubens gestellt hat: Unser Weltbild ist also keine Illusion, stammt nicht bloß aus wahnhafter Orientierungssucht, wirft nicht nur selbstfabrizierte Rasterlinien über eine unerkennbare, sinnlose Welt. Sondern Gott selbst unterscheidet und nennt, gewiß schon im Blick auf Jesu Menschwerdung. Damit er sich auskennen würde, darum hat der Schöpfer die Sprache sich bilden lassen, und als er über die Erde ging, hat er kein leeres Sprachspiel getrieben, sondern sein Eigenes wahrhaft erkannt.

Und "wir haben den Sinn Christi" (1 Kor 2,16). Tag und Nacht sind beide wahr, wenn sie gerade dran sind; weil die Erde sich dreht, schwindelt die Sprache nicht, und obwohl alles kreist, soll auch uns nicht schwindeln. Nicht bloß Mode oder Rausch lassen die Welt taumeln, sondern Gottes Sinnfülle ist so gewaltig, übersteigt so sehr unsere Fassungskraft, daß es die Abwechslung gegensätzlicher Wahrheiten braucht, damit wir die Wahrheit wenigstens ahnen. Sie ist in sich ähnlich einfach wie das weiße Sonnenlicht, dessen innere Fülle sich uns aber nur im bunten Farbkreis zeigt. Nach der Sintflut verspricht Gott: "Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht" (Gen 8,22). Sonne und Regen, können wir ergänzen, deshalb wird der Regenbogen zum Bundeszeichen (9,13). Vom Ineinander der Gegensätze wird er erzeugt und leuchtend bunt geschmückt, zum Zeichen dafür, daß aller irdisch notwendige Widerspruch von Gottes Treue umgriffen und auf ewig versöhnt ist.

Was bedeutet diese Einsicht konkret? Nun, wir nähern uns wieder der Grenze zweier Jahreszeiten. Noch ist es Sommer, noch erfreuen uns lange, warme Tage, doch schon kündigt der Herbst sich an. Sooft eine Wolke sich vor die Sonne schiebt, weht der Wind merklich kühler. Welchen geistlichen Sinn offenbart uns dieser Teil des Jahreskreises, welcher inneren Wahrheit entspricht die äußere Wirklichkeit? Das zu erkennen, wollen wir den nämlichen Punkt auf den anderen Lebenskreisen suchen. Wann im Tageslauf wandelt der Sommer sich zum Herbst? Am Nachmittag, zwischen Tag und Abend. Noch ist die Sonne kräftig, verliert aber schon langsam an Energie; noch ist der Mensch mit seinem Tagewerk beschäftigt, zuweilen denkt er aber schon an den Feierabend. Und wenn wir diesen kleinen Rhythmus nunmehr mit dem großen Bogen eines ganzen menschlichen Daseins vertauschen, dann finden wir uns in jenem Lebensabschnitt, da der reife Erwachsene sachte zu altern beginnt. Längst kann er nicht mehr so kräftig radeln wie früher, auch spielt sein Gedächtnis ihm manchen Streich, dafür wächst aber sein Überblick, als Ernte vieler Jahre pflückt er im Garten des Geistes Gelassenheit und Toleranz. Ja, der Dichter (Rilke) hat recht: "Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen."

Man sieht: Es ist tatsächlich derselbe Sinn, der sich in den verschiedenen Kreisen von Jahr, Tag und Menschenleben vollzieht. Ihn erfährt unmittelbar, ohne schwierige Überlegungen, wer eine solche Etappe gerade durchlebt. Ist damit aber schon alles gesagt? Oder verbirgt sich tief in solchem Stimmungswandel des vergehenden endlichen Wesens ein ewiger, bleibender, weil göttlicher Sinn? Beachten Sie wohl: Ich frage nicht nach einem anderen Sinn hinter, über oder nach dem Erlebnis. Denn die Kirche ist lernfähig. Der leidenschaftliche Protest so vieler kritischer Menschen gegen kirchlich verschuldete Selbstentfremdung und Weltverfinsterung darf die Glaubenden nicht kalt lassen, "Brüder, bleibt der Erde treu," dieser Aufruf verpflichtet die Christen, ist übrigens nichts als ein Echo dessen, was nach Christi Himmelfahrt die Engel den Jüngern zuriefen: Schaut nicht hinauf! Keine Hinterwelt suchen wir, kein Reich reiner Ideen und kein Jenseits, wohl aber die tiefe, eigentliche Wahrheit dieser unserer realen Wirklichkeit, jetzt also des Übergangs vom Sommer zum Herbst, vom Tag zum Abend, von der Lebensmitte zum Beginn des Alterns.

Dieser Zeitenwechsel enthält einen ewigen Sinn, drückt ein Stück der Wahrheit aus, daß uns am Leben der Dreieinigkeit Anteil geschenkt wird. Daß dies so ist, lehrt die Kirche. Wie es zu vertehen sei, lernen wir an vielfachen Gleichnissen; eines davon ist der Rhythmus der Zeiten. Erinnern wir uns an das Beziehungsgefüge der göttlichen Personen: Des Vaters DU bezieht sich auf das ICH des Sohnes im EINS des Heiligen Geistes. Offenbar stehen Sommer, Tag und Lebensmitte für das reife Ich; gegen dessen Versuchung, nur auf sich selbst zu beharren, egoistischer Klotz zu sein statt ein Pol der größeren Spannung: gegen diese Gefahr warnt uns täglich, jährlich und bei einsetzendem Alter eben der Übergang, den wir bedenken. Ein beziehungsloses Ich ist auch dann tot, wenn es scheinbar in vollem Saft steht. Nur wer sein Klotz-Leben zu verlieren bereit ist, wird sich als Pol des wahren Lebens gewinnen. "Zu Dir hin hast Du uns geschaffen und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in Dir" (Augustinus). Wir sollen unser Ich leben, durchaus; wer Kinder hat, weiß ja, wie sehr Eltern sich freuen, wenn ihr Kind selbständig wird und sich etwas zutraut. Alles gönnt uns unser Gott, ja mehr als alle Dinge: uns selbst. Solche Gewißheit erfüllt uns mit hohem Mut, wenn der Sommer glüht und glänzt, Tag und Leben in uns jauchzen. Darin hat der Jüngere der verlorenen Söhne recht gegen den Älteren, der von seinem Ich nichts weiß, sich nie etwas gegönnt hat und den Vater nicht begreift, wie der ihm beteuert: "All das Meinige ist doch dein" (Lk 15,31). Doch darf der hohe Mut nicht zum Hochmut erstarren, deshalb geht der Mittag auch des Jahres, auch des Lebens sanft aber unaufhaltsam in den Abend über, wo ich mich DIR zuwenden soll, dem guten Herrn des Ganzen. Ich überblicke es ja nicht, kann nie wissen, was DU aus meinem Tun ernten wirst. Ich vertraue aber, "daß denen, die Gott lieben, alles zum Guten zusammenwirkt" (Röm 8,28).

Alles! Erfolg und Mißlingen, Scheitern oder Sieg. In DEINEN Augen sieht des Irdischen Wert sich anders an als in unseren. Bei Jesu Kreuzigung merkten die Gaffer nicht, daß hier einer den allerschwersten Sieg errang: den Triumph über den Tod. Bescheidene Sommerblüten reifen zum "Wein, der des Menschen Herz erfreut" (Ps 104,15), was ist dagegen - Hagebutten-Tee? Doch sei die Rose nicht verachtet, auch ihre Pracht spendet Glück. Sie dünke sich aber nicht größer als die Traubenblüte, nur miteinander sind Sommer und Herbst ganz sie selbst, nur ineinander gelten das stolze Ich und die Hingabe ans Du. Ich ohne Du endet am Schweinetrog, Du ohne Ich in neidischer Wut.

Noch einen Rhythmus gibt es, der alle Sinnmomente zueinander fügt, den kürzesten von allen: unser Atmen. Da erfahren wir Nu für Nu denselben Reichtum, der sich in den anderen Rhythmen über längere Zeiten auseinanderlegt. Der Schritt vom Sommer zum Herbst vollzieht sich, wenn du tief eingeatmet hast, kurz die Luft anhältst und dann wieder mit dem Ausatmen beginnst. Während du scheinbar verlierst, wird tatsächlich der gewonnene Sauerstoff geerntet und vom Blut verteilt.

Angenommen, du bist nach einem Unfall Atemspender am Rande der Autobahn, dann zeigt sich - symbolisch im höchsten Maße, nämlich real und existentiell - der Kreis der Liebe: Des einen Ausatmen ist des andern Einatmen. So ist der deutsche Herbstabend ein Frühlingsmorgen in Neuseeland und die Großmutter erzählt ihrem Enkel das Märchen, das sein Urvertrauen stärkt.

Weil das Zueinander aller Takte des Rhythmus, das Ewige Leben, auf uns wartet, deshalb brauchen wir weder (wie die meisten) während einer Verlustphase noch (wie Eulenspiegel) schon vor ihr verdrießlich zu sein, können uns vielmehr intensiv auf den Sinnpol einlassen, der gerade dran ist, und so Jesu Wort befolgen: "Gott, in Deiner Hand sind meine Zeiten" (Ps 31,16).


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