Jürgen Kuhlmann

Unser göttlicher Rhythmus

1

Komm, holder Frühling!

Warum sind wir alle Jahre wieder von den ersten Schneeglöckchen und Krokusblüten so herzlich entzückt? Hatte der Winter denn nicht seine schönen Seiten? Und wird die immer gleiche Alltagsplackerei nicht durch die Frühjahrsmüdigkeit noch zusätzlich erschwert? All das mag so sein. Und doch dürfte sogar der begeistertste Skifahrer beim Anblick der ersten schüchternen Frühlingsblüten auch Freude empfinden. Warum? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten, eine weltliche und eine christliche. Scheinbar widersprechen sie einander, in Wahrheit gehören sie zusammen. Den Widerspruch drückt Gilbert Chesterton einmal so aus: Was unterscheidet den Glaubenden vom Ungläubigen? Sehr einfach: Für den Ungläubigen ist Ostern ein Frühlingssymbol, für den Christen dagegen ist der Frühling ein Symbol für Ostern. Sehen wir uns diesen Gegensatz näher an.

Bei aufgeklärten Menschen ist die Meinung verbreitet: Ostern, das ist ein Frühlingssymbol. Neu erwacht die Natur aus ihrer winterlichen Todesstarre, frisch sprießt das lebendige Grün. Da bedeutet Christi Auferstehung diesen Sieg des Lebens über den Tod und soll uns ermuntern, in unseren Kämpfen stets neu die Partei des Lebens zu ergreifen, gegen Resignation, Routine und allerlei toten Formelkram. Ostern ist ein Frühlingssymbol.

Die Christen behaupten kühn das Gegenteil: der Frühling sei ein Symbol für Ostern. Den Höhepunkt der Menschheitsgeschichte voraussehend, hat der Schöpfer den Frühling sich ausgedacht, um uns Jahr für Jahr mit allen Sinnen an die Osterwahrheit zu erinnern: Fürchtet euch nicht! Welken und Tod haben ihre Schrecken verloren, ein Kind Gottes kann nie sterben. Hört ihr die Vögel jubeln, riecht ihr den süßen Blütenduft? Glaubt dieser Botschaft. Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai, sogar auf den Schnee deiner Haare.

Ist eine dieser Sichten falsch? Ich glaube, nein. Im Gegenteil: Wir sollten mit aller Kraft von Geist und Herz uns anstrengen, beide Perspektiven zusammenzuschauen. Vielleicht haben Sie als Kind mit so einem Stereo-Guckkasten gespielt, wie es sie früher gab: Man steckt ein Doppelfoto hinein und sieht ein wunderbar räumliches Bild vor sich. Das geht aber nur mit beiden Augen. Wer eines zukneift, sieht bloß ein flaches, der Wirklichkeit minder treues Abbild.

Ähnlich ist es bei der Frage nach dem Sinn des Frühlings. Wer ihn nur weltlich anschaut, versinkt bei den ersten linden Lüften leicht in noch schlimmere Depression, wie etwa ein KZ-Häftling, der für die Wachmannschaft einen Festsaal dekorieren soll: Je prächtiger, um so gräßlicher verlogen ist das Ganze. Hätte nur die aufgeklärte Sicht recht, dann fiele jeder von uns am Ende ins Nichts, gliche deshalb jetzt schon dem Eingekerkerten mit dem Todesurteil um den Hals, nur das Datum der Hinrichtung fehlt. Wird er lustig sein?

Umgekehrt hat auch der einseitig fromme Blick seine Gefahr: die Entwertung der Wirklichkeit. Dieses unser begrenztes Leben wird vom Schöpfer bejaht. Gilt aber der Frühling für nichts weiter als ein Ostersymbol, dann kommt es allzu leicht (wie es ja auch kam) zu weltflüchtiger Jenseitssucht. DANN wirds schön, was liegt an jetzt? Wer so dächte, hätte das Christentum gründlich mißverstanden. "Was steht ihr da und schaut zum Himmel hinauf," mit diesen Worten (Apg 1,11) tadeln Gottes Boten den erd-entfremdeten Blick der Jünger - nicht nur damals! Denn die Bibel spricht in jede Zeit hinein. Nein: das blühende, schäumende irdische Leben, wie es jetzt neu aufbricht, ist nicht bloß wesenloses Symbol für etwas Anderes, Späteres, Höheres. Sondern unmittelbar dieses Leben ist schon das ewige! Nicht nach drüben, auf irgendwelche Wolken werden wir versetzt wie jener Bayer im Himmel, der an Halleluja und Manna keinen Spaß hatte. Im Gegenteil: die Wolkendecke, die unsere Erde jetzt von der Sonne des Heils trennt, sie reißt plötzlich auf, und dieselbe Landschaft, die uns so winterlich grau vorkam, liegt göttlich strahlend vor uns. Welche Landschaft? Eben das jeweilige Hier und Jetzt unseres einzigen Lebens vom Moment der Zeugung bis zur Todesstunde. Denn der ganze Mensch zwischen diesen beiden Enden, das bin ich, und dem, der ich bin, ihm und keinem andern verheißt Gott Auferstehung und Ewiges Leben. Somit hat der weltliche Blick recht: Ostern ist ein Frühlingssymbol, dank Ostern können wir glauben, daß auch dieser Frühling unendlich wahr und wirklich ist, jetzt schon, nicht nur, weil uns nach der Zeit ein anderer, ewiger Frühling bevorstünde. Nur deshalb können wir das aber glauben, weil umgekehrt auch der Frühling ein Symbol für Ostern ist. Beide Offenbarungen erläutern einander.

Schwirrt Ihnen jetzt der Kopf? Ich gestehe: mir auch. Unser Verstand ist halt kein Stereo-, sondern ein Mono-Apparat. Zwar hat jeder Mensch auch ein geistiges Stereo-Gerät in sich, das ist aber nicht der Verstand, sondern die glaubende Vernunft (von "vernehmen"). Sie ahnt zugleich, während der Verstand nacheinander den einen und dann den anderen Mono-Wahrheits-Pol begreift, wie diese Pole miteinander die volle Stereo-Wahrheit bilden. Und weil die Vernunft das ahnt, kann sie den Schein des Widerspruchs, vor dem der Verstand zurückscheut, in gläubiger Gelassenheit aushalten.

Zur Erholung von dieser Denkarbeit schlage ich Ihnen einen kurzen Selbstversuch vor, den Sie nie mehr vergessen werden. Suchen Sie sich in einiger Entfernung einen Gegenstand, sagen wir eine Altarkerze, und fassen Sie ihn scharf ins Auge. Strecken Sie dann einen Arm aus und halten Sie einen Finger vor diese Kerze. Was sehen Sie? Zwei Finger, und dazwischen die Kerze. Wenn Sie jetzt abwechselnd ein Auge zukneifen, hüpft der Finger um die Kerze herum, mal ist er rechts von ihr, mal links. Und jetzt stellen Sie sich vor, jemand kommt daher und fragt Sie: "Sag mal, wo ist der Finger denn nun wirklich, rechts oder links? Eine klare Antwort will ich, entweder/oder!"

So wie Sie einen solchen dummen Frager anschauen würden, ähnlich hilflos blickt die gläubig ahnende Vernunft drein, sooft ein unfrommer oder frommer Mensch mit Mono-Verstand ihr beweisen will, daß seine Sicht die einzig wahre ist. Achten Sie bei derlei Versuchen auf die typische Wendung "nichts als", darin steckt meist die Lüge. "Ostern ist ein Frühlingssymbol" - das stimmt. "Ostern ist nichts als ein Frühlingssymbol," so ist der Satz falsch, weil er die Tatsache der Auferstehung leugnet. Eine Violinsonate ist ein Kratzen von Pferdehaaren über Katzendärme, das schon. Ist sie nichts als das? Keineswegs. Sie ist auch eine schöpferische Leistung, auch ein Gebilde aus Melodie, Harmonie und Rhythmus.

In diese Falle ist leider auch Eugen Drewermann getappt. Ist christlicher Glaube erfahrene und hoffende Liebe der einzelnen Seele? Ganz bestimmt ist er das, und deshalb soll der Seelsorger möglichst viel von Psychologie verstehen und auch wissen, welch heilende Schätze in der Bibel verborgen sind. "Gebetstherapie" kann Wunder wirken. "Wandle vor MIR und sei ganz," ist Gottes Weisung an Abraham (Gen 17,1), zu seelischer Ganzheit hat der Schöpfer uns bestimmt, und sie schenkt er uns, verdorrte Kräfte läßt er in frischem Frühlingsgrün sprießen, wenn wir ihn bitten und das Unsere tun. Dazu gehört heute auch die einem jeden mögliche Vertrautheit mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie. Sie allein macht es aber auch nicht. Wenn - so Drewermann - "Glauben sich wesentlich an die Person einzelner Menschen bindet und nichts weiter sein kann als erfahrene oder hoffende Liebe, wie kann es dann noch ein Lehramt geben [Publik-Forum 22/91,20]?" Glaube ist aber nicht nur innere Liebeserfahrung, sondern bezieht sich auch auf das, was vergangene Geschlechter und jetzt das Lehramt mir sagen. Wie solche Beziehung aussehe, ist wieder eine andere Frage, gewiß soll sie keine versklavende Herrschaft fremder Wörter über meinen Verstand sein; im Allermeisten verdient Drewermann Zustimmung. Aber nicht in jenem Nichts-als-Satz.

Der Übergang vom Winter zum Frühling ist nur eine Weise, wie der erste Schritt des geschöpflichen Aufstiegs vom Nichts zur Gottheit sich uns offenbart. Wenn der fast erstickte Taucher endlich Luft schnappt, der Genesende die ersten wackligen Schritte ins Freie tut oder wenn eine lang weggeschobene Aufgabe endlich angepackt wird und gelingt: überhaupt bei jedem Anfang strömt des Schöpfers Schaffensfreude auf uns über und quillt aus innerster Tiefe als Lust des Beginnens ins Bewußtsein. Der Gesunde verspürt sie an jedem Morgen beim Aufwachen; "ewiges Leben, das heißt: Tag um Tag Neues Leben" (Wilhelm Klein).

Damit sind wir beim Kern des Frühlings. "Anfang" ist selbst etwas Göttliches. Meist stellen wir uns Gott wegen seiner Ewigkeit als uralt vor: ein Wesen, das schon unendlich viel hinter sich hat, wird passenderweise mit weißem Bart dargestellt. Auch diese Wahrheit verdirbt aber sofort, wenn sie nicht von ihrer Gegenwahrheit ausbalanciert wird: Gott ist immer, auch jetzt und bis zum Jüngsten Tag, der ewig Neue. In uns und unseren Nachkommen hat das schöpferische Prinzip noch unfaßbar viel vor, voll Begeisterung stürzt der kreative Schwung des Alls sich auf die frischen, unverbrauchten Möglichkeiten. Die Lust des Buben, der sein neues Rad einweiht, ist darum ebenfalls göttlich, nicht nur die Andacht des Großvaters beim Bibellesen. Heil ist, wer die Prinzipien Treu und Neu in knisternder Spannung hält. Als Augustinus und seine Zeitgenossen vor den germanischen Barbaren zitterten und das absehbare Ende ihrer Kultur mühsam genug ertrugen, da ahnten sie nichts von einer Bach-Fuge im Kölner Dom. Welche Kirche wird im globalen Dorf von übermorgen stehen? Wer nur die heutige von vorgestern kennt, dem ist mit Recht bange. Hat Bertolt Brecht aber vielleicht, ohne es zu ahnen, in seinen schönen Zeilen ein Gleichnis der göttlichen Freude über den künftigen Glaubensfrühling gedichtet?

"O Lust des Beginnens! O früher Morgen!
Erstes Gras, wenn vergessen scheint
Was grün ist! O erste Seite des Buchs
Des erwarteten, sehr überraschende! Lies
Langsam, allzuschnell
Wird der ungelesene Teil dir dünn! Und der erste Wasserguß
In das verschweißte Gesicht! Das frische
Kühle Hemd! O Beginn der Liebe! Blick der wegirrt!
O Beginn der Arbeit! Öl zu füllen
In die kalte Maschine! Erster Handgriff und erstes Summen
Des anspringenden Motors! Und erster Zug
Rauchs, der die Lunge füllt! Und du
Neuer Gedanke!"


Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/jahr_w-f.htm

Zurück zur Leitseite von Jürgen Kuhlmann

Siehe auch des Verfassers Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann