Jürgen Kuhlmann
Jesus oder Christus?
Nein: Jesus Christus!
Stundenlang an ein Kreuz festgenagelt, wehrlos den Bremsen ausgeliefert, von den Freunden alleingelassen und von der Menge verhöhnt, ist Jesus einen scheußlichen Tod gestorben. Aber - stellen viele kühl fest - das ist nichts Besonderes. Tausende sind von Persern und Römern gekreuzigt worden, Millionen anderswo von Mitmenschen grausam getötet: auf Schlachtfeldern und Scheiterhaufen, in Folterkellern, Vernichtungslagern und wer weiß wo überall sonst. Warum soviel Aufhebens um diesen einen jungen Juden? Weil er Gottes Sohn sei, sagt die Kirche. Sind wir das aber nicht alle, Töchter und Söhne Gottes? Wenn ja: Dann paßt es sich für das Gotteskind Jesus nicht, über seine Geschwister hinaus etwas Besonderes sein zu wollen. Wenn nein: Dann ist auch Jesus nicht interessant.
Ohne Ausweg aus dieser Zwickmühle bleibt das Christentum den meisten Zeitgenossen unverständlich. Sie stellt eine aufregende Frage nach uns selbst: Sind (1) wir Menschen allesamt, auch Jesus, Töchter und Söhne Gottes - oder ist (2) ER in Wahrheit der einziggeborene Sohn des Vaters, dem allein Anbetung, Weihrauch und Dank gebührt dafür, daß er uns nichtige, ja sündverlorene Geschöpfe zu himmlischen Freuden einlädt - vorausgesetzt, wir sind demütig einverstanden mit diesem unendlichen Abstand zwischen uns Vielen und IHM dem Himmelskönig, der da ist Gott von Gott? Oder läßt sich (3) diese Alternative ergänzen durch ein verstehbares Aufeinander-Bezogensein der beiden gegensätzlichen Glaubensweisen, so daß dank ihrem Zusammenwirken eine vernünftige Glaubensverkündigung an die heutige, demokratisch gesinnte Menschheit möglich wird? Sehen wir zu.
Zwar ist - denken wir an einen Ballon hoch über zwei Bergen - auch dieser Widerspruch nicht so überwindbar, daß eine einleuchtende "dritte These" alle Wahrheitsmomente beider Seiten in sich versammelt und ihre Irrtümer ausschließt. Zum Begreifen des Geheimnisses reicht unser Verstand nicht hin. Vielmehr wird es inhaltlich, in der Dimension logisch stimmiger Begrifflichkeit, beim Gegensatz zweier unvereinbarer Aussagereihen bleiben müssen. Weder rücken die beiden Berggipfel zu einem zusammen noch sieht man vom Ballon aus alle ihre Prachtgärten und Vulkanrisse. Die Versöhnung geschieht vielmehr, quer zum bleibenden Gegensatz, rein formal: Es gibt beiderseits Landeplätze und visumfrei einen regen Besuchsverkehr mit der Folge, daß "Christentum" bald nicht mehr die Bezeichnung für den einen Berg sein wird sondern - draußen wie drinnen! - der Name beider Berge zusammen in ihrem gespannten Zueinander.
So hält man es auch heute schon, was die traditionellen Konfessionen betrifft. Jörg Zink bringt es auf den Punkt. Gefragt, wann die ökumenische Einheit aller Christen und Kirchen kommen werde, antwortet er: "Wenn wir unter ökumenischer Einheit eine mächtige Überkirche verstehen, dann hoffentlich nie. Wenn wir darunter die vielfältige Gemeinsamkeit des Glaubens und der Feier, der öffentlichen Tat und der barmherzigen Liebe verstehen, ist sie Gegenwart, überall, wo wir sie wollen. Das Gemeinsame überwiegt schon heute weit das Trennende." [CiG im Bild 10/2004, 157f]
Gilt das auch bei dem Riß zwischen den Nachfolgern des menschenfreundlichen Juden Jesus und den Anhängern des allmächtigen Himmelskönigs Christus? Schon einmal hat eine ähnliche Spaltung die Christenheit fast zerstört. In ihrem großartigen neuen Buch »Das Geheimnis des fünften Evangeliums« (München 2004; der reißerische Titel stammt vom Verlag) schildert Elaine Pagels, wie im zweiten Jahrhundert der Kirchenvater Irenäus von Lyon sich abmühte, die Botschaft des Johannes-Evangeliums, daß Jesus allein Gott sei, gegen die andere des Thomas-Evangeliums durchzusetzen, laut Jesus selbst wohne das göttliche Licht ursprünglich in jedem Menschen und es komme darauf an, es dort zu entdecken. Die Verfasserin schreibt:
Nachdem ich monatelang das Johannesevangelium mit dem möglicherweise ungefähr gleichzeitig entstandenen Thomasevangelium verglichen hatte, kam ich zu meiner Überraschung zu der Erkenntnis, daß der johanneische Text im Eifer eines Meinungsstreits zu dem Zweck geschrieben wurde, bestimmte Ansichten über Jesus zu verteidigen und andere zu bekämpfen. (40) ...
Für Johannes macht die Identifizierung Jesu mit dem "im Anfang" in die Welt gekommenen Licht jenen zu einem Wesen ohnegleichen - zu Gottes "eingeborenem Sohn". "Das wahrhaftige Licht, das, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet", nennt er ihn, überzeugt, daß Jesus allein Licht in eine ohne ihn in Finsternis getauchte Welt bringt. Gott können wir nach Johannes nur durch das in Jesus verkörperte göttliche Licht erfahren. Das Thomasevangelium hingegen kommt in gewissen Passagen zu einem ganz anderen Schluß: Das in Jesus verkörperte göttliche Licht ist allen Menschen gemeinsam, da wir alle "nach dem Bild Gottes" geschaffen sind. Damit spricht Thomas etwas aus, das tausend Jahre später zu einem Zentralthema der jüdischen - und danach auch der christlichen - Mystik werden sollte: Das "Bild Gottes" ist in jedem Menschen verborgen, wenn auch die meisten seiner Gegenwart nicht gewahr werden.
Es hätten vielleicht einander ergänzende Auffassungen von Gottes Gegenwart auf Erden sein können, aber es sind einander bekämpfende geworden, denn Johannes' Fundamentalsatz, daß einzig und allein Jesus das göttliche Licht verkörpert, behauptet die Unwahrheit von Thomas' Fundamentalsatz, daß dieses Licht in jedermann zugegen sein kann. Bekanntlich hat sich die johanneische Auffassung durchgesetzt und prägt seitdem das christliche Denken. (46) ...
[Irenäus war es,] der mit seinem Einfluß - der von seinen klerikalen Nachfolgern aufrechterhalten und weiter ausgestaltet wurde - für Jahrtausende das Christentum prägte, wie wir es heute kennen. Und er entschied auch darüber, welche früheren Ansätze des Christentums wir nicht mehr kennenlernen sollten. (145)
Bis 1945, zusammen mit anderen ähnlichen Schriften, in einem wohlversiegelten Tonkrug das Thomas-Evangelium wiederentdeckt wurde.
Auch im vierten Jahrhundert tobte der Streit um die Gottheit Christi durch Europa. Der Priester Arius aus Alexandrien lehrte, Christus sei nur das höchste Geschöpf, aber nicht Gott. Dagegen betonte das Konzil von Nicaea (325), was Kirchenchöre noch heute als Christus-Credo singen: "Gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater". Damals setzte das Konzil sich nicht gleich durch. Zeitweise war der ganze Osten arianisch, ebenso die Goten in Spanien und Oberitalien. Nur allmählich - nicht ohne weltliche Gewalt - gelangte der nicaenische Glaube zur unbestrittenen Vorherrschaft, bis Jesu Gottheit in der christlichen Öffentlichkeit nicht mehr geleugnet wurde.
Mit dieser Klarheit ist es heute vorbei. Als Anzeichen nehme ich zwei neue Bücher des (bis vor kurzem als "katholisch" geltenden) Patmos-Verlages. In beiden (2004 erschienen) werden die ehrwürdigsten kirchlichen Lehren offen angegriffen.
Walter Simonis ["Über Gott und die Welt"] nimmt das Dogma von Gottes Dreipersönlichkeit aufs Korn. Mit scharfer Logik versucht er zu beweisen, daß diese Lehre entweder irrgläubig oder in sich unsinnig sei. Irrgläubig ist sie, wenn sie auf das Bekenntnis zu drei Göttern hinausläuft. In diesem Fall hätten Juden und Muslime recht, die uns Christen Götzendienst vorwerfen, heidnische Vielgötterei. Wer von drei göttlichen Personen spricht, deren Gemeinschaft sogar menschlichen Gemeinschaften als Vorbild hinstellt: was will der auf den Vorwurf der Vielgötterei antworten? Auf dem Festplakat einer brasilianischen Basisgemeinde stand groß geschrieben: "A SANTISIMA TRINDADE È A MELHOR COMUNIDADE!" Muß ein Christ, der mit Juden und Muslimen Freundschaft hält, sich von einem solchen Glauben nicht schaudernd abwenden?
Werden die drei göttlichen Personen aber nicht ernsthaft als solche verstanden, was bleibt dann von der Dreieinigkeit? Eine solche "Beziehung ohne Bezogene" scheint tatsächlich eine "haltlose Spekulation". So kommt der Verfasser zum Urteil: "Die ganze Trinitätslehre ist ein Abweg, ein Holzweg in der Geschichte der Kirche." Und mit erhobenem Zeigefinger wird gefolgert: "In Sachen Wahrheit sollte es keine faulen Kompromisse geben. Deshalb genügt es nicht, Trinitätstheologie, weil ohnehin harmlos, einfach sich selbst zu überlassen, sondern ist es notwendig, sie beim Wort zu nehmen und ihre sachliche Verfehltheit und Überflüssigkeit einsichtig zu machen." [42 f. 54]
Der reformierte Holländer H.M. Kuitert zeigt schon im deutschen Buchtitel, was er meint: "Kein zweiter Gott. Jesus und das Ende des kirchlichen Dogmas". Sein Einwand gegen den Menschwerdungsglauben scheint einleuchtend: "Auf jeden Fall ist eines so sicher wie das Amen in der Kirche: Jesus war ein Jude, seine Religion war die jüdische, er glaubte in jüdischer Weise an Gott. Eine Christologie, ob wir sie nun brauchen oder nicht, darf unter allen Umständen nicht an der jüdischen Religion vorbeigehen. Jesu Konzept von Gott muss sich in sie einfügen, andernfalls passt Jesus nicht in sie hinein ... Was vorrangig gegen Gott-auf-Erden spricht und sich auf dem Wege der historischen Forschung belegen lässt, ist, dass Jesus selbst nicht daran hätte glauben können. Jesus war Jude, seine Religion war die jüdische Religion, und ein Jude kann sich selbst nicht als Sohn Gottes (im trinitarischen Sinn) bezeichnen. Das steht zu seinem Glauben grundsätzlich im Widerstreit." [162 f]
Welchen Glauben schlägt der Verfasser vor? Sehr einfach: das schlichte Bekenntnis zu dem einen Gott der Juden, das dank Jesus auch für uns nichtjüdische Angehörige der Völkerwelt möglich geworden ist: "Die Kontroverse zwischen Juden und Christen liegt nicht in Jesus als Gottmensch begründet (‚Christen glauben das, Juden glauben das nicht'), sondern in der Verkündigung Jesu als Eröffnung des Weges zu Israels Gott für Nichtjuden. Was den Inhalt betrifft, unterscheiden sich das jüdische und das christliche Konzept von Gott nicht voneinander, jedenfalls brauchen sie es nicht zu tun. Der Unterschied liegt in der Reichweite des Konzeptes, dass nämlich alle Völker Gottes Volk sind."
Solch "undogmatisches Christentum" als überzeugter Ein-Gott-Glaube mit Jesus von Nazaret als maßgeblichem Propheten und Vorbild, der aber Sohn Gottes nicht grundsätzlich anders ist als auch wir Gottes Töchter und Söhne: das ist die mehr oder minder ausdrücklich formulierte Religion zahlreicher Getaufter, die durchaus zur Christenheit gehören wollen, in Deutschland auch brav ihre Kirchensteuer zahlen, obwohl sie von der Amtskirche wenig und deren ausgefeiltes Dogmensystem für unerheblich halten. In Publik-Forum wurde Simonis' Buch sehr gelobt.
Auf der anderen Seite des Grabens befinden sich die offiziellen katholischen, orthodoxen und evangelischen Kirchen, die im Glauben der alten Konzilien vereint sind: Jesus ist Gott von Gott, stammt nicht wie wir von unten, sondern hat unsere Menschennatur zwar in der Zeit angenommen, ist als Person aber, zusammen mit Gott dem Vater und dem Heiligen Geist, der eine, einzige, ewige Gott. Sobald ein katholischer Theologe versucht, diesen Graben denkend zu überbrücken, ergreift der Vatikan Maßnahmen gegen ihn, so erging es dem US-amerikanischen Jesuiten Roger Haight und Juan José Tamayo in Madrid.
Der Kürze halber unterscheide ich Jesuaner und Trinitarier. Beide Glaubensweisen müssen einander mit jeweils guten Gründen widersprechen, so daß die ökumenische Einheit aller Christen als formal dritte Wahrheit den beiden inhaltlichen Botschaften ihren Wert beläßt, rein als Spannungspolen allerdings, nicht als wären sie alleinwahre Lehrgebäude.
Die christliche Wahrheit ist derart geheimnisvoll und ungeheuerlich, daß sie allein vom trinitarischen Denken und dem ihm widersprechenden jesuanischen aus immer wieder erahnt werden kann. Für sich allein bleibt jedes Bekenntnis in seiner Sackgasse stecken. Wer Jesus als Gott-auf-Erden bekennt, nimmt dessen menschliche Freiheit und echte Gemeinsamkeit mit uns anderen nicht ernst genug; wer jenes Bekenntnis ablehnt, Jesus nur als eben auch einen Menschen gelten läßt, verspielt die eigene unendliche Würde als Gottes Tochter oder Sohn nicht neben sondern in IHM dem wahren Gotteskind von Ewigkeit zu Ewigkeit. Keine widerspruchsfrei verstehbare Verstandesklarheit entspricht voll der Glaubenswahrheit, weder die offizielle Auslegung des Dogmas noch der angeblich undogmatische Widerspruch zu ihm, der aber bloß einem anderen Dogma anhängt.
Ist Jesus einer wie wir? Nein, sagen wir kirchlich Gesinnten, ER ist Gottes Sohn von Natur, wir sind nur durch Adoption Gottes Kinder. Doch, widerspricht der demokratische Zeitgeist, jeder Mensch hat seine eigene, von niemandem sonst abgeleitete Würde. Irreleitende Frage! schlagen die von Jesus seliggepriesenen Friedensstifter vor: Eben weil Jesus laut dem streng verstandenen Dogma Gottes ewiges Kind ist, deshalb kann es zwischen IHM und uns keinerlei Rivalität geben, mithin leitet die Frage, ob er einer wie wir sei, deshalb in die Irre, weil sie keine eindeutig richtige Antwort ermöglicht. Bin ich mein Daumen? Ja, wenn die Katze mich dort kratzt; nein, sollte ein Hund den Daumen verschlingen. Ist Christus du? Ja, solange du kraft Glaube, Hoffnung und Liebe geistlich lebendig bist, eine Person (vgl. Gal 3,28) mit allen Mitgeschöpfen und unserem schöpferischen Grund. Nein, wofern du dich vom Ganzen trennst, bloß mit diesem Mini-Individuum identifizierst, das dein Paßbild zeigt.
Wichtig ist die Einsicht: Um die Frage als irreleitend zu durchschauen, muß man sie stellen und mit beiden widersprüchlichen Antworten unzufrieden sein. Um das zu ermöglichen, müssen beide dem Kommunikationsprozeß zur Verfügung stehen, darum braucht es sowohl die trinitarische als auch die jesuanische Theologie als klare Größen. Nähme das Büro Ratzinger - wie damals der Johanneskreis, später Irenäus und Athanasius - sein Wächteramt nicht ernst, so vergäßen die Christen die Wurzel ihrer eigenen Göttlichkeit; gäbe es gegen Dreifaltigkeits- und Menschwerdungsdogma nicht die Proteste der Thomas-Christen, Arianer und ihrer heutigen Glaubensgeschwister, dann verbliebe für unser Denken die Gottheit in ihrem Himmel und auf das Individuum des Nazareners beschränkt.
Bei Johannes (8,58) sagt Jesus von sich: "Ehe Abraham ward, bin ICH", bei Thomas (19) zu uns, den Menschen, "Selig ist, wer war, bevor er wurde". Muß, wie Pagels schreibt, der eine Satz falsch sein, wenn der andere stimmt? Im Gegenteil: Nur wenn Trinitarier und Jesuaner je das Ihre verkünden, gerät ein waches christliches (oder am Christenglauben interessiertes) Bewußtsein immer wieder vor das unfaßliche Geheimnis. Ähnlich wie ich, eines Wintermorgens auf den Bus wartend, meines frierenden Ohrs bewußt wurde und dann blitzhaft merkte: O, das ist ja nicht bloß irgendein Zellverbund, dieses Ohr bin ja ICH! - so kann ein Christ vom mystischen Blitz getroffen werden: Ich, diese(r) Einzelne, gehöre nicht nur zu uns den vielen Vergänglichen, sondern in mir lebe ICH selbst, der göttliche SINN des Ganzen in Person, derselbe der in Jesus mir dem Sinn nach gegenübersteht (wie damals an der Haltestelle mein Wort "ICH" meinem Ohr) und dennoch dem Sein nach meine innerste Wirklichkeit ist (wie ICH die meines kalten Ohres).
Ohne trinitarisches Dogma wäre, wie wir bloß vergehende Menschen sind, so auch Jesus bloß ein vergangener Mensch. Ohne jesuanische Kritik am üblichen Dogma-Verständnis schiene bloß Jesus Gottes Sohn. Indem beide gegnerische Denkarten sich an derselben Frage abarbeiten, wird sie als irreleitend erkennbar, so daß sich von Zeit zu Zeit ein Durchbruch in jenes Geheimnis ereignen kann, das der christliche Glaube meint.
Ist es aber nicht die äußerste Arroganz, wenn jemand sich über sämtliche solche Widersprüche stellt und so tut, als könne ausgerechnet er deren relatives Recht und Unrecht auseinanderhalten? Ich antworte in mehreren Schritten.
Erstens kann das stolze Selbstgefühl, klüger als Lehrer und Gegner zu sein, der Wirklichkeit entsprechen und ist dann weder irrig noch lieblos. Millionen von Juden und Christen haben Gott betend immer wieder gerade dafür gedankt, mit den Psalmversen 119,98f, Millionen weitere werden es künftig tun. Lex orandi lex credendi: wer so betet, darf es auch glauben. Warum verfehlt er sich nicht? Weil zu jedem Geistgeschöpf seine ganz besondere Wahrheit gehört, die aus exakt dieser Perspektive niemand ebenso sieht. Darum ist, wer die eigene Einsicht als gültig verteidigt, insofern tatsächlich klüger als alle seine Gegner, die ihr aus anderen Blickwinkeln nicht ebenso gerecht werden. Aufs anrührendste verbindet Simone Weil Demut und Stolz: "Die Notwendigkeit, daß Gott mich liebt, kann ich nicht begreifen, da ich doch so deutlich fühle, daß sogar bei den Menschen Zuneigung zu mir bloß ein Mißverständnis sein kann. Aber ich stelle mir mühelos vor, daß er diese Perspektive der Schöpfung liebt, die man nur von dem Punkt aus haben kann, wo ich bin. Doch ich verstelle diese Aussicht. Ich muß mich zurückziehen, damit er sie sehen kann. Ich muß mich zurückziehen, damit Gott mit jenen Wesen in Berührung treten kann, die der Zufall auf meinen Weg stellt und die er liebt." [La pesanteur et la grâce, 49]
Zweitens bedeutet respektvolles Verständnis für Gegenpositionen keineswegs den Verrat an der eigenen. Persönlich gehöre ich auf die trinitarische Seite. Mein erstes Büchlein hieß 1968 "Der dreieinige Gott", in "Ehrfurcht vor fremder Wahrheit" (1996) mache ich den Vorschlag, wie die tiefstgreifenden ideologischen Gegensätze sich, dank der christlichen Botschaft innergöttlicher Spannungseinheit, aus Widersprüchen in einander stärkende Spannungspole wandeln lassen; meine Internetpräsenz enthält viele Beiträge zu dieser These. "Tat-sächlich" bin ich also Trinitarier, mache mein Denken zur Sache jener Ur-Tat ("Triff eine Unterscheidung!"), die im Sinn der rechtgläubigen Kirche die Offenbarung des einen und in sich relational gespannten Absoluten sowohl gegen den bloßen Monotheismus der Juden, Muslime und Bahais markiert als gegen heidnischen Polytheismus und auch die östliche Weisheit des Großen Einerlei.
Dies klar gesagt, füge ich hinzu, daß wir "Rechtgläubigen" uns der Begrenztheit auch dieser scheinbar so umfassenden Position bewußt bleiben sollten. Auch wer ihr widersprechen zu müssen glaubt, kann dabei klüger sein als wir! Ist die Sonne bunt? Wer das leugnet, irrt nicht. So hat, wer die Trinitätslehre verwirft, gegen uns auch recht. Ein optisches Gleichnis deute dies an: Uns schenkt das Prisma, welches die geheimnisvolle Buntheit des Sonnenlichtes erweist, wunderbaren Reichtum: die unterschiedlichen Polaritäten rot/grün, gelb/violett und blau/orange enthalten alle drei dieselbe aber nicht gleiche Summe der Grundfarben rot, gelb und blau! Dennoch stimmt auch die Negation: die Sonne ist nicht bunt sondern rein weiß. Zum Besitz eines Prisma ist niemand verpflichtet. Und vor allem: Weiß ist auch eine Farbe, eine der schönsten! Wohin, wenn nicht auf eine weiße Fläche, sollte das Prisma seine Farbenpracht strahlen? Daß unser Gott trotz seiner 99 Namen (deren arabische Schriftzüge ich in Nürnbergs neuester und kleinster Moschee gestern bewundern durfte) und dreieinig in sich schwingender Bezogenheit doch der all-einfach unendlich Einzige ist: auch das bekennt der christliche Glaube. Daß diese Reinheit in der Kirche nicht vergessen wird, dazu hilft ihr der Respekt vor dem Protest der Antitrinitarier und Jesuaner.
Die können sich - das sollten Christen nie vergessen - auf Jesus selbst berufen. Als jemand ihn "guter Meister" nannte, fuhr er ihn an: "Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein." So berichtet (Mk 10,18) das zeitlich erste Evangelium. Schon als Matthäus beim Verfassen seines Evangeliums an diese Stelle gelangte, wollte er sie nicht übernehmen, inzwischen wurde den Gemeinden die schlichte Menschlichkeit Jesu allzusehr vom Osterlicht Christi überstrahlt, als daß ihnen - meinte Matthäus - eine solche Botschaft noch zugemutet werden sollte. Deshalb ließ er (19,17) Jesus sagen: "Was fragst du mich nach dem Guten?"
Auferstanden ist jedoch der wirkliche Jesus, auch der jenes Augenblicks, als er gerade nicht "guter Meister" genannt werden wollte. Was folgt daraus für katholische Christusverehrung? Mir scheint: z.B. auch die Möglichkeit eines unüblichen Gebets vor dem Allerheiligsten. Wie Tomas "mein Herr und mein Gott!" zu stammeln, das heißt DICH den Herrn über Zeit und Ewigkeit mit Recht im Tempel AUFERSTANDENER CHRISTUS anzubeten - ähnlich wie die Juden es mit ihrem Recht im Tempel zu Jerusalem taten - dies vertraute Gebet bleibt gültig und Christen lieb. Ich kann mir aber auch der anderen Wahrheit bewußt werden: daß der historische Jesus selbst sich noch nicht als Tempel sah, noch nicht einmal als extra gut, sondern schlicht mit seinen Mitmenschen zusammen unter dem Blick desselben guten Gottes. Da er auch als dieser auferstanden und in der Eucharistie mir gegenwärtig ist, darf ich etwa so zu ihm sprechen: Jesus, denk an die vielen Menschen, die von deiner Erhöhung nichts wissen wollen sondern dich so sehen, wie du selbst zu Lebzeiten gesehen werden wolltest. Hilf ihnen, daß sie nicht den vielen Ärgernissen erliegen, die deine Kirche ihnen zumutet, sondern laß sie hinter Weihrauchschleiern und klerikalen Schmutzschichten doch immer wieder dein gütiges Menschenantlitz erblicken und die Worte vernehmen, mit denen du uns die Geheimnisse des Reiches Gottes erklärst - die gar nicht mysteriös sind sondern einem reinen Herzen wasserklar. So wahr deine Verkündigung für deine Hörer in Palästina damals gewesen ist, so wahr bleibt sie heute für alle, die ebenso wie jene von deiner Christuswürde nichts wissen und dennoch, oft intensiver als deine dogmatisch korrekten Jünger, brennen vor Sehnsucht nach Gottes Reich. Sag ihnen dasselbe ins Herz wie damals den Volksmengen im Heiligen Land. Und uns, die dich als Gottes Sohn anbeten, uns laß immer tiefer erfassen, daß wir den anderen nichts voraushaben als den Auftrag, aller Welt Zeugnis zu geben von Gottes Güte auf deinem Gesicht.
Christlichen Lesern rate ich deshalb: Werden Sie sich jeweils klar, welches Jesusbekenntnis jetzt das Ihre ist, das trinitarische oder das jesuanische. Ausdrücklich bezeugen - scheint mir - kann ein Christ nur eine dieser beiden Weisen. Wenn er so nicht nur denkt sondern wirklich glaubt, leben in ihm auch die Wahrheitsmomente der anderen Seite, denn Glaube ist ganz da oder gar nicht. Deshalb kann ein Glaubender die gegnerische Wahrheit zwar nicht so sagen wie die anderen (auch nicht sich selbst sagen, das heißt: verstehen!), sie aber doch respektvoll, mehr: gläubig vernehmen.
Jeweils nur ein Bekenntnis kann ich bezeugen. Es muß aber nicht immer dasselbe sein. Je ökumenisch gereifter ein Bewußtsein wird, um so öfter verkündet es mal vor Andersgläubigen den eigenen Glauben, mal vor Konfessionalisten der eigenen Seite die vernommene fremde Wahrheit, die ja ebenfalls zum ganzen Heil gehört, obwohl meine Glaubensgruppe sie weniger akzentuiert. Wie ich, als Trinitarier, meine rechtgläubigen Freunde auf den Jesus verweise, der nicht gut genannt werden wollte (scheinbar also die Lehre von Gottes Menschwerdung ablehnte), so kann ein gebildeter Jesuaner das Dogma des Konzils von Chalkedon (451; Christus ist Gott und Mensch, eine göttliche Person in zwei Naturen) als für Zeitgenossen unkommunizierbar ansehen und doch auf Weisen sinnen, das damals Gemeinte heute anders zu sagen, damit aus Christentum kein bloßes, letztlich hilfloses Humanitätsgeschwafel werde.
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