Jürgen Kuhlmann

Haben wir einen Joachimiten als Papst?

Beitrag zu einer Joachim-Festschrift des Erzbistums Cosenza, auf italienisch erschienen und im März 2011 dem Papst vorgelegt

Von den Theologen des II. Vatikanischen Konzils hat keiner besser als Joseph Ratzinger verstanden, welches Licht die Prophetie des kalabrischen Abtes Joachim von Fiore (+ 1202) auf die Kirche strahlt. In seiner Habilitationsschrift schrieb er 1959 über einen angesehenen Kirchenlehrer: "Hier wird eine neue innerweltliche, innergeschichtliche messianische Hoffnung erhoben, hier wird bestritten, daß mit Christus das Höchstmaß innergeschichtlicher Erfüllung schon gegeben sei und nur noch die eschatologische Hoffnung auf das bleibe, was nach aller Geschichte liegt. Bonaventura glaubt an ein neues Heil in der Geschichte, innerhalb der Grenzen dieser Weltzeit."

Bis in Joachims Zeit war keinem Christen derartiges in den Sinn gekommen. Zwischen Menschwerdung und Wiederkunft Christi zum Gericht erwartete man nichts wesentlich Neues. Erst der Abt von Fiore ahnte die Bedeutsamkeit des Dreieinigkeits-Glaubens für das Verständnis der Geschichte: Wie Gott Vater von Abrahams Berufung an das Volk Israel erwählte und Gott Sohn in Jesus als Neues Gottesvolk die Kirche gründete, so wird der Heilige Geist mit göttlicher Kraft in geschichtlicher Zukunft die Kirche entscheidend neu schaffen.

Schon zwei Jahre vor Konzilsbeginn hatte der junge Professor Ratzinger nicht ausgeschlossen, dass Joachim recht haben könnte. Er nannte ihn (LThK V,975) selig und rechtgläubig und stellte fest: "Das echte Problem Joachims liegt in dem Zurückbleiben der geschichtlichen Kirche hinter den Forderungen des NT."

Wohl kannte Ratzinger auch die gefährliche Zweideutigkeit von Joachims These. Nach dessen Tod haben viele seine geistliche Prophetie politisch missverstanden und das Ende der hierarchischen Kirche angekündigt. Und schien das nicht logisch? Wie das anfangende Reich des Sohnes das Ende von Gottes Bund mit Israel bedeutete (so dachte man seit jeher), entsprechend würde das hereinbrechende Reich des Heiligen Geistes mit der Amtskirche Schluss machen.

Verständlich, dass die sich wehrte. 1255 verurteilte eine Kardinalskommission diese Überzeugung der radikalen Joachimiten. Als ich, Deutscher des Jahrgangs 1936, Zeitgenosse so vieler von den Nazis ermordeter Judenkinder, eine der Begründungen jener Kardinäle las, traf es mich wie ein Blitz. »Wie von Johannes dem Täufer an das Alte verbraucht war und Neues erschien, so ist auch jetzt das Alte einzuschätzen, das bis jetzt vergangen ist, im Hinblick auf das Neue, das der Herr tun wird auf Erden. Wenn man mit diesem Worte das verbindet, womit das achte Kapitel des Hebräerbriefs schließt, dann sieht es so aus, als müsse das aufhören, was bisher im Neuen Testament gehabt worden ist.«

Heute weiß die Kirche: Diese Anklage war falsch. Gottes Bund mit Israel war am Karfreitag nicht zu Ende, hat sich vielmehr auf uns Gläubige aus den Völkern erweitert. Für die Juden, die auf den Messias hoffen aber nicht an seine Ankunft in Jesus glauben, gilt das erste Offenbarungs-Zeitalter weiter.

Ebenso ist es derzeit beim anderen Übergang. Da die Ära geistlichen Verständnisses anbricht, hört die des Buchstabens nicht auf; freilich verliert der für solche, die zu geistlicher Reife berufen sind, seine lieblose Härte und muss sich immer neu mit dem Heiligen Geist ins Verhältnis setzen.

"Dieses Konzil war eine Revolution," meinte Karol Woityla bei der Rückkehr nach Krakau. Drei ihrer Hauptpunkte:
1) Die Beziehung von Christen und Juden. Bis zum Konzil hielt man in der Christenheit den Bund Gottes mit Israel für seit langem gekündigt; heute glauben wir, dass er weiter gilt.
2) Gewissensfreiheit. Noch 1832 verurteilte Papst Gregor XVI. diese Idee als Irrsinn, heute ist sie katholische Lehre.
3) "Christus hat sich bei seiner Menschwerdung irgendwie mit jedem Menschen vereinigt" (GS 22).

Ich bin überzeugt: Das "Rätsel Ratzinger" löst sich, sobald wir seine jugendliche Begegnung mit Joachim als Schlüssel verwenden. Wenn er die Exkommunikation der Traditionalisten aufhebt, dann deshalb, weil er den fatalen Fehler vom Anfang der Kirchengeschichte nicht wiederholen will. Fast zweitausend Jahre bestimmten Hass und Verachtung die Einstellung der Christen zu den Juden, so darf es nicht stehen zwischen den Christen des zweiten und dritten Zeitalters. Wenn ein anglikanischer Bischof in einer römischen Basilika die Messe feiern darf: warum dann nicht auch eine Gemeinde, die sich aus Unwissenheit (oder gar auch nach Gottes Willen?) gegen die Konzilsrevolution stemmt?

Anderseits hat Benedikt XVI. jüngst während seiner Reise nach Portugal mit erstaunlicher Klarheit den Geist der Neuen Ära bekräftigt. In Belem sagte er: "Das Nebeneinander, das die Kirche in ihrem unverrückbaren Festhalten am Ewigkeitscharakter der Wahrheit, einerseits, und in der Achtung gegenüber anderen 'Wahrheiten' bzw. der Wahrheit der anderen, andererseits, erlebt, ist für sie eine Lehrzeit." In Lissabon: "Man hat ein vielleicht zu großes Vertrauen in die kirchlichen Strukturen und Programme gelegt, in die Verteilung der Macht und der Aufgaben; aber was wird geschehen, wenn das Salz schal wird?" In Porto schließlich wies er hin auf die tiefe drei-einige Spannung, in der die Kirche schwingt, ist sie doch "ein Werk Christi und seines Geistes".

Mit Recht kommentiert die angesehen katholische Zeitschrift TABLET (22. Mai 2010, S. 2): "Dies ist nicht ganz der Joseph Ratzinger, den wir gewohnt sind. Dies ist eher ein aufgeschlossener Mann auf einer Reise in unbekanntes Gebiet, einer Reise von der Konfrontation zum Dialog. Niemand kann des Reiseziels gewiss sein, aber es geht bestimmt nicht zurück in die Vergangenheit."

Engherziges Fragen nach dem einen Weg für alle passt nicht zum Heiligen Geist. Bei Joachim findet sich ein packendes Bild: »Es ist äußerst schwierig, Wort für Wort die Verläufe der göttlichen Wege zu besprechen ... Wie die Schrift bezeugt: "Im Meer sind deine Wege, zwischen vielen Wassern deine Pfade, und deine Spuren sind nicht sichtbar" (Ps 77,20). Die Meerwege sind in der Tat nicht wie die auf der Land-Oberfläche; gelangt man da an eine enge Stelle, kommt man unmöglich anderswo vorbei, sondern wenn sich ein Weg für alle auftut, folgen die einen den anderen. Von Seefahrern hingegen wählt jeder seinen Weg, wie ihn der Winde Wehen leitet, und wenn sich beim Lesen der Himmelszeichen keiner irrt, werden ... alle zum einzigen Hafen gelangen.«

Juni 2010


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