Jürgen Kuhlmann

Jocki und der Innenseher
Eine Abenteuergeschichte
für das Kind
im Mann und in der Frau


9


Christus das JA

Du brauchst das JA doch nicht zu sein. Du sollst es nur erzählen. Wie so viele andere schon. Daß seine Geschichte Glauben finde, dafür laß es selber sorgen. - Danke, gute Stimme. Also erzähle ich.

In jener Zeit kehrten Maria und Josef mit dem wiedergefundenen Jesusbuben nach Nazaret zurück. Unterwegs rasteten sie in einer Karawanserei und fanden eben noch Platz an einem Tisch, um den schon vier Menschen saßen. Die stritten laut miteinander. Einer war ein Jude. Er sagte gerade Nein, ihr habt alle drei unrecht. Allein uns Juden wurde das Geheimnis der Welt offenbart. Sie ist die Schöpfung Jahwes, den wir verehren. Keine anderen Götter darf ein Mensch neben ihm haben. - Jesus spürte, wie diese Worte heiß widerklangen in seinem Herzen. Ja, Vater, sprach er bei sich, nur DU bist Gott, Dich bete ich an.

Inzwischen hatte ein griechischer Wanderphilosoph zur Anwort angesetzt Daß ihr Juden einen herrschsüchtigen Gott verehrt, wundert mich nicht. Glaubten die Pferde an Götter, wären die wohl pferdeförmig. Der wahre Sinn der Welt sind aber nicht solch himmlische Märchen, sondern der freie, selbstbewußte Mensch mit seinesgleichen. Nehmt dieses Kind hier (dabei zeigte er auf Jesus), schaut, wie seine Augen blitzen, wie wach er uns zuhört. Auf ihn und seine Generation wollen wir vertrauen, daß sie Schluß machen mit der alten religiösen Entfremdung. Wer ein solches Kind sieht, der sieht den einzig wirklichen Gott. Ihm laßt uns dienen. - Und er brach für Jesus ein großes Stück von seinem Brot ab. Der bedankte sich und dachte Auch dieser Mann hat recht. Natürlich dreht die Welt sich um jeden einzelnen Menschen, gerade so hast Du sie ja geschaffen, mein Vater. Klar Wer mich sieht, der sieht Dich. Warum schaut der Pharisäer da, der vorhin so vernünftig geredet hat, jetzt auf einmal so böse? Da hatte schon eine wuchtige Negerin das Wort ergriffen Ich kann euch beiden nicht zustimmen. Wo ich herkomme, herscht kein Herr-Gott über ängstliche Untertanen, ebensowenig darf aber jeder einzelne sich für eine besondere Mitte halten. Wir sind überzeugt, daß alles viel einfacher und schöner ist. Der Sinn des Ganzen ist die allverbindende Schwungkraft des Lebens, die friedliche Gemeinschaft, in der jeder gut aufgehoben ist, der sich ihr einfügt. Bei uns geben nicht rechthaberische Männer den Ton an, wir lassen die Mütter bestimmen. Die wissen, was gut für alle ist, weil in ihnen allen die große Mutter selbst, die gute Göttin LEBEN, segensreich wirkt. Sie allein ist der Sinn des Ganzen, weder ein gewalttätiger Chef über ihm noch jedwedes seiner Elemente. Was meinst du Kleiner? Und freundlich ließ sie Jesus aus ihrem Becher einen großen Schluck Milch trinken. Da jauchzte auch er in der Heiligen göttlichen Liebe und nickte der fremden Frau lächelnd zu, während Jude wie Grieche angewidert ihre Münder verzogen. Den seinen tat da der Vierte auf, ein Mann mit indischen Zügen Alle drei habt ihr nicht unrecht, doch bleiben eure Weisheiten zu sehr an der Oberfläche. Die tiefste ist euch verborgen. Sie hat sich in Indien offenbart: ICH, das ewige Selbst, bin der Grund aller Dinge. - Zornig wandte sich da der Jude an Josef Was hätte unser Vater Abraham mit einem solchen Lästerer wohl gemacht? brach es aus ihm heraus. Durch Jesus aber zuckte im selben Moment der Blitz der flammenden Einsicht Ja, ehe Abraham ward, bin ICH.

Darf ich auch etwas sagen? fragte er. Nur zu, hieß es von allen Seiten. Mir ist klar geworden, daß jeder von euch recht hat. Das Geheimnis der Welt ist tatsächlich genau so, wie jeder von euch es darstellt. Nur in einem habt ihr unrecht: daß nämlich jeder die anderen für Irrende hält oder doch für weniger tief denkend als sich selbst. Tatsächlich denkt ihr alle gleich wahr, keiner hat dem anderen da etwas voraus. - Laßt ihn, er ist eben noch ein Kind, sagte die Frau, wer wollte von ihm verlangen, daß er den Ernst unserer Gegensätze ermißt? Wir aber sind uns doch wenigstens darin einig: daß unsere Widersprüche tief und unüberwindlich sind und daß es sich für jeden von uns lohnt, sein Leben dafür einzusetzen, daß er recht hat. Nicht wahr? - Du sagst es, stimmten die anderen drei zu. Jesus sah traurig und verwirrt auf seine Mutter, die aber wischte ihm nur mit ihrem Tuch den Schweiß von der Stirn und sagte leise Laß sie, Kind. Bald wirst du groß, dann wirst du ihnen schon klarmachen können, was du meinst. - Als sie die verbissenen Mienen der Vier sah, bekam sie jedoch Angst und betete Gott, behüte mein Kind!

Eine seltsame Legende. Von wem stammt das Band? - Von einem alten Missionar, der viele Jahre in Indien und Afrika verbracht hat. Er nennt die Geschichte mein Evangelium; wenn der heilige Paulus so reden durfte, meint er, darf er das auch. Als er einmal auf Besuch bei uns war, hat er einen kleinen Vortrag gehalten; wenn du willst, suche ich die Kassette heraus. - Das ist aber bestimmt zu schwer für mich, mit vielen Fremdwörtern und so. - Nein gar nicht. Da ist sie schon. Warte.

Eine tiefe Stimme erfüllte den Raum Alle vier Pole dieses Gesprächs sind in Christus versöhnt, aber erst eine dieser Versöhnungen, die von Juden und Griechen, ist in der bisherigen Denkgeschichte der Kirche ausdrücklich anerkannt worden, und auch die nicht in ihrer abgründigen Tiefe, wo die griechische Position nämlich auf den Atheismus des autonomen Subjekts hinausläuft.

Stop! ruft Jocki, und Friedrich hält das Band an. Was habe ich gesagt? Vier Fremdwörter hintereinander! Die Position des Atheismus des autonomen Subjekts! Kann er das nicht einfacher sagen? - Tut er ja gleich, laß ihn halt weiterreden. - Damit meine ich, daß der selbstgewisse, freie Mensch keinen großen Jemand über sich erträgt, den die religiösen Obrigkeiten Gott nennen und in dessen Namen sie, zu ihrem eigenen Vorteil, allerhand von den Menschen verlangen. Der wahre Gott ist, um des Ganzen willen, für jeden Menschen; jenen falschen Gott, der im Interesse einer scheinfrommen Obrigkeit gegen den einzelnen an den Himmel projiziert wird und von dort aus als metaphysischer Vampir den Leuten das Blut ihrer freien Selbständigkeit aussaugt, ihn hat Jesus, gegen die Frömmigkeitslehrer seiner Zeit, ebenso scharf bekämpft wie nur irgendein sogenannter Atheist nach ihm. Vergessen wir nicht: er ist als Gotteslästerer von der Priesterschaft zum Tod verurteilt worden. Soviel zu Versöhnung von jüdischer Religion und griechischem Selbstbewußtsein. Die anderen beiden Wahrheitspole, die von der Negerin vertretene Große Einheit des Lebens sowie die brahmanische Selbigkeit des absoluten Ich in allen Weltgestalten, sie wurden bisher nur von einzelnen erleuchteten Geistern der Christenheit gelebt und gelehrt, die offizielle Kirche hat sie stets bekämpft, zum Glück aber nie mit einem unfehlbaren Entscheid abgelehnt. Das könnte sie auch nicht, weil sie ja - freilich nur miteinander und mit den beiden anderen - gleichfalls zur wunderbaren göttlichen Wahrheit gehören.

Wieder schaltet Friedrich das Band ab und sagt Du hast recht, leicht ist das nicht gerade, nicht für uns und wohl auch nicht für die Zwiebelnuß. Aber wir müssen ja auch nicht alles gleich ganz begreifen, dazu haben wir noch viele Jahre Zeit. Immerhin ahnst du jetzt, warum unser Haus so bunt ist und warum ich Frieden stiften muß, wenn irgendwelche Dickschädel wegen Gott eine Rauferei anfangen. - Hm. Meinst du wirklich, daß du so viel schlauer bist als die anderen? Ich fürchte, auch bei deiner Versöhnerei kannst du stur und ungerecht werden. Sogar teuflisch. Nimm an, da ist ein gutes, frommes Kind, dem Gott sich gezeigt hat und das mit aller Kraft an Ihn glaubt. Kannst du ihm nicht schrecklich schaden, wenn du ihm seine Klarheit verdüsterst und ihm beweist, daß es Gott gar nicht gibt? Oder ein anderer hat sich mühsam aus den Fängen des Vampirs befreit und kommt gerade wieder zu Kräften, da gehst du her und bedrohst ihn: Ätsch, es gibt Gott aber doch. Dann bist du schuld, wenn die letzten Tage jenes Menschen schlimmer sind als seine ersten. - Darauf kann ich jetzt nichts antworten, Jocki. Dein Einwand ist mir neu. Diesmal hast du mir ein Rätsel aufgegeben. Ich würde sagen: Bis Mittwoch!

Am nächsten Mittwoch sagt Friedrich in der Schule zu Jocki Du, ich bin noch nicht so weit. Deine Frage ist zu schwer. Ich muß noch mit ein paar Leuten reden und viel nachdenken. Laß uns das Treffen eine Woche verschieben. - Meinetwegen, brummt Jocki. - Dafür habe ich dir etwas mitgebracht, damit kannst du die Woche über experimentieren. Er kramt in seinen Taschen und bringt ein Stück Glas zum Vorschein. Was ist das, Jocki? - Hm, auf einer Seite rund, auf der anderen sechseckig. Sieht aus wie der Stöpsel für eine Zierflasche. - Richtig, es ist der Verschluß einer alten Karaffe. Paß gut auf, daß du ihn nicht zerbrichst. - Versprochen. Aber was macht man damit? - Geh in ein Zimmer mit weißen Wänden, halt das Glas in einen Sonnenstrahl, und was du dann siehst, darüber denk nach.

Endlich ist die Schule aus. In seinem Zimmer nimmt Jocki den Stöpsel in die Hand. Zum Glück scheint die Sonne. Er hält ihn ins Licht, bewegt und dreht ihn etwas - da zittert plötzlich auf der Wand ein heller bunter Fleck. Herrlich leuchten die Farben rot, orange, gelb, grün, blau und, am Rand gerade noch erkennbar, lila. Darüber soll ich also nachdenken. Hm. Seltsam ist das schon. Das Licht ist weiß, die Wand ist weiß, und doch ist da der bunte Fleck. Woher kommen die Farben? Sind sie in dem Glasding? Aber das ist farblos. Sind sie im Sonnenlicht? Aber das ist nur hell, nicht bunt. Anscheinend sind die Farben eine ziemlich rätselhafte Sache. Und was hat der bunte Fleck an der weißen Wand mit dem bunten Haus der Familie Weiß zu tun? Sind Weiß und Schwarz auch Farben? Im Farbengeschäft kann man sie kaufen, also sind es Farben. Wahrscheinlich ist schwarz so ähnlich eine Farbe, wie die Null eine Zahl ist. Was ist aber dann die Zahl für Weiß? Was ist heller, ein Brikett in der Sonne oder eine Kreide im Schatten? Ich merke Denken hilft hier nicht weiter. Das Wesen des Lichts und der Farben, das ist bestimmt ein riesiges Forschungsgebiet an der Universität. Da braucht mein kleiner Schülerverstand gar nicht erst anzufangen. Wenn ich will, kann ich es ja später studieren. Auf jeden Fall ist der bunte Fleck ein hübsches Spiel. Und Jocki läßt ihn über die Wand wandern, bis allmählich eine Wolke sich vor die Sonne schiebt und der prächtige Spuk verblaßt. Es gibt also nicht nur finstere Gespenster, die das Licht scheuen, auch helle, die es brauchen, denkt Jocki noch, da ruft ihn die Mutter zum Essen.

Eine Woche darauf Jocki, ich verdanke dir viel. Dein Verdacht hat gestimmt. Ich war tatsächlich dabei, in Größenwahn zu fallen. Weil ich einsah, daß die verschiedenen Anschauungen irgendwie alle recht haben, jede auf ihre Weise, habe ich fast schon gemeint, ich stünde höher als sie alle. Diese Gefahr war mir aber nicht bewußt. Erst deine kritische Frage hat mich aufgeweckt. Ich habe nachgedacht, mit meinem Vater und anderen Menschen gesprochen. Jetzt weiß ich die Lösung und bin froh, daß ich kein Übermensch bin, sondern ein ganz normaler Mensch, freilich ein besonderer mit einer besonderen Einstellung, aber das ist ja jeder normale Mensch. - Das freut mich riesig, Friedrich. Ich hatte schon ein bißchen Sorge, ich verliere meinen besten Freund. Auf deine Lösung bin ich aber sehr gespannt.

Sie ist ganz einfach. Ich bin, was ich heiße, aber nur wie die Wand, nicht wie das Licht. - ? - Hast du nicht den Sonnenstrahl in seine Farben zerlegt? - Doch. Und ich glaube, in dem bunten Fleck an der Wand steckt ein großes Geheimnis. - Und ob. Mein Vater schlägt mir das als Thema für meine Doktorarbeit vor: Goethes Farbenlehre im Licht des Endes der Neuzeit. Weißt du, Goethe hat nämlich sein Leben lang nicht glauben wollen, daß die Farben schon im Himmelslicht sind, wie die Physiker es lehren. Er meinte, die Farben kämen erst durch irdische Trübheit zustande. Das alles ist aber jetzt natürlich noch zu schwer für uns. - Ist ja auch egal. Entweder sind die Farben heimlich schon im Licht oder sie stecken im Glas oder in der Wand. - Oder in unserem Gehirn. Auch so kann es sein. - Stimmt. Aber das ist alles egal. Ich will jetzt bloß wissen, wie du deinen Größenwahn losgeworden bist. Er hatte nämlich schon angefangen, mich zu stören. - Das hab ich dir doch schon gesagt: Ich bin weiß, aber nicht wie das Licht, nur wie die Wand. - ?? - Aber das ist doch nicht schwer zu kapieren! Schau, aus sich ist die Wand nur weiß, weder rot noch blau noch gelb. Mit jeder Farbe kannst du Weiß kombinieren, denk an die Fahnen. Weiß ist ganz klar eine eigene Farbe, mit keiner anderen zu verwechseln. Zugleich kann es aber die anderen Farben annehmen und unverfälscht leuchten lassen. Dreh den Stöpsel etwas, dann wird derselbe weiße Wandpunkt orange, grün oder lila. Bei den anderen Farben klappt das nicht so. Wenn du ein rotes Licht durch eine grüne Brille anschaust, scheint es dir schwarz.

Und was hat das mit deinem Größenwahn zu tun? - Es ist sein Ende. Denn das Weiß der Wand ist aus sich überhaupt nicht bunt, kann die anderen Farben nicht erzeugen, muß sie von außen empfangen, sonst bleibt es immer bloß sein armes, nichtssagendes Weiß. Ich heiße Friedrich Weiß und das ist auch mein Lebensprogramm. Ich will Frieden stiften und alle geistigen Farben hell leuchten lassen. Dazu brauche ich aber die anderen! Das habe ich jetzt eingesehen. Von allen muß ich lernen. Friedlich und tolerant zu sein ist nicht nichts (es ist ja weiß), aber allein längst nicht alles (nämlich überhaupt nicht bunt). Wer Gott ist, kann ich von den Frommen lernen; wie wahr und schön menschlicher Stolz sein kann, am aufregendsten von den Atheisten; wie wohl das Ganze es mit uns meint, von den Einheitsgläubigen; und von den Brahmanen, daß wir allesamt Selbstspiele des einzigen ICH sein dürfen. Immer gerade auf eine dieser Geistesfarben muß ich ernsthaft achten, sonst wäre meine Versöhnerei (wie du sagst) bloß leeres Geschwätz. Um aber nacheinander auf jede achten, jeweils eine Farbe annehmen zu können, darf ich keine ganz und gar werden, muß vielmehr bleiben, der ich bin: Friedrich Weiß. Weiß aber wie die Wand, nicht wie die Sonne. Denn das Sonnenlicht bringt sämtliche Farben zum Leuchten, auch mein bescheidenes Weiß, ebenso aber das Gelb der Frommen, das Knallrot der Ichstolzen, das Blau der Einheitsentzückten und das Hellrot der Selbstmystiker. Du siehst: Die Farbe Weiß hat überhaupt keinen Grund, sich den anderen Farben überlegen zu fühlen. Sie hat, mit ihnen zusammen, ihr besonderes Recht, aber nur um ihres Friedens willen, nicht als wäre sie irgendwie mehr. Damit ist mein Größenwahn ins Mark getroffen, hat keine Chance mehr.

So gefällst du mir, Friedrich. Schade aber, daß dein alter Missionar nicht da ist. Jetzt hätte ich eine Frage an ihn, die es in sich hat. - ? - Hör zu. Jesus war doch selbst das Licht der Welt. Sein Antlitz leuchtete wie die Sonne bei der Verklärung auf dem Berg Tabor. Wie kann Er da für uns Christen das Vorbild sein? Haben ihn am Ende doch jene Christen besser verstanden, die im Namen ihrer einzigen Wahrheitssonne jede fremde Helligkeit für finster erklärt und wenn möglich mit Gewalt ausgeschaltet haben? Deine Art, friedlich und weiß zu sein, finde ich großartig. Ist sie aber auch christlich? Hätte deine weiße Wand nicht auch das Nazi-Braun wehrlos angenommen? - Bestimmt nicht. In dem hätte ich die Finsternis erkannt und mich gewehrt. Was soviele helle Farben absichtlich auslöscht, ist keine der bunten Farben. Braun wird von keinem Prisma erzeugt. Aber auf die Nazis sind viele hereingefallen, darum bringt diese Frage uns nicht weiter. Wichtiger ist die andere: Christus ist das Licht und hat auch zu seinen Jüngern gesagt: Ihr seid das Licht der Welt. Dürfen die dann behaupten, daß sie nicht das Licht sind, bloß die Wand? Ich gebe zu, das ist wieder ein ganz harter Brocken. Mit dem werd ich allein nicht fertig. Halt, ich schreibe einfach an meinen Onkel Klaus, das ist ein gelehrter Theologe. Sobald seine Antwort da ist, besprechen wir sie.

Sieben Wochen mußten die beiden warten, bis endlich ein Luftpostbrief aus Peru eintraf. Er war mit der Hand auf rauhes Schulheftpapier geschrieben und hatte folgenden Wortlaut: Lieber Friedrich, entschuldige die Verspätung, aber Dein Brief ist mir mit Flugzeug, Zug und endlich Maultier hierher nachgeschickt worden, wo ich bei meinem Freund Pedro viertausend Meter hoch in den Anden einen Exerzitienurlaub in urchristlicher Einfachheit verlebe. Ich lerne viel, das heißt ich vergesse viel Unnötiges. Die Luft ist dünn, die Suppe auch, um so stärker die Gemeinschaft und Gastfreundschaft bei den Ärmsten hier heroben. Sie haben nichts und schenken alles. Ich weiß nicht, wie ich das den Menschen im satten Europa erzählen kann.

Jetzt zu eurer Frage. Sie scheint mir ungeheuer wichtig; wäre die Kirche schon früher auf sie gestoßen, hätte sie vielleicht manchen Irrweg vermieden. Aber nicht alles ist immer möglich. Die Antwort ist im Grunde ganz einfach: Jesus ist das helle Licht der Welt in Person, weil er gerade keine geschaffene Person ist. Er ist von vornherein jenes allgemeine Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt. Weil er keine endliche, von anderen getrennte Person ist, deshalb ist in ihm gar niemand, der sich etwas einbilden, hochmütig werden, über die anderen sich erheben und sie unterdrücken könnte. Nicht das Sonnenlicht ist schlimm; es macht alle Farben gleichermaßen hell. Schlimm ist es, wenn eine bestimmte Farbe sich für das Licht hält und sagt: Ich bin weiß (oder gelb oder rot usw.) und hell, du bist nicht weiß (oder gelb usw.), also bist du finster. In diesen Fehler sind Verfechter aller geistigen Farben verfallen, leider auch die Christen. Aber nicht ihr Meister selbst. Er ist ja das Licht, gibt sich also nicht zu Unrecht dafür aus. Lest die Evangelien, dann seht ihr, wie er in jedem Menschen, der ihm begegnete, gerade dessen Farbe anerkannt, erleuchtet und von Finsternis gereinigt hat. Keine endliche Person, kein eigenfarbiges Ich hat ihn gehindert, sich jeweils total auf sein Gegenüber einzustellen.

Anders bei uns, seinen Jüngern. Jeder von uns ist eine geschaffene Person mit bestimmten Interessen, d.h. eigener Farbe. Wenn Jesus seinen Jüngern sagt: ihr seid das Licht der Welt, dann meint er das in Deinem Sinn, Friedrich: Ihr sollt rein und hell sein wie eine weiße Wand, damit ihr jegliche Farbe annehmen und zu sich bringen könnt. So eine weiße Wand kann wunderbar leuchten, denkt an die Kreidefelsen von Dover. Sie kann also auch Licht der Welt heißen, weil sie sämtliche Einzelfarben immer daran erinnert, daß auch die anderen gelten. *

* Anmerkung von Pedro: Mir ist das zu wenig. Lebendige Christen sind nicht bloß weiß, sondern auch hell. Wie überhaupt alle Menschen in dem Maße, wie sie wirklich leben, nicht bloß je ihre Farbe, sondern Licht ausstrahlen. Wohl verdanken wir unser Leuchten allesamt dem göttlichen Urlicht, das als Sonnenmensch Jesus die Erde erleuchtet. Wenn wir uns aber seinem Licht öffnen, werden wir wirklich selber leuchtend. Ich stelle mir einen hohen Kreidefelsen an irgendeiner Ostküste vor, wie er in der Morgensonne glänzt. "Ihr seid das Licht der Welt" heißt also nicht nur: ihr seid weiß, sondern durchaus auch: ihr seid hell, nämlich vom göttlichen Sinn-Licht, das jede Person sich zu eigen machen soll, so sehr, daß es auch von ihr aus je ihre Welt erleuchtet. Wenn wir diese Wahrheit vergessen, landen wir in einer Neuauflage der alten religiösen Entfremdung, als wären wir Menschen bloß Dreck und Finsternis. Das wären wir allerdings, sobald wir ohne das wahre Licht hell zu sein vorgäben. Nehmen wir es aber in uns auf, dann verwandelt es uns in sich selbst. Das gilt freilich von jeder Geistesfarbe aller Menschen, egal ob jemand weiß, welchen Namen das Licht der Welt damals in Palästina als einzelner Mensch trug. Ach, könnten manche Wortführer der Christenheit nur ein Jahr hier bei "meinen" Indios verbringen, dann erhielten sie vielleicht am Himmelsgeschenk wahrer Demut Anteil und würden keine so großen Töne mehr spucken.

Fortsetzung von Klaus: Dem stimme ich zu. Eins darf die weiße Wand aber jedenfalls nicht: ihre Sonderfarbe mit dem strahlenden Licht selbst verwechseln und deshalb, weil hell schöner als finster sei, alle übrigen Farben zwingen wollen, gleichfalls weiß zu sein. Dieser Versuchung ist die Christenheit weithin erlegen. So hat ihr Licht sich verfinstert und ist vielen guten Farben zum Ärgernis geworden. Seit dem letzten Konzil ist dieser Irrtum aber gebannt, mindestens im Prinzip. Aufgabe wacher Christen ist es jetzt, diesen Gegensatz von hellem Licht und weißer Wand Tag um Tag deutlicher zu erleben und auf jeden Menschen, der zu ihnen von seinem Glauben spricht, aufmerksam zuhören, weil sie wissen: Jetzt trifft mich, die weiße Wand, eine der bunten Farben des Lichtes der Welt. Du siehst, das ist schon eine andere Einstellung als die unter Christen leider übliche: Sei doch endlich still mit deinen Irrtümern, damit ich dir die Wahrheit sagen kann, wie Gott sie seiner Kirche, d.h. uns anvertraut hat, damit wir sie aller Welt in die Ohren schreien, und wehe, einer hält sich die zu; dann müssen wir auch mit Gewalt und Tricks arbeiten (Wißt ihr, daß "Propaganda" ursprünglich der Name der päpstlichen Missionszentrale war?).

Nein: Die offenbarte Wahrheit ist Christus gerade als Gottes "Ja zu allen Verheißungen" (2 Kor 1,20). Wer gegen das helle Licht ist, der ist finster, so soll kein Mensch sein. Wem aber die weiße Farbe nicht zusagt, der kann mit Recht rot oder gelb oder sonst etwas sein. Schon Jesus selbst macht diesen Unterschied. Beim hellen Licht kennt er keine Neutralität: "Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich" (Lk 11,23). Zur weißen Farbe hingegen darf man sich neutral verhalten: "Wer nicht gegen euch ist, der ist für euch" (Lk 9,50), sagt Jesus seinen Jüngern.

Sooft ein Christ es mit einem fremden Glauben zu tun hat, muß er deshalb sozusagen drei Farben ausbalancieren: die eigene (konfessionelle, kulturelle und persönliche), die fremde sowie das christliche Weiß. Keine darf er grundsätzlich leugnen, aber je nach der Etappe des Gesprächs ist eine andere dran. "Selig die im Geist Armen" (Mt 5,3): Wohl dem, der seine eigene Farbe vom christlichen Weiß so überstrahlen läßt, daß er echt zuhören, die Wahrheit der anderen Farbe an sich heranlassen kann, mindestens eine Zeitlang. Was dann geschieht, wenn seine Farbnuance und die seines Partners sich anreichert, verfeinert, ausgestaltet: das ist nicht vorauszuplanen, sondern das Heilswerk des göttlichen Geistes. Kein Mensch kann allfarbig sein, keiner hat die Wahrheit; genug, aber auch lebenswichtig, ist es für jeden, daß er seine jeweilige Wahrheit liebend lebt.

Herzlichen Gruß an Deine Eltern (Du solltest mal die Küche hier sehen, Edith!) und auch an Deinen Freund Jocki

von Eurem Klaus

"Was meinst du, Jocki?" - "Dein Onkel Klaus gefällt mir. Wenn sein Christentum das echte ist, dann möchte ich gern ein richtiger Christ werden." - "Es ist das echte, bestimmt. Das geknickte Rohr zerbricht es nicht, den glimmenden Docht löscht es nicht aus, erst recht überpinselt es das bunte Muster auf seiner weißen Wand nicht mit irgendeinem schmutzigen Einheitsgrau oder zertrümmert gar das Prisma."

"Kinder, essen kommen! Was für ein Tag ist heute?" fragt die Mutter. - "Egal!" ruft Friedrich, "heute ist auf jeden Fall das weiße Gebet dran, nicht wahr, Jocki?" - "Ja." - "Auch recht. Am besten betest du es gleich selber vor." Die Mutter reicht ihm eine weiße Tafel voll bunter Buchstaben. Trotzdem kann Jocki einigermaßen flüssig lesen:

Oft hast Du mit Deinen Freunden gegessen,
mal wenig, mal reichlich, den Neidern zum Hohn.
Einträchtig seid ihr beieinander gesessen,
verbunden in Dir dem JA in Person.
So lustig bereit, wie jetzt unsere Münder,
sei stets unser Herz für der anderen SINN.
Nur so sind wir Deines Friedens Künder
und finden, mit allen, zur Fülle hin.

Was liegt daran, was es gibt? Ihr, liebe Leser, kriegt ja sowieso nichts davon ab. Deshalb ist es übrigens auch egal, ob der Wein bei der Hochzeit von Kana Weiß- oder Rotwein war oder vielleicht die ganze Erzählung eine Legende ist und kein Apotheker in Kana je die Chance hatte, jenen Wein chemisch zu untersuchen. Viel liegt allerdings daran, daß es Jesus zuzutrauen ist, ein solches Wunder zu wirken, und daß Er, der wahre Weinstock, seine Freunde mindestens so high macht (ganz ohne Drogen), wie die eifrigsten Zecher damals in Kana gewesen sind.

Nach dem Essen dreht Jocki die weißbunte Tafel um und betet vor:

Wir sind wieder neu zu Kräften gekommen
mit herzlichem Reden, durch Speise und Trank.
Auch Dein Leib hat uns in sich aufgenommen
und will durch uns heilen, was trüb ist und krank.
Dazu laß uns leer sein, niemanden bedrücken:
Weiß sei unsre Wand, Du allein bist ihr LICHT.
Dann wird uns die vielbunte Menschlichkeit glücken,
für die immer jetzt schon Dein Himmel anbricht.

"Amen," sagen alle. Und Jocki weiß, wer er sein will.



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