Jürgen Kuhlmann

[Die Tiefenspannung links / rechts]

Zum Verständnis der evangelischen Räte


[Anmerkungen im Oktober 2010]

"Quae utilitas circumcisionis?
Multum per omnem modum!" (Rom 3,1)

Für den unerlösten Menschen gibt es zwei grundverschiedene Weisen, sich Gott zu widersetzen: heidnischen Götzendienst und jüdischen Gesetzesdienst (Heide und Jude [werden im Folgenden durchwegs] nicht konkret, sondern als Typ [der einen oder anderen christlichen Einseitigkeit] genommen!).

Der Heide pocht auf seine Freiheit, er steckt sich selbst sein Ziel, das ist dann sein Götze, sein höchster Wert, dem alles andere geopfert wird, einschließlich der Rechte der anderen und der eigenen Vernunft. "Fleischeslust, Augenlust und Hoffart des Lebens", so fasst Johannes dies Heidentum zusammen, dem heute mehr denn je, wer immer die Augen offen hält, an allen Straßenecken begegnet. Was soll, angesichts dieses Sumpfes, der Christ tun? Die Lösung. scheint einfach: Wir hätten uns zurückzuziehen, den ganzen Trubel außeracht zu lassen, um so den Heiden zu bezeugen, dass sie in ihm das Leben, das sie suchen, nicht finden können. Verzicht Gottes halber, um Sein Recht auf uns und Ihn als unser wahres Leben den Heiden zu zeigen, das wäre die rechte christliche Einstellung, wenn nur auf die heidnische Weise der Mensch sich gegen Gott auflehnen könnte.

Der unerlöste Jude pocht nicht auf seine Freiheit, o nein. Er ist Gott begegnet und hat schnell herausbekommen, dass gegen ihn nichts zu erreichen ist. Ist nicht er Herr der Geschichte? kann er dir nicht dein liebstes Spielzeug aus der Hand schlagen, wenn es ihm beliebt? Götzenbilder errichtet der Jude also keine, dafür macht er aber seinen eigenen Gottesdienst zu seinem Götzen, von dem er sich das Heil erwartet. Er pocht, und nicht leiser als der andere, aber auf sein Verdienst. Verdienst im strengen Sinn gibt es aber nur, wo ich etwas hergebe, ein Opfer mir antue. Es werden also Tausende fetter Stiere geopfert, Fleisch, von dem man ganze Städte ernähren könnte, wird, völlig unnützerweise, verbrannt. Ohne Bild gesprochen: Man tut sich selbst und seiner Vernunft Abbruch, rühmt sich der Taten, die man wider den gesunden Menschenverstand vollbringt, und wähnt, Gott sei dies wohlgefällig, er mag, so sagt man, den Tod des Menschen, und deshalb, um vor ihm sicher zu sein, bringt man sich um. Nichts da von Fleischeslust, Augenlust und Hoffart des Lebens! Dem widersagt der rechte Jude. Er ist Fanatiker der Reinheit, quält seinen armen Leib, verachtet das Weib als Schlinge Satans [Hier zeigt sich besonders, wie wenig dieser Begriff "Jude" mit wirklichen Juden zu tun hat], flieht die Dinge dieser Welt, nicht aus Schwäche, als wäre er bloß ein halber Heide, nein, aus Überzeugung und mit Vehemenz. Auch seinen stolzen Willen bricht er, tut alles aus Gehorsam, weil der strenge Gott ihm dann nichts mehr anhaben kann: wer wird schon einen Toten noch töten wollen! Nur das sieht er nicht, dass er sich durch alle beschwerlichen Werke vom eigentlichen Willen Gottes loskaufen möchte: davor, sich selbst bedingungslos ihm zu übergeben, sich als Geschenk überhaupt erst zu empfangen statt krampfhaft sich selbst zu rechtfertigen. Das Urteil der Offenbarung über solche Juden ist erschreckend: Die Hunde, sollen sie sich doch gleich zerschneiden! Wiederum: Wäre dies die einzige Verirrung der Menschen, hätte der Christ es leicht: Wir müssten nur mit Danksagung alles annehmen, was Gott gibt, in unseren Ehen die zwischen Himmel und Erde andächtig feiern und in der herrlichen Freiheit die uns geschenkt ist tun, was dem Kinde Gottes eben gefällt. Kurz, wir müssten einfach leben, jeden Tod zwar aus Gottes Hand annehmen, ihm aber nie auch nur einen Schritt entgegengehen. Denn unser Gott ist ein Gott der Lebenden!

Nun gibt es aber, in uns und um uns, Heiden und Juden. Wie muss unsere Haltung sein und welches unser Zeugnis, um jedem nur in seiner Ablehnung [der Einseitigkeit] des anderen Recht zu geben, ohne doch dabei in seinen Fehler zu fallen?

Nicht so schwer ist die Frage nach der Haltung zu beantworten. Im Herzen stirbt uns der Heide: Ich will mein Leben nicht mehr eigenhändig zimmern, sondern erhoffe es von Gott. Und der Jude nimmt sich endlich an: Ich lege keinen Wert mehr auf die Werke meines eigenmächtigen Sterbens, sondern erwarte die Gerechtigkeit von Gott. So ist denn mein Wille nicht mehr gefesselt, sei es an die engen Ziele die der Heide eben gerade hat, sei es an das verkrampfte Nein zu solchen Zielen, sondern mein Herz ist mit all seinen Kräften befreit zur Frage der Liebe: Herr, was willst Du, dass ich tun soll? Ich wäre einerseits froh über dies da, bin andererseits versucht, es Dir gewalttätig hinzuschlachten, um so Dein Wohlwollen zu erzwingen: Doch von beiden Fesseln hast Du mich befreit, was liegt an Ja oder Nein: Du hast mit der Welt etwas vor, Herr, wie kann ich Dir dabei helfen?

Wie befreiend wären Exerzitien, wo auch der Jude unter das Messer der Indifferenz käme! [1970 habe ich dessen Fehlen scharf erlebt, siehe »Gott Du unser Ich« S. 122 f.]

Sobald die Frage der Liebe vom Herrn der Geschichte nun aber nicht überwältigend klar beantwortet wird, ist es vorbei mit der Einfachheit. Wer durch christlichen Verzicht Zeugnis gegen die Heiden ablegt, der bestärkt ungewollt die Juden in ihrem Wahn. Und wer diesen in christlicher Freiheit ins Gesicht lacht, den halten nicht bloß sie für einen Heiden, sondern die Heiden selbst erklären ihn sogleich für ihren Mann.

Und wenn das alles wäre! Nicht nur für die anderen, auch für mich selbst ergeben sich Zweifel. Ich bin ja noch kein Heiliger! Immer wieder falle ich zurück in die alten Sünden, in Heidentum und Judentum. Das sind freilich Haltungen, doch verwirklichen sowie bekämpfen kann ich sie nur am Material von Taten. Wer sagt mir, dass nicht, was ich christliche Freiheit nenne, in Wahrheit nur Bequemlichkeit ist? Wer sagt aber auch dir, dass nicht, was du christlichen Gehorsam nennst, in Wahrheit bloß enge Selbstgerechtigkeit ist, welche, um sicher zu gehen, das Werk, sagen wir, der vollbewussten Zeit-Tötung ableistet, ohne damit zu rechnen, dass dem großen, dem wahren Gott, mehr als an solchem Sklavendienst, an tätiger Sorge um Seine Botschaft gelegen sein könnte? Das sagt uns, mir und dir, keiner. In solcher Lage hilft nur mehr das Gebet - und es wird erhört! - Dic animae meae: Salus tua Ego sum. Die Liebe, die wir in der Hoffnung sicher haben, kann es sich leisten, rechts und links daneben zu tappen; das macht es alles nicht mehr. Nur darum freilich darf ich diese Risiken eingehen, weil mir gar nichts anderes übrig bleibt! Die Wölfe haben es leichter, die Schafe auch: lassen wir ihnen ihr einseitiges Leben, wenn sie nicht hören wollen, und seien wir die verbrüllten und vermähten und gelegentlich auch noch verprügelten Hunde des Princeps pastorum: auch wenn wir uns immer wieder zu wölfisch oder zu schafsköpfig benehmen, Er jagt uns doch nicht weg.

Weil nun der Gegensatz von Judenchristen und Heidenchristen für unsere Lage in der Welt so entscheidend ist, darum gibt es diese beiden Stände auch heute noch in der Kirche: Der Stand der Laien bezeugt die Freiheit, die Christus uns gebracht, und der Stand der Räte bezeugt den Tod als notwendigen Durchgang zu diesem Leben. Beide sind in der Grundhaltung eins; denn der "Tod des Mönches" richtet sich nicht gegen das neue, sondern gegen das alte Leben, das nur Scheinleben war; und die Freiheit des Laien widerspricht nicht dem gläubigen Gehorsam, sondern nur pharisäischer Sklaverei. Weil jedoch der Stand nicht um der Haltung, sondern um des Zeugnisses willen da ist, das Zeugnis aber sichtbar sein muss, darum unterscheiden sich beide Stände doch sehr erheblich voneinander. Ehe, Eigentum und Freiheit stehen Ehelosigkeit, Armut und Gehorsam gegenüber.

Ich brauche hier nicht auszuführen, wie die vom Mönch dargelebte Haltung auch den Laien beseelen muss und wie sie auch sein äußeres Leben prägt, es so deutlich vom Heidentum absetzend; das ist zur Genüge bekannt. Weniger im Vordergrund der katholischen Aufmerksamkeit steht die entsprechende Wahrheit: Auch der Mensch der Räte muss die vom Laien ausgedrückte Haltung haben, und keineswegs nur im innersten Herzen! Was unterschiede sonst die Edelfrucht der Erlösung von jenem Zerrbild des Juden, dem gesetzeshörigen und leistungsgeblähten Pharisäer? Paradox ausgedrückt: Seid so ehelos als wäret ihr vermählt, seid arm als gehörte euch alles und seid gehorsam wie ein Kaiser!

Hier nur kurz zum Letzten einiges: Der Heide setzt die faktisch vor seinem Bewusstsein stehenden Ziele absolut und greift nach ihnen. Der Heidenchrist vollzieht zwar diese Absolutsetzung nicht mit, muss aber ebenso bei seinem Handeln von dem ausgehen, der er nun einmal ist: von den Wünschen und Plänen, die in ihm leben. Der eigentlich Gehorsame endlich lässt sich, was er als Ziel anstreben solle, von seinem Oberen befehlen. Er bezeugt damit die Wahrheit, dass wir nicht wissen, was gut für uns ist, keine Übersicht über den rechten Lauf der Welt haben, sondern uns vertrauensvoll der Vorsehung Gottes überlassen müssen, wollen wir zu dem uns zugedachten Glück auf Erden finden: Theonomie gegen Autonomie. Damit wird zwar der heidnische Egoismus und, als Zeichen dessen für alle, auch die grundsätzliche christliche Freiheit geopfert, nicht aber (so wenig wie beim Glauben!) wider die Vernunft gehandelt! Denn diese muss anerkennen, dass die Welt ihr zu groß ist, meine Anlagen mir zu reich, und die Not zu sehr überall, als dass ich eindeutig sagen könnte: Hier gehörst du hin. Es ist also nicht wider die Vernunft, wohl aber weit über sie hinaus, wenn ich mir meine Ziele im Namen Gottes von einem anderen zuerteilen lasse. Der Gehorsam sänke jedoch sofort zur ungläubigen Sklaverei herab, würden auch die einzelnen Mittel zu solchem Ziel, nunmehr wider die Vernunft, aufdiktiert. Da folgen Heteronomie und Sünde.

Warum? Nun, sobald die Vernunft ein bestimmtes innerweltliches Ziel vor sich sieht, ist sie auf ihrem ureigenen Gebiet, dazu das beste Mittel herauszufinden. Solange ein bestimmtes Ziel gilt, ist es wider Natur und Würde der erlösten Vernunft, ein Mittel anzunehmen, das sie selbst klar als ungeeignet erkennt. Ihr könnt nicht zwei Herren dienen: Gott, der dem Gehorsam das Ziel setzt, und dem pharisäischen Gewissen, das sich auch in allen Einzelheiten gestützt wissen will und wohlgeborgen innerhalb der Gruppe derer, die da Ehre voneinander nehmen, wie brav sie das Gesetz halten. Trägt Gott mir etwas auf, habe ich Ihm zu gehorchen, auch gegen den Einspruch meines Demuts-Werke heischenden Götzen.

So allgemein vorgebracht, dürfte dies kaum bestritten werden. Gegen jegliche praktische Folgerung aber richtet sich sogleich der Einwand: Wie willst du denn in einem konkreten Befehl Ziel und Mittel scheiden? Nun, das mag schwer sein; unmöglich ist es so lange nicht, wie wir uns gemeinsam in jenem überschaubaren Bereich befinden, wo menschliches Planen und Handeln - auch das kirchliche - geschieht. Da geht es mit rechten Dingen zu, die für einen gläubigen Katholiken zwar überall das Geheimnis berühren, gerade für ihn aber auch in sich durchaus klar sind. Was Menschen berechnen, können Menschen nachrechnen.

Anders wird es erst, wenn wir unvermerkt oder bewusst mit einem Willkür-Faktor von außen her rechnen: dem nominalistisch aufgefassten souveränen Willen Gottes. Damit dürften wir auf den Kern des Gehorsamsproblems gestoßen sein. Holen wir aus.

Gott ist Herr über Leben und Tod. Er kann töten und lebendig machen wie es Ihm beliebt, und tut es. Sendet Er uns Tod, haben wir ihn kindlich anzunehmen und geduldig zu leiden. Darin sind wir eins. Die Frage ist nur die: Gilt dies, wie für Seinen bewirkenden, so auch für Seinen befehlenden Willen? Unserem Erleiden auferlegen kann er gleichermaßen Tod und Leben, Unsinn und Vernunft; sollte Er jedoch ebenso beides abwechselnd unserem Handeln aufgeben? Wer diese Frage, mit Berufung auf Abrahams Opfer etwa, grundsätzlich bejaht, für den ist Gehorsam nur mehr ein praktisches Problem menschlicher Schwäche, im übrigen das Einfachste der Welt: Ich muss immer das tun, was mir gerade konkret aufgetragen wird. Der Mund des Gesetzes ist Quasi-Sakrament des Willens Gottes. Stimmt das Mittel schlecht zum Ziel, das der Obere (und also ich im Gehorsam) hat, so will es Gott trotzdem, aber eben als Strafe für meine Sünden und die der Kirche. Das Recht, zu strafen, steht Ihm zu, ich soll Ihm gehorsam Geißel oder Opfer sein. Logisch ist die Position einwandfrei; ist sie aber auch christlich? Dafür spricht, dass Christus gekommen ist, sein Leben für die vielen hinzugeben. Dürfen, die Ihm nachfolgen, anderes erwarten? Gott will Tod.

Doch höchste Vorsicht; es geht um den ganzen Geist unseren Glaubens! Unser Herr ist auch gekommen, um der Wahrheit Zeugnis zu geben. Und dass sie das Leben in Fülle haben. Mir scheint, wir müssen unterscheiden zwischen dem Ziel der Menschwerdung und dem Ziel, das der Mensch Jesus seinem Handeln vorgegeben sah. Gott ist Mensch geworden, um durch Sein Sterben unseres innerlich zu erlösen, statt es nur machtvoll wegzuwischen; so sollen wir schon im Tod das Leben haben, und in Fülle in der Ewigkeit. In diesem Sinn ist Er gekommen, um sterben zu müssen; dies "muss" ist jenseitig, senkrecht über seinem Leben und wird in der Rückschau zum heilsgeschichtlichen "musste". Das Ziel aber, das in seinen Erdentagen Jesus vor Augen stand, war keineswegs der anzustrebende Tod. Nicht solcher Geist weht uns aus den Evangelien an! Der Inhalt seinen Lebens war: der Wahrheit Zeugnis geben. Die Treue zu diesem Zeugnis hat Ihn ans Kreuz gebracht, nicht aber ein selbstmörderischer Pseudo-Gehorsam. Wir nun können nicht dem Worte Gottes darin nachfolgen, der Welt das Leben zu bringen, noch darin, den Tod zu suchen, um den der Welt zu erlösen. Wir können nur dem deshalb zum sterblichen Menschen Gewordenen nachfolgen, der der Wahrheit Zeugnis gibt und dabei freiwillig den Tod auf sich nimmt. Das, was wir unmittelbar wollen sollen aber, das Zeugnis, ist nur hell und positiv: darum enthält unser Lebensziel keinen Schatten finsterer Todeswillkür; unser Vater im Himmel fühlt nicht Seinem Rechte geschmeichelt, sondern Seine Güte verkannt, wenn wir Ihm zutrauen, Er befehle uns je den Selbstmord der Vernunft. Jesu Opfer für die Wahrheit war das einzig Vernünftige für Ihn und hat (vgl. die Abschiedsreden!) gar nichts gemein mit der bitteren Starrheit dessen, der darauf aus ist, als Zerbrechender göttliche Herrlichkeit in sich zu haben. Seine Talente, die den anderen gehören, zerbricht er mit! Solcher "Gehorsam" kann Sünde sein. Abrahams Opfer verhinderte Gott: Solche Opfer wären fruchtlos, Er will sie nicht von uns. Seines freilich (A. bildete es vor) ist fruchtbar; nur so wird Leid ganz geheilt. Daran Teil haben wir nur im unvermeidlichen oder sittlich geforderten Tod! Nicht in unsittlichem Selbstmord.

LDMq November 1962


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