Jürgen Kuhlmann

Der Würfel des Heils


1a


Das Prinzip Kairós

Vom Geheimnis des Sinn-Würfels

Das christliche Hauptdogma bekennt die absolute Wirklichkeit selbst als Spannungsfeld unendlicher Dimensionen, da sollte ein Christ sich nicht wundern, daß für uns Menschen die ewigen Wahrheiten gleichfalls in Spannung zueinander stehen. Gottes Wesen ist das Aus-, Gegen-, Mit- und Ineinander von Sinn-Achsen, dieses Wesen will Er, sein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

Ein plastisches Gleichnis helfe uns zur nötigen Anschaulichkeit. Stellen wir uns drei Punkte in einem Würfel vor, jeder sei auf einer anderen Kante zur selben Ecke hin unterwegs. Am besten sehen wir den Würfel auf der Gegen-Ecke tanzen. Die Bahnen der Punkte sind so sehr verschieden, daß sie nicht widersprüchlich sind! Jeder Punkt kann allein die Fortschritte, Rückschläge und Gegensätze auf seiner eigenen Bahn überhaupt wahrnehmen; was sich auf den anderen beiden abspielt, ist ihm nicht einmal als Problem erfaßbar. Erst wenn wir die Würfeldiagonale durch jene Ecke dazudenken, auf die alle drei Kanten sich projizieren lassen, kann es auf ihr zu Konflikten kommen. Sie haben zwar ihr praktisches Recht, insofern es eben um die Bestimmung dessen geht, was auf der knappen Strecke dieser Diagonale geschieht, theoretisch aber, nämlich auf die Wahrheit geschaut, beruhen sie auf Mißverständnissen. Denn jede Wahrheit gilt in ihrer eigenen Dimension total und betrifft die anderen überhaupt nicht.

Im Großen entspricht der Würfel-Diagonalen unser gegenständliches Bewußtsein, das von der Sprache bestimmt wird. Hier spielt unser Leben sich Stunde für Stunde ab, und zwar gemäß dem Fundamentalprinzip des Qohelet: "Alles hat seine Zeit" (Pred. 3,1). Vom kairós spricht das Neue Testament. Das heißt: Mal ist die eine göttliche Dimension "dran", ihre Wahrheit auf die Alltags-Achse zu strahlen, mal die andere.

Insofern gleicht das gesamte Dimensionengefüge einem zeitlichen Organismus, d.h. einem Rhythmus aus verschiedenen Takten, die für die Vernunft zwar ineinander gelten (denn die auf Gott hin ausgespannte Vernunft umspannt das Ganze, wohnt sozusagen im Raum des Würfels), für den Verstand (der auf die Diagonale beschränkt ist) gelten die Takte aber jeweils nacheinander.

Nur so läßt sich der Grundeinwand lösen, den soviele aufrichtige Menschen gegen jeglichen Dialog vorbringen. Nehmen wir z.B. den Gegensatz von Religion und wissenschaftlichem Atheismus. Für die Wissenschaft gibt es nirgends im Weltall so etwas wie einen Gott. Da erhebt sich die Frage: Es können doch nicht beide recht haben, der Fromme mit seinem Gebet und der Atheist mit seiner Gottesleugnung! Was ist also mit diesem Systemvorschlag gemeint? Er scheint nicht mehr als ein dialektischer Eintopf zu sein, an dem unernste Allesfresser sich ihren Geistmagen verderben mögen. Ein ehrlicher Mensch weiß, was er glaubt und bekennt, und macht derlei Gaukelspiele nicht mit. Daß die gegensätzlichsten Anschauungen doch alle recht haben, das scheint Unsinn. Dann braucht man gar nichts mehr zu sagen. Wenn das Widerspruchsprinzip nicht gilt, wenn jedem behaupteten Ja sich sein Nein mit gleichem Recht entgegenstellen dürfte, dann hätte nicht jeder recht, sondern keiner, dann gäbe es für uns Menschen so etwas wie Wahrheit überhaupt nicht.

Ich meine: Das Widerspruchsprinzip selbst, wie es von Aristoteles klassisch formuliert worden ist [Metaphysik 1005b], deutet die Lösung des Problems schon an: "Es ist unmöglich, daß dasselbe demselben in der gleichen Hinsicht zugleich zukomme und nicht zukomme." Daß es vor meinem Fenster jetzt hell ist und in ein paar Stunden finster sein wird, ist zwar ein Widerspruch, ein wahrer und wirklicher aber, und keineswegs gegen das Prinzip. Meine Rede von Sinntakten weist auf eine geistige Zeitdimension hin, die mit der Zeit von Kalender und Uhr nichts zu tun hat, äußerlich weder festgestellt noch gemessen werden kann. Sie ist aber auf ihre innere Weise ebenso wirklich wie die äußere Tageszeit und ermöglicht deshalb, daß zwei Menschen, die einander ins Angesicht widerstehen, trotzdem beide recht haben.

Wie bestimmt sich aber, wann der eine und wann ein anderer Pol dran ist? Wann darf oder gar soll ich meinen Antrieben freien Lauf lassen, wann mich einem höheren Willen beugen und wann alles Bestimmte überhaupt für wesenlos halten und mich ins unbestimmt Eine versenken? Beantwortet wird diese Frage allein vom existentiell vernünftigen Leben selbst. Die Theorie kann zu ihm nur beitragen, indem sie falsche Antworten als ideologische Verengungen entlarvt. Falsch ist jeder Sinn-Versuch, der die entscheidende Instanz aus dem Lebenszusammenhang herausreißt, sie zu etwas objektiv Faßbarem vergegenständlicht. Am verbreitetsten sind scheinreligiöse, scheinwissenschaftliche, scheinhumanistische und scheinmystische Antworten.

a) Scheinreligiös gemeint ist häufig die Auskunft, der Mensch solle eben seinem Gewissen, d.h. der Stimme Gottes folgen. So werden alle göttlichen Pole dem Du-Pol untergeordnet, das Mobile gerät aus der Balance. Allzuleicht wird dann das Gewissen mit dem Überich verwechselt; während der biblische Gott, wie Maria im Magnificat jubelt, "die Mächtigen vom Thron stürzt", setzt der Götze dieser Scheinreligion sich an die Spitze der Mächtigen, verlängert irdische Heteronomie ins Absolute. - Richtig ist diese Antwort nur, wenn das Gewissen im Gegensatz nicht allein zum Ich, sondern auch zum Überich verstanden wird: als Stimme jenes lebendigen Ganzen in Person, zu dem ich gleichberechtigt gehöre, weil es mir innerlicher ist, mich tiefer kennt und zärtlicher liebt als ich selber oder meine besten Freunde. So gemeint, hat die Antwort aber keinen innerweltlich faßbaren Sinn mehr, kann sich nicht gegen den Vorwurf von Logikern wehren, sie sei eine Leerformel, auch nicht gegen den schlimmsten Mißbrauch. "Vorsehung, brüllt der Führer, und ist ganz Ohr - der kleine Mann, der sieht sich lieber vor ...", mahnt ein Nachkriegsgedicht.

b) Scheinwissenschaftlich ist die materialistische Auskunft: was irgendeinem Menschen jeweils als dran erscheine, richte sich letztlich nach der Chemie seines Gehirns; der Bio-Computer verarbeite alle genetischen, hormonalen, sinnlichen und einsozialisierten Daten miteinander zur Weltsicht und Aktion des Individuums, egal ob dieses sich als fromm, gottlos oder mystisch interpretiere, auch solche Deutung sei bio-elektronisch verursacht. - Diese Auskunft ist noch falscher als die übrigen, weil das Gefüge der göttlichen Pole nicht durch einen davon ersetzt wird, sondern durch Ungöttliches, eben die Wirkgesetze der Materie. Alle hohen Werte - Würde, Freiheit, Liebe, Reue - seien bloß Illusionen, die der Hirnapparat dem Bewußtsein vorspiegelt. Letztlich seien wir nichts als Marionetten der Evolution, die mit einem derart mißratenen Produkt vermutlich ja auch bald wieder Schluß machen werde. Der scheinfrommen Knechtschaft nach oben entspricht die scheingelehrte Bedingtheit von unten. Die Auskunft ist aber falsch; sie verwechselt das Medium eines Prozesses mit seiner bestimmenden Ursache. Ist eine Violinsonate nichts weiter als ein Kratzen von Pferdehaaren über Katzendärme? Paganini weiß es besser. - Richtig ist die Antwort nur, wenn sie den Grund dafür, daß jene Elektronenprozesse - trotz der subatomaren Unbestimmtheit - gerade so und nicht anders ablaufen, wissenschaftlich prinzipiell (und nicht nur wegen der vorläufigen Grenzen unseres Wissens) für unerkennbar erklärt. Damit wird sie aber gleichfalls zur Leerformel, besagt nichts anderes, als daß wir die Antwort nicht wissen, und läßt dem Glauben Raum.

c) Scheinhumanistisch gemeint kann die Auskunft sein, der Mensch selbst bestimme frei darüber, was für ihn gerade gelten soll. Falls das göttliche Gefüge auf seinen Ich-Pol reduziert wird, ist die Antwort falsch, gibt dem Einzelnen ein Gewicht, das ihn erdrücken muß. Ihm fehlt der Überblick über das Ganze; niemand kennt Gottes Pläne noch auch nur alle Faktoren, die seine Situation bestimmen. Nietzsches Übermensch sollte freilich kein Nazi werden, nur widerwillig gab Sartre sich als Stalinist; aber die Verstrickungen der Scheinhumanisten sind keine unbegreiflichen Mißgeschicke. Das Ich aus dem absoluten Mobile herauslösen heißt es unheilbar verwunden; wann es total verteufelt, ist nur eine Frage der Zeit. - Richtig ist auch diese Antwort nur, sofern sie im Grunde jede Antwort verweigert, sich bloß gegen die Verengungen der anderen Irrtümer kehrt: Der Mensch zappelt nicht am Faden Gottes oder elektronischer Prozesse, sondern ist selbst seines Glückes Schmied, mindestens auch. Wenn das göttliche Gefüge nicht zerrissen, sondern nur in seinem Ich-Pol betrachtet wird, gilt diese Antwort, läßt aber unsere Wissensgier unbefriedigt, keine Instanz wird festgemacht, alles bleibt in der Schwebe, die allein vernünftiges Leben erlaubt.

d) In die Irre leitet schließlich auch die scheinmystische Auskunft, wo also der Eins-Pol das ganze Gefüge ersetzen soll. Extremer Mystizismus ist von gnadenloser Radikalität. Alle Seelenstimmungen gelten ihm als gleichgültig; härteste Askese und zügellose Ausschweifung sind wesenlose Blasen an der Oberfläche des Ozeans. Allein auf seine unfaßbar stille Tiefe komme es an - wäre nicht alles, worauf es uns Werdewesen überhaupt ankommen kann, schon deshalb bloß Oberfläche, Traum, Wahn, Eitelkeit. Auch diese Antwort ist fatal falsch. Bloß Alles ist nicht das einzig Wahre, Jesus hat uns von diesem Spuk erlöst. Mystische Versenkung ist auch nicht die, wohl aber eine absolute Wahrheit, heilsam nur dann, wenn sie mit den anderen göttlichen Polen im Gleichgewicht schwingt. - Wahrhaft mystisch ist diese Auskunft also erst, sobald sie wie die anderen Einseitigkeiten auch die eigene überwindet und zugibt, daß sie dem exakt fragenden Verstand nichts zu bieten hat. Nur auf das Eine kommt es an, Maria hat das beste Teil erwählt, trotzdem ist Martha mystisch weiter, wenn sie einem Kranken ein Süpplein kocht - solch verwirrende Botschaft kann kein Verstand begreifen.

Wer auf alle objektivierenden Auskünfte verzichtet, keine bestimmte Instanz mehr befragt, was dran sei, der kann sich dem Unsagbaren selbst überlassen, für ihn sind Gottes Stimme, Elektronenwirbel, existentieller Entschluß und ewiges Spiel verschiedene Mienen jenes Eigentlichen, das jede Kategorie sprengt. Ist er ein Christ, dann kennt er im Dogma der Dreieinigkeit zwar die denkbar genaueste Beschreibung der Struktur dieses Eigentlichen; trotzdem hat er den Nichtchristen nichts Heilsentscheidendes voraus. Denn nicht die Kenntnis der abstrakten Struktur macht es, sondern allein Glaube, Hoffnung und Liebe, d.h. das wirkliche Leben gemäß dem absoluten Gefüge, das von dieser Struktur (unendlich verblaßt) dargestellt wird [Vgl. die wichtige Unterscheidung zwischen notional assent und real assent bei Kardinal John Henry Newman: Grammar of Assent, 4].

Wer irgendeinen Pol des Mobile herzlich ergreift, lebt im Heil; denn die volle Wirklichkeit eines jeden Pols umfaßt auch seine Beziehungen zu den anderen. Wer dagegen die ganze Struktur zwar begreift, solches Begreifen aber zum Standpunkt macht, statt sich in die wirklichen Spannungen zu wagen, der wäre ein trauriger Mißgriff, bedürfte der Rettung mehr als viele, die er nur mit Mühe achtet ...

Juni 1990


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