Jürgen Kuhlmann

Gott Alles in allem!

Eine Kontroverse

Die Wette hätte ich verloren. Daß beide deutsche Kirchen, katholische und evangelische, in ihrer neuen Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift das Gotteswort verfälschen: das hätte ich für unmöglich erklärt. Wäre mir irgendein Linker mit einer solchen Behauptung gekommen, hätte ich ihn ausgelacht. Haben nicht die besten Fachleute mitgewirkt? Ist nicht jeder Satz von einer hochqualifizierten Kommission um und um gewendet worden, bis er saß?

Und doch ist das Unmögliche geschehen, jeder kann es lesen. Und zwar an einer zentralen Stelle und in so ungeheuerlich plumper Weise, daß ich weder es noch mich fassen kann. Dies wird kein ausgewogener, ruhiger Artikel, soll es nicht sein. Der Zorn muß heraus. Einer der schönsten Sätze, die Paulus geschrieben hat, wird in der neuen Bibel verhunzt, kastriert, um alle Kraft gebracht. Aus funkelndem Hoffnungswein für Getretene, Entfremdete, Mißachtete, wird ein widerlich gechlortes Leitungswasser. Ja, die Leitung! Damit nur ja kein Leser und Hörer auf den Gedanken komme, an seinen irdischen Zügeln zu zerren, muß der unendliche Zügel ganz oben im Himmel solide befestigt werden, und sei es mit Gewalt und Lüge, indem man Gottes Wort - mit vollem Bedacht, denn Griechisch können jene Leute - etwas bekräftigen läßt, was es an dieser Stelle ausdrücklich nicht sagt.

Was ist ein Kamel? Das Ergebnis, wenn eine Kommission ein Pferd entwirft. Die hübsche Bosheit des Nobelpreisträgers E. Chargaff ist für unseren Fall abzuwandeln: Was ist ein Bluthund? Das Ergebnis, wenn eine autoritätsfixierte Kirchenkommission ein Pferd - nicht entwerfen, sondern bloß treu nachzeichnen soll. Gott hat dem Christen ein feuriges Wortpferd geschenkt, das ihn in die blühende Weite der Freiheit tragen soll - die federkratzende und gegenlesende Kommission macht daraus den Bluthund, der die Eingesperrten, wenn sie ja über die Mauer wollen, flugs ins Lager zurückhetzt.

Übertreibe ich? Ist mein Schimpfen maßlos? Urteilen Sie selbst. Im ersten Korintherbrief (15,28) schwingt Paulus - inspiriert vom Heiligen Geist, sagt das Dogma - sich auf zu einem Ausblick in die erlöste, endlich unentfremdete Welt: "damit Gott sei alles in allen". So steht es da, in wenigen kurzen Alltagswörtern. Es gibt keine Varianten beim Wörtlein "sei", sämtliche Handschriften überliefern denselben Text: "hina è ho theos (ta) panta en pasin". Nach einem halben Jahr Griechisch kann jeder Schüler das übersetzen, kopfwiegendes Abwägen entfällt, der Wortlaut ist knapp und klar.

Der Sinn freilich führt in abgründige Tiefen. Man hat diesen Hoffnungsjubel das hohe Lied eines wahren christlichen Pan-the-ismus genannt, denn beide Begriffe werden verbunden. Mag sein, Paulus hat sich dabei an die andere Stelle erinnert, wo (einige Jahrhunderte vorher) Jesus Sirach von Gott sagt: "Noch vieles könnten wir anführen und kämen doch nicht ans Ende. Der Rede Schluß sei also: Er ist alles." (43,27) Falls ja, dann hätte Paulus Gottes Alles-in-allen-Sein von der Gegenwart in die Zukunft transponiert: jetzt ist die Welt ja nicht so, daß wir wirklich überall Gott gegenwärtig glauben könnten; für dann aber, wenn die Welt endgültig gerettet sein wird, für dann dürfen wir hoffen, "daß Gott sei alles in allen".

Die Folgerungen sind abenteuerlich. Nicht mehr Knechte eines Fremden werden wir sein, der über uns herrscht, und das gar noch in uns, wie ein streng bohrendes Überich. Sondern ich in mir, du in dir, wir in uns wird Gott dann sein, ähnlich wie ich selbst in meinem Daumen eben Daumen bin und im Ohr selber mein Ohr, wahrhaft diese Glieder selbst, in all ihrer bunten Vielfalt, und dennoch zugleich in jedem ich, der eine und selbe. Alles in allen gesunden Gliedern bin ich, der Lebendige in Person, und so ähnlich - zu seinem Gleichnis schuf Gott den Menschen - ist es auch im Großen und Ganzen, wenn in der endlich heilgewordenen Welt "Gott alles in allen sein" wird.

Vor mir liegt eine Lutherbibel aus dem Jahr 1912, als Thron und Altar noch fest zusammenhielten. Interesse, die Herrschaft der allerhöchsten Herrschaften durch des Höchsten ewige Herrschaft abzustützen, gab es damals gewiß. Doch war man damals korrekt; das Gotteswort zu besudeln, so weit gingen sie nicht. Sondern wir lesen: "auf daß Gott sei alles in allen". - Vor mir liegt auch eine spanische Bibel aus ordentlichster Francozeit. Ihm und seinen Priestern war es vermutlich ebenfalls lieber, wenn die Unteren nicht allzu deutlich merkten, daß auch in ihnen Gott einmal alles sein würde, hätte derlei Mündigkeit doch die Aufmerksamkeit für die Weisungen von Sessel und Kanzel herab mindern können. Doch diese Übersetzer hatten gelernt, sich zu beugen, und haben sich auch vor dem Wort Gottes gebeugt. Sie schrieben es so hin, wie es dasteht, seit bald zweitausend Jahren. Unnötig zu erwähnen, daß auch die lateinische Vulgata, geistliche Nahrung so vieler Heiliger, den unverdorbenen Text bietet: "ut sit Deus omnia in omnibus".

Von solch selbstverständlicher Demut hat man sich heute emanzipiert. Nicht als Diener unserer Freude wissen jene Gremien sich, sondern als Herren unseres Glaubens spielen sie sich auf. Christlicher Pantheismus? Das wäre noch schöner. Auf was für Gedanken könnte das dumme Christenvolk kommen, ließe man ihm den Satz des Paulus so in die Ohren dringen, wie er ihn schrieb. (Und mein Protest wird ihnen der beste Beweis sein, wie recht sie taten!) Paulus, so sagen sie sich vermutlich, war damals allzusehr in Eile. Er hat nur schnell einen Entwurf hingehauen. Was er gemeint hat, kann ja nichts anderes sein, als was wir, neunzehn Jahrhunderte klüger und im fortschrittlichen Mitteleuropa sitzend, uns bei seinen Worten allein denken können. In sich gespannte Stereo-Botschaften taugen den schlichten Gemütern nicht; damit die nicht die andere Monotaste drücken, bedienen wir uns vorsorglich der einen.

Gott herrscht in Ewigkeit? Natürlich, das weiß jeder Christ. Also verdeutlichen wir - nur so wird jene Manipulation begreifbar - den gefährlichen kurzen Satz des Paulus nach dem Maße unseres Verständnisses. Schließlich darf ein älterer, gebildeterer Sohn nicht zulassen, daß jüngere Söhne sich den Vater falsch vorstellen, gar als Freiheitsquelle. Gott sieht's, Gott hört's, Gott straft's, so haben wir es von Kindesbeinen an gehört und so ist es, jetzt und in Ewigkeit. Wäre Gott alles in allen, dann wäre er ja nicht bloß in uns Professoren, sondern auch in unseren kritischen Studenten. Dann spräche er am Ende nicht bloß durch Oberkonsistorialräte, sondern auch aus solchen, die für den Apparat und für die viele Apparate Luft sind!

Sollte Gott wirklich am Ende alles in allen sein wollen, dann mag er so walten. Wir aber, die ihn jetzt verwalten, wollen diese schlimme (für unsere Arroganz vernichtende) Wahrheit lieber verdrängen und vor den Verwalteten schlau verstecken. In allen alles zu sein - das steht Gott nicht zu, sonst wäre er nicht mehr eindeutig genug der Garant unserer Macht. Also laßt uns, statt ehrlich zu übersetzen, lieber mit zähen Umschreibungen arbeiten, die den zutraulichen Leser - ähnlich wie im Schlachthof die Leitschranken den Ochsen - zu jener unserer Auffassung treiben, die Gottes Wort allein meinen darf. Darum schreiben wir, und zwar "im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz ...des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland ... für den Schulgebrauch zugelassen": "damit Gott herrscht über alles und in allem".

Statt: "auf daß Gott sei alles in allem." Wer eine solche Flegelei nicht glauben will, lese selber nach. "Häresie" heißt wörtlich Auswahl: man nimmt sich aus dem unendlich fein ausbalancierten göttlichen Wahrheitsmobile einen Faden heraus und bindet ihn fest. Das ist hier geschehen. Natürlich herrscht Gott ewig, der Satz als solcher ist nicht falsch. An dieser Stelle aber ist er eine Lüge, weil behauptet wird, Paulus habe ihn dort geschrieben. Das hat er nicht, hat vielmehr in prophetischer Kühnheit einen Gottesbegriff verkündet, gegen den auch der autoritätsverstörteste Anarchist nichts haben kann.

Eines jeden Sache ist es, wie er beide Wahrheitsdimensionen zusammenbringt: Gottes Herrschaft und die ewige Erlösung von jeglicher Herrschaft. Der Satz "dann herrscht die Liebe" weist, scheint mir, die Richtung. Nicht aber darf man das Problem dadurch lösen, daß man auf die eine Dimension ganz verzichtet, indem man sie auch dort aus der Bibel ausmerzt, wo deren Wortlaut sie offenläßt, ja andeutet.

Nicht um irgendeine Theologie geht es hier, sondern um die Ehrfurcht vor jenem Wort Gottes, welches uns allen voraus ist. Deshalb muß ich den für jene einengende Paraphrase Verantwortlichen einen Akt der Häresie vorwerfen, um so schlimmer, als er das richtende Bibelwort selbst verbiegt. Wo bleibt das Lehramt, wenn in seinem Namen gelogen wird? Nicht bloß leibliche Lebens mittel werden von der arroganten Apparate-Zivilisation vergiftet, auch die geistlichen muß sie uns verdrecken. Tatsächlich widert dieses "Bibelpapier" mich ähnlich an wie ein aufdringlich nach Konservierungsmitteln schmeckendes Stück Brot.

Schande, Trauer und Schande! Katholiken fälschen die Epistel des Christkönigsfestes, Lutheraner lassen das Wort nicht stehn. So sollen wir nicht ökumenisch sein. Die Wette, daß solches nicht vorkommen kann, die hätte ich verloren. Den Kampf um die Rücknahme dieser Lüge, wird in Deutschlands Kirchen den die Wahrheit auch verlieren?

Am 2. Nov. 1984 brachte Publik-Forum eine gekürzte Fassung dieses Protestes.

Vier Wochen darauf erwiderte Otto Knoch:

"Ihr seiht Mücken aus und verschluckt Kamele!"

Oder: Der Wunsch war Vater der Kritik

Jürgen Kuhlmann meint den Verantwortlichen der Einheitsübersetzung (EU) nichts weniger als "Verfälschung" des Wortes Gottes vorwerfen zu müssen. Denn im Urtext heißt es: "hina e ho theos (ta) panta en pasin" (1. Kor. 15,28) und das könne "nach einem halben Jahr Griechisch jeder Schüler übersetzen, der Wortlaut ist knapp und klar": es müsse nämlich heißen: "damit Gott sei alles in allen". Zur Unterbauung wird die Lutherübersetzung von 1912 und auch die Vulgata herangezogen, die "den unverdorbenen Text (bietet): ut sit Deus omnia in omnibus."

Weil aber die ökumenische Übersetzergruppe und die Germanisten der EU sich für die Fassung entschieden: "damit Gott herrscht über alles und in allem" wird der böse Verdacht ausgesprochen, hier hätten die Verantwortlichen unter der Hand ein neues Herrschaftsverhältnis verbal aufgerichtet. An Stelle der endgültigen Befreiung von Herrschaft durch die Liebe des Vaters werde hier wieder Herrschaft im Wort Gottes festgelegt. Dieses Vorgehen wird dann mit harten Worten gegeißelt: "Akt der Häresie", Verzicht auf die Demut des Übersetzens, Verfälschung der Epistel des Christkönigsfestes.

Als langjähriger Geschäftsführer der Einheitsübersetzung darf ich zunächst feststellen, daß die katholischen Bischöfe an dieser Stelle keineswegs in die Übersetzungsarbeit eingegriffen haben, sondern akzeptierten, was die ökumenische Übersetzergruppe gemeinsam als Textfassung verabschiedet hatte.

Die sprachliche Präzisierung von "damit Gott sei alles in allen" durch "damit Gott herrscht über alles und in allem" wurde auf Veranlassung der Fachgermanisten vorgenommen (übrigens keine Katholiken!) und von den Exegeten akzeptiert. Die Gründe dafür sind: die Wendung "alles in allen sein" ist im Deutschen mißverständlich. Ist damit gemeint: Gott sei in allen Geschöpfen (nach Kontext: nicht nur Menschen) anwesend und bestimme sie innerlich allein (unter Ausschaltung ihrer Freiheit)? Oder soll ausgedrückt werden: nur noch Gott (nichts Widergöttliches) ist mehr in den Geschöpfen wirksam? Oder soll gesagt werden: in allem (generell) ist nur noch Gott der Maßgebende? Ist in letzterer Hinsicht das "in allen" dann nicht adverbial zu verstehen? Diese Frage kann nicht nur vom griechischen Sprachgebrauch, sondern muß auch vom Zusammenhang her beantwortet werden.

Es geht nämlich um die Frage, wer nach der Wiederkunft Jesu Christi das Weltall und alle Geschöpfe darin beherrscht. Denn ab dem Weltende, das der auferstandene und in die Herrschaft Gottes eingesetzte Jesus Christus setzen wird, wird jede widergöttliche Macht ausgeschaltet werden. Dazu gehört auch der Tod Zu beachten ist in unserem Zusammenhang das Wort ,hypotassein' (unterordnen, unterwerfen). Vom Auferstandenen wird gesagt, daß Gott ihm "das All (ta panta) untergeordnet hat". Seine Aufgabe ist es nun, den Tod (und andere Feinde) zu vernichten. Nach der Beseitigung der widergöttlichen Geister-Mächte gilt es für Christus, ta panta, alle Schöpfungsbereiche sich "unter die Füße zu unterwerfen" (unterzuordnen). Wenn dies vollzogen ist, wird Jesus Christus die ihm unterworfene Schöpfung in ihrer Totalität Gott "unterordnen".

Vom Zusammenhang der Aussage her geht es um die Ausschaltung jeder gegengöttlichen Macht und die Aufrichtung der vollen Herrschaft Gottes über alle Bereiche der Schöpfung durch Jesus Christus. Wenn dies eingetreten ist (nach dem Endgericht) wird "Gott (allein) herrschen über die ganze Schöpfung und in allen Geschöpfen". Der Zusammenhang läßt nur diese Deutung zu. Es geht in dem Abschnitt I Kor. 15, 23-28 also eindeutig um eine Aussage über den Herrschaftswechsel, der durch die Auferstehung Christi eingeleitet wurde und bei der Wiederkunft Jesu vollendet werden wird. Das wird deutlich zum Ausdruck gebracht durch das Verb basileuein, als König herrschen und das Hauptwort basileia, Königsherrschaft, Herrschaft (15,24: "Dann kommt das Ende, wenn er (Christus) jede Macht, Gewalt und Kraft vernichtet hat und seine Herrschaft Gott. dem Vater, übergibt"), die an entscheidender Stelle im Text sich finden.

Insofern ist der Text der EU inhaltlich korrekt und sachgemäß und zugleich für den Normalleser verständlich, weil die Sinnaussage klar hervortritt. Angesichts des hier Dargelegten erhebt sich die Frage, wie jemand bei diesem Sachverhalt den Übersetzern und Herausgebern Häresie und Verfälschung vorwerfen kann? Ist hier der vorschnelle Kritiker nicht etwa aufgrund einer vorgefaßten Fixierung auf das Reizwort ,herrschen' seinem eigenen Wunschdenken verfallen? Die Frage nach der Weise der Herrschaft Gottes ist damit durchaus offen.

Mir fällt - in Anlehnung an die reißerische Überschrift der Kritik - zu einem solchen Vorgehen die Aussage Jesu nach Mt. 23,24 ein: "Ihr Pharisäer! ... Ihr seiht Mücken aus und verschluckt Kamele!"

Otto Knoch

*

Meine damalige Antwort wurde nicht mehr gedruckt:

Die reißerische Überschrift stammt von der Redaktion. Und meinen Vorwurf meine ich nicht so. als hätte jemand vollbewußt gelogen. Das Unheil sitzt tiefer: die Herren waren (und sind) ihrer Vollmacht über das Wort Gottes so sicher. daß sie überhaupt nicht merken, wie sie es schänden. Niemanden greife ich persönlich an, dafür habe ich zu oft in bester Absicht Worte gesagt, die sich dann als objektiv schlimm herausstellten. Jeder Erwachsene kennt diese Macht des Bösen. Gerade deshalb braucht es Kritik. "Habt Salz in euch!" Sonst verfault eine Gemeinschaft.

Die Antwort des Professors richtet sich selbst. Alles in allen sein, diese Wendung sei "im Deutschen mißverständlich". Recht hat er, noch viel mehr als er sagt, und darum unrecht. Auch auf Griechisch und Lateinisch ist der Satz vieldeutig. Vor dem Geheimnis versagt jegliche Sprache. Deswegen müssen die Ausleger um den rechten Sinn streiten.

Anders die Übersetzer. Sie müssen nur demütig den korrekten Wortlaut bieten. Die Sprache wandelt sich. Ob wir unser Licht nicht unter den Scheffel oder besser nicht unter den Eimer stellen sollen: bei solchen Fällen sprachlicher Unschärfe mag ein Germanist mitreden. Nicht aber, wo bei sprachlicher Eindeutigkeit die Sache selbst fraglich ist! Seit mindestens fünfhundert Jahren sind im Deutschen die Wörter "sei" und "alles" unverändert und jedem verständlich. Nicht als Germanisten mithin haben jene Texter gewirkt, sondern ihre private Theologie haben sie in den amtlichen Text eingeschmuggelt.

"Der Zusammenhang läßt nur diese Deutung zu", schreibt Prof. Knoch. Muß ich dem Exegeten erklären, daß bei einem Textproblem stets die "schwierigere Lesart" den Vorzug verdient, jene also, die weniger glatt zum Zusammenhang paßt? Weil man halt weiß. daß zerstreute Abschreiber und andere Textverschlimmbesserer sich zumeist auf eingängigen Denkbahnen bewegen.

Daß der Zusammenhang nur diese Deutung zulasse, die Meinung steht jedem frei. Ich halte sie für falsch. Ein Exeget braucht nicht die Feinheiten der kirchlichen Pantheismus-Debatte zu kennen, etwa zu wissen, daß beim ersten Vatikanischen Konzil die Bischöfe sorgsam vermieden haben, jene heiligen Kirchenlehrer zu verurteilen, die Gott "das Sein der Seienden" nannten (Näheres siehe im Anhang II meines Buches "Gott Du unser Ich"). Doch sagt auch schon die Heilige Schrift von Gott. daß "Er alles ist" (Sir 43.27).

Was Paulus gemeint habe, können wir ihn nicht mehr fragen. Ob er wirklich bloß unfähig war. seine Meinung präzise auszudrücken, oder ob er in prophetischem Aufschwung den von Herrschaft bestimmten Zusammenhang für einen Moment hinter sich ließ, weil das endgültige Reich der Liebe etwas mit Herrschaftslosigkeit zu tun hat - das darf jeder so sehen, wie der Geist es ihm eingibt.

Daß aber ein paar Germanisten und Exegeten ihr (dogmengeschichtlich betrachtet) laienhaftes Vorverständnis für so bedeutsam erachten, daß sie einen wasserklaren Text der Heiligen Schrift, statt ihn schlicht zu übersetzen, gewaltsam auf jenes Vorverständnis hin ummodeln, in der Meinung, erst so werde er dem "Normalleser" verständlich: das ist ein Skandal. Und am Christkönigsfest richtet diese Mißgestalt sich nicht an einen Normalleser, sondern an das gläubig auf Gottes Wort hörende Volk Gottes. Das darf nicht so bleiben.

Eine Kommission kann ihren Fehler nicht einsehen. Jeder einzelne duckt sich weg und der Leiter deckt seine Leute, das ist überall so. Aufgabe unserer Bischöfe aber ist es, den amtlichen Text zu reinigen.

*

Am 21. Dezember 1984 erschien dazu noch ein Leserbrief:

Jürgen Kuhlmann ist entsetzt über die Verfälschung des Gotteswortes, die er in der "Einheitsübersetzung" (EÜ) bei 1 Kor. 15,28 feststellt. Er möge sich "trösten". Denn dieses Beispiel der Mißhandlung des Bibeltextes durch die EÜ ist leider nur eines unter Dutzenden. Aber daran wird sich nichts ändern lassen, solange jene, die diese Übersetzung geschaffen haben, mächtig sind. Prof Dr. Herbert Haag. Luzern

*

Schreiben wir also "Einheizübersetzung".

Inzwischen hat die Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz sich mit der Frage befaßt. In einem Brief des Liturgischen Institutes (ausgerechnet vom 31. Oktober 1985) lese ich: "Die Kommission kam nach längerer Beratung zu dem Ergebnis, daß sie sich Ihrer Interpretation von 1 Kor 15,28 und Ihrem Übersetzungsvorschlag nicht anschließen kann; sie hat jedoch gewünscht, daß Ihre Einwände auf jeden Fall für eine allfällige spätere Überarbeitung der Einheitsübersetzung aufbewahrt und dann nochmals geprüft werden sollen."

Christ, erkenne deine Würde! "Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes," erkannte das letzte Konzil an (Dei Verbum, Art. 10). Jeder Lektor kann am Christkönigsfest mitlügen oder aber den wahren Text vorlesen: "damit Gott sei alles in allen".

Dazu schrieb mir im Mai 2005 Thomas Primas (primas@bluewin.ch) eine tiefsinnige Rettung des offiziellen Wortlauts. So verstanden, ist er freilich heilsam wahr. Urteilen Sie selbst:

... Zu 1. Kor 15.28 kam mir deshalb in den Sinn, dass die Juden dort, wo in der Schrift das Tetragramm steht, nicht dieses, sondern adonai, der Herr, sprechen. Das mit der (mystisch-poetischen) Begründung, dass das Sein (howe, Hebräisch für "das Sein") nicht ausgesprochen werden kann, da sein Geheimnis die sprechbare Sprache umgreife, umfange, umfasse (und nicht umgekehrt). Anstelle des Tetragramms sprechen sie "adonai", was mit "der Herr" übersetzt wird, aber eigentlich ein weibliches Wort ist. Der Herr eine Dame? Doch vielmehr eine Mutter. Und wie herrscht eine Mutter? Nicht, dass es hier immer so wäre, aber unser poetischer Instinkt weiss es: Sie umgreift, umfängt, umfasst.

Was ist der Unterschied? Nicht, dass ich es wüsste, aber mein Herz könnte dichten: So wie das Geheimnis des Seins die sprechbare Sprache umfängt und umfasst, umfängt und umfasst Gott alles in allem. So herrscht Gott. Als "Sein" ist er alles in allem - als Herr, als barmherzige Mutter also, umfasst und umfängt sie alles in allem. Sie schenkt Raum, Freiraum, Beziehungsraum, Eigenraum sozusagen, der dann wieder zurückgeschenkt werden könnte. Sie ist darin wirklich eine "barmherzige" Mutter, denn Barmherzigkeit hat im Hebräischen, wie Friedrich Weinreb betont, eine Verwandtschaft mit Gebärmutter. Der Herr als Mutter umfängt uns, schwanger mit Liebe. Sie geht nicht nur schwanger mit Liebe zu uns, sondern trägt in sich auch die Liebe, die wir für sie, für ihn, na für Gott halt, schenken. Das ist doch dieser Freiraum der Beziehung, wo Gott in uns nicht einfachhin nur alles ist, sondern herrscht, indem er als Mutter Liebesraum schenkt. Von dieser poetischen Wahrheit spricht schon die jüdische Mystik, die davon erzählt, dass das Wort für "Herr" und das Wort für "Liebe, Gnade, Güte" (chessed) denselben Zahlenwert 72 haben, also nahe verwandt sind.

Wenn der Herr herrscht, dann umfängt er uns also mütterlich, Leben und Liebe schenkend, uns in ihr selbst Raum schenkend zu unserem eigenen Wachstum zu ganzem Leben und ganzer Liebe hin. "Gott ist alles in allem" ist das Fundament des Seins, auf dem der Frieden steht. Aber "Gott herrscht über alles und in allem" ist das Geschenk des freien Beziehungsraumes, auf dem die Liebe steht (oder fliesst, müsste man fast sagen).

Nicht, dass von alledem die Germanisten etwas ahnten, noch die Exegeten, und so ist Ihr Zorn über die Veränderung des Wortes berechtigt. Aber wenn man den ganzen Abschnitt läse mit dem Herrn als barmherzige Mutter und der Herrschaft als Geschenk des Beziehungsraumes im Hinterkopf, dann würde nicht erst bei 15.28 die falsche Herrschaft enden, sondern schon weit davor.


Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/kamel.htm

Zurück zur Leitseite von Jürgen Kuhlmann

Siehe auch des Verfassers alten und neuen Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

Schriftenverzeichnis

Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann