Jürgen Kuhlmann

Von der Freiheit eines Katholiken

Vortrag am 21. Februar 1971
in der Nürnberger Lorenzkirche

Wieder einmal, wie schon vor hundert Jahren, ist die sog. Unfehlbarkeit der Kirche ein heißes Eisen im katholischen Raum:

Vor kurzem hieß es in der Zeitung: Die katholischen deutschen Bischöfe haben eine scharfe Attacke gegen den Tübinger Theologen Professor Dr. Hans Küng geritten.

In einer öffentlichen Erklärung, die vom Vorsitzenden der Konferenz, Julius Kardinal Döpfner, unterzeichnet ist, wird betont, man habe gegen die Meinung Küngs, der sich in einem Buch kritisch zur Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes geäußert hatte, erhebliche Bedenken. Diese Vorbehalte seien auch nicht in einem Gespräch beseitigt worden. Professor Küng sieht in der Bischofserklärung die Möglichkeit zu verschiedenen Interpretationen und damit zu weitgehenden Diskussionen. Er hält es für bezeichnend, dass das Wort "unfehlbar" in der Erklärung überhaupt nicht vorkommt.

Bitte erlauben Sie mir, dass ich nicht gleich unmittelbar auf dieses Thema eingehe. Es wäre für Sie von eher akademischem Interesse. Zuerst soll überhaupt von der Freiheit eines Katholiken die Rede sein.

Als ich einem meiner Bekannten, einem Priester, erzählte, dass ich heute von der Freiheit eines Katholiken sprechen soll, da meinte er bitter,. das sei doch ganz leicht. Ich bräuchte nur zu sagen: die gibt es nicht. Amen.

Wie steht es, mit der Freiheit des Katholiken? Dem Anschein nach sehr schlecht. In alles redet ihm die Kirche hinein, in das, was er tut, mit ihren Geboten bis hin in sein Bett. In das, was er denkt, mit ihren Dogmen bis zur Himmelfahrt Mariens. Und wehe, wenn er sich im Denken und Tun nicht an ihre Weisung hält: dann droht in jeder Ecke eine Todsünde und wer auch nur mit einer einzigen unbereuten Todsünde auf dem Gewissen stirbt, kommt auf ewig in die Hölle. So erscheint der Katholik vielen anderen und allzu oft sich selbst als unfreier, von einem totalitären Apparat tief innerlich versklavter Mensch.

Diese traurigen Tatsachen sind mir wohlbekannt. Trotzdem bin ich katholisch und fühle mich frei. Warum? Zehn Minuten; sind keine Zeit für ein solches Thema. Sollte die Antwort Sie schockieren, dann schreiben Sie es bitte der unvermeidlichen Kürze zu.

  1. Ich hoffe, dass die Hölle leer ist. "Gott hat alle im Ungehorsam beschlossen um sich aller zu erbarmen," lesen wir im Römerbrief. Es ist kein katholisches Dogma, dass auch nur ein Mensch verdammt sei. Stattdessen ist es die ernste Hoffnung vieler Christen, dass kein Mensch total böse ist. Die Angst vor der Hölle ist die Quelle der allerschlimmsten Unfreiheit: wie soll ein Mensch sich frei fühlen, wenn er sich ständig belauert weiß vom Blick eines allmächtigen Jemand, der. ihm äußerlich, ein anderer ist und dennoch der Herr über sein Innerstes sein will? Die Konfession spielt hier keine Rolle: ob der Katholik eine Vorschrift der Kirche verletzt oder der Protestant aus anderen, ebenso äußerlichen Anzeichen schließt, dass er vielleicht gar nicht wirklich glaubt und deshalb dem Gericht verfallen ist, die Unfreiheit ist dieselbe. Aufgehoben wird sie allein durch einen bedingungslosen Sprung des Herzens mitten in Gottes unfassbare Liebe hinein: diese Liebe ist so groß, dass sie die völlige Einheit bewirkt. Gott ist eben kein Fremder über mir, sondern ist mir innerlicher als ich selbst. Nicht wie die Mutter den Knödel macht Gott mich, sondern eher wie die kleine Martina im Fasching eine Indianerin macht. Wo meine Freiheit sich echt und bewusst vollzieht, da ist sie nichts anderes als Gottes schöpferische Freiheit in mir.
  2. Jedes katholische Kind lernt von jeher, dass es seinem Gewissen folgen muss. Ich bin überzeugt, das Gewissen ist mehr als ein eindressiertes Über-Ich, wodurch die Normen der Gesellschaft verinnerlicht werden. Vielmehr ist das Gewissen der Ort, wo der frei handelnde Gott der Heilsgeschichte in das wirkliche Leben eingreift. Ohne diese Überzeugung gibt es keinen christlichen Glauben, höchstens eine jesuanische Weltanschauung. Das Gewissen des einzelnen hat zwar nach den kirchlichen Weisungen zu fragen, das unterscheidet den Katholiken vom Protestanten. Die Antwort aber gibt nicht die Weisung, sondern das Gewissen. Und wenn die Entscheidung gegen das Gesetz fällt, dann verpflichtet das Gewissen mehr als das Kirchengesetz. Das ist unbestrittene katholische Lehre - freilich ist sie in den Büchern klarer enthalten als in vielen Köpfen. Ist das aber nur bei Katholiken so? Gibt es nicht doch auch in manchen evangelischen Gemeinden einen Meinungsdruck, was man als Christ denken und tun darf und was nicht? Herrscht dort nur die Freiheit des Evangeliums?
  3. Gerade weil ich als Katholik von der Wahrheit der Dogmen überzeugt bin, kann ich nicht dogmatisch sein und bin freier als andere. Das ist ebenso wahr wie es paradox klingt.

Sehen wir uns einmal zwei Karikaturen an. Das eine ist der protestantische Spießer, der über alles seine fertige Meinung hat. Er kennt sich aus, da kann kommen, wer mag: Landesbischof, Papst oder Frau Sölle. Seine Wahrheitswelt gleicht einer Fläche mit einem Punkt in der Mitte, sich selbst, seinem Standpunkt. Vielleicht hat er tatsächlich einen Horizont mit dem Radius Null und nennt den seinen Standpunkt. Oder aber sein Horizont ist weit und differenziert. Entscheidend ist: Er selbst, in der Mitte seiner Wahrheitswelt, ist das einzige, worauf es ankommt. Nichts aus sich selbst Verbindliches steht ihm gegenüber, alles untersteht seiner Kritik.

Das entgegengesetzte Zerrbild ist der katholische Spießer. Auch seine Wahrheitsfläche wird nur von einem Punkt beherrscht, nämlich eben dem Standpunkt der kirchlichen Ideologie. Die freie Person mit ihrem Urteil ist von der sogenannten objektiven, ihr gegenüberstehenden Wahrheit aufgesogen, wie verschluckt. Die Kirche, die Kirche hat immer recht. Woanders ist es die Partei.

Beide Typen halten sich für frei und vernünftig. der eine, weil er außer sich keinen Maßstab anerkennt, der andere, weil - für ihn - sein Wissen mit der absoluten Wahrheit zusammenfällt.

Der glaubende evangelische Christ wie der reife Katholik hingegen leben nicht in einem geschlossenen Kreis, sondern in einer gewaltig offenen Ellipse mit zwei aufeinander unrückführbaren Brennpunkten: das bin einmal ich selbst mit meinen Erfahrungen und Einsichten, zum andern mir objektiv gegenüber die Wahrheit: beim Evangelischen das Wort Gottes. beim Katholiken dasselbe Wort Gottes und das Dogma der Kirche. Ein solcher Mensch ist freier als die beiden anderen, denn er ist weder hilflos der Enge seiner eigenen zufälligen Teileinsichten ausgeliefert noch der erdrückenden Übermacht einer Ideologie. Er ist, wenn alles richtig läuft, buchstäblich selber ein Dauergespräch zwischen Einsicht und Geglaubtem.

Muss der Katholik zum Beispiel glauben, dass Maria in den Himmel aufgenommen worden ist? Solange er das damit Gemeinte nicht in sein Weltbild einbauen kann, muss er diesen Satz, wie er ihn versteht, nicht für wahr halten. Wenn er es aus vertretbaren Gründen vorzieht, braucht er sich um diesen Satz gar nicht weiter zu kümmern. Nur das eine darf er nicht behaupten: dieser Satz, so wie ihn die Kirche versteht, ist falsch. Das dürfte aber, streng genommen, auch der Protestant nicht sagen, da er es nicht beweisen kann. Als einziger Unterschied zwischen beiden bleibt also übrig: während der Protestant vermuten kann, die Dogmen, so wie sie die Kirche versteht, seien in sich selbst falsch, lässt das Selbstverständnis des Katholiken diese Vermutung nicht zu und ihn deshalb, solange er keinen ihm annehmbaren Sinn des Dogmas findet, in einer unbefriedigenden Spannung. Darin liegt aber weder ein entwürdigender Zwang noch ein besessener Reichtum, vielmehr ein Angebot und Auftrag Gottes an mich für uns beide.

Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Dogmen garantiert stimmen. Das ist aber eben das Besondere des katholischen Glaubens. Vielleicht kennen manche von Ihnen des Buch "Das Kreuz und die Messerhelden". Darin berichtet ein junger Pfarrer der Pfingstbewegung, was er alles mit dem Heiligen Geist erlebt hat, und zwar inmitten von Mord und Rauschgift bei den jugendlichen Banden von New York. Dabei geschieht alle drei Sekunden ein Wunder. Man ist zum Zweifel versucht, aber der Stil des Verfassers ist so, dass ich ihm einfach glauben muss. Der heilige Geist tut Wunder. Nicht gegen die Naturgesetze, sondern eben durch ihre geschickte Anwendung in seinem Sinn.

Nun gut, die Unfehlbarkeit der katholischen Dogmen gehört für mich in dieselbe Kategorie. Auch sie ist eine Art Wunder. Wie es die Aufgabe solcher Freikirchen ist, Gottes Geist als Leben und Heil zu zeigen, so ist es die Aufgabe der großen katholischen Kirche, Gottes Geist als Wahrheit durch die Jahrhunderte zu tragen. Freilich gilt diese wunderbare Garantie nur für wirkliche Dogmen. Solche sind gar nicht so häufig. Die berüchtigte Pillen-Enzyklika. zum Beispiel ist nicht unfehlbar und auch als Katholik habe ich das Recht, sie für falsch zu halten. Irre ich mich in der Annahme, dass auch evangelische Christen zuweilen unter fehlbaren Ansichten ihrer kirchlichen Vorgesetzten stöhnen?

Zum Schluss noch ein persönliches Wort zu unserem aktuellen Anlass. Ich meine, Hans Küng hat recht, wenn er vorschlägt, man solle im Deutschen den hässlichen Begriff Unfehlbarkeit durch den Ausdruck Untrüglichkeit ersetzen. Die Kirche ist nicht unfehlbar. Sie hat grässliche, blut- und tränentriefende Fehler gemacht und fehlt oft, wo die Menschen sie bräuchten - auch heute und in Nürnberg!

Aber sie ist nach katholischem Glauben untrüglich, wenn sie auf feierliche Weise, unter ausdrücklichem Hinweis auf diese Untrüglichkeit, eine Frage des Glaubens entscheidet. Das ist das letzte Mal 1950 geschehen; und von dieser Definition der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel hat C.G. Jung, der große Tiefenpsychologe, gesagt, es sei wohl das bedeutendste religiöse Ereignis dieses Jahrhunderts. Andere denken anders; doch die Zukunft dürfte ihm recht geben, vermute ich.

Natürlich habe ich Ihnen hier ein Idealbild gezeichnet. Ich weiß, dass es bei uns unzählige seelisch Verkrüppelte gibt durch die Schuld der Kirche. Wir alle haben im Sinn Jesu gegen Zwang und Unterdrückung zu kämpfen, und zwar, wie er, durchaus auch gegen den Missbrauch religiöser Autorität. Die Freiheit des Katholiken ist in dieser Welt nicht weniger bedroht als jede andere. Mehr aber auch nicht. Ich danke Ihnen.


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