Jürgen Kuhlmann

UM EIN NEUES MODELL
DER EINEN KIRCHE

Entwurf von 1968


A

Die Spaltung der Christenheit ist ein Skandal. Alle Beteuerungen, daß Gott allein die Einheit wirken könne, sind natürlich wahr - aber wie anders als an und durch uns wird er sie wirken?

Wann sind die Kirchen sichtbar eins? Nicht wenn alle dasselbe denken und tun: das haben sie nie getan und werden es nie tun. Auch nicht, wenn alle einander "in einem gewissen Sinne" als Kirchen achten: das tun sie bereits und sind doch nicht eins. Vielmehr sind die Kirchen dann eins, wenn Mischehe, gemeinsamer Gottesdienst und Bekenntniswechsel ohne Diskriminierung allseits anerkannt sind, wenn der "Erfolg" einer Denomination jeder anderen ebenfalls als Gewinn gilt. An sich wäre solche geistliche Einheit der Jünger des Auferstandenen, als gelebte Präzisierung des obigen "gewissen Sinnes", auch ohne theologische Übereinkunft in den und jenen Fragen, schon heute Möglichkeit und Forderung der christlichen Liebe; tatsächlich gehört aber das Sichtbare der Kirche auch dieser Welt an, wo eben nicht geglaubt und gehofft, sondern gesehen und verstanden wird. Unser Ziel ist darum nicht die Einheit glaubensmutiger Elitegruppen (welche bei ihrem ökumenischen Vorprellen leicht zu neuen Sekten werden , sondern die Einheit der großen Kirchen: die aber haben allesamt zu verstehen gegeben, daß sie nicht in blindem Glauben, sondern nur nach Klärung der trennenden Probleme miteinander eins werden können: die Liebe, sagt man, darf nicht so weit gehen, daß die Wahrheit zu kurz kommt.

Wenn mithin die so bitter erforderliche Kircheneinheit eine Einheit auch in der Lehre sein muß; wenn zum anderen in unserer zerberstenden Welt mit einer Verminderung des Pluralismus nicht zu rechnen ist, dann scheint dem hoffenden Bemühen der Christen eine einzige Richtung offen zu bleiben: wir müssen wenigstens in einem Punkt eine auch theologische Übereinstimmung erreichen, nämlich miteinander zu einem allgemein annehmbaren formalen Modell der kirchlichen Einheit kommen, welches einerseits von jeder Kirche in ihr eigenes Selbstverständnis integriert werden kann und so den Anspruch der Wahrheit erfüllt; andererseits muß es aber von den kontroversen Inhalten so sehr abstrahieren, daß die Liebe dem jeweils anderen nicht zu viel zumutet.

Mancher mag fürchten, eine solche Abstraktion ergebe eine unmenschliche und nutzlose, völlig leere Schein-Einheit. Das muß aber nicht so sein. Vielmehr steht erstens empirisch fest, daß Christen sehr verschiedener theologischer Ansichten und Gebräuche in einer Kirche zusammenleben konnten und können, wollten und wollen. Daß die Lehrunterschiede zwischen den Konfessionen wesenhaft einschneidender seien als die derzeit innerhalb einer Konfession auszuhaltenden: diese Ansicht ist sicher unbeweisbar, wahrscheinlich falsch. Zum anderen kann eine bewußt vollzogene Einheit in der Herzmitte des christlichen Glaubens wohl nur dem leer scheinen, der eigentlich Ideologe (zufällig dieser christlichen Konfession) ist. Wer wirklich an Christus glaubt, d.h. wessen eigentliches Leben als gegenwärtige Beziehung zum gegenwärtigen Menschen Jesus geschieht, der wird seine Einheit mit jedem anderen, der dasselbe tut, keinesfalls als leer und formal empfinden. Weil aber, wie gesagt, die Kirche auch sichtbar ist, deshalb ist für die kirchliche Einheit (sofern sie über die existentielle hinaus diese auch äußerlich ausdrückt, der Welt zum Zeugnis) eine allseits annehmbare Theorie dieser Einheit unentbehrlich.

B

I. Unzureichende Modelle

In ein neues Modell müssen die tauglichen Elemente aller früheren eingehen. Sehen wir uns deshalb die wichtigsten derzeit existierenden Modelle der kirchlichen Einheit einmal an.

1) Eine wahre Kirche, viele falschen Kirchen

Dieses Modell ist das einfachste. Es hat viele Anhänger in allen Konfessionen. Den Katholiken bietet der Catechismus Romanus eine "ganz sichere Regel, die wahre Kirche von einer falschen zu unterscheiden", und im neuen bayerischen Berufsschulreligionsbuch heißt es (II, 104): "Von der einen Kirche Christi haben sich große christliche Gemeinschaften getrennt, nicht ohne Schuld auf beiden Seiten."

Es gibt dieses Modell aber auch mit griechisch-orthodoxem Gehalt; Kriterium ist hier nicht die Verbundenheit mit dem Papst, sondern mit der orthodoxen Bischofsgemeinschaft: "Die Bischöfe müssen den Ersten unter ihnen anerkennen und ohne ihn nichts tun; der Erste kann ebenso nichts ohne die anderen tun ... Rom hat tausend Jahre lang die Rolle des Ersten unter Gleichen gespielt; nach seiner Lostrennung von der orthodoxen Gemeinschaft hat Konstantinopel diese Ehre geerbt. [(1) P. EVDOKIMOV, L'orthodoxie, Neuchâtel 1959, 131 f]

Auch den Protestanten ist diese Denkweise vertraut: "Wahre Kirche ist da, wo durch das legitime Ministerium der Pfarrer Gottes Wort rein gepredigt und die Sakramente recht verwaltet werden. Gottes Wort, in der heiligen Schrift enthalten, ist das Kriterium dieser Zeichen." [(2) K. E. SKYDSGAARD, LThK VI, 185]

Trotz solcher interkonfessionellen Verbreitetheit muß dieses Modell einem feineren weichen. Denn solange nach Meinung der einen Kirche die andere falsch und von der wahren Kirche getrennt ist, so lange währt die Spaltung.

2) Viele Zweige der einen wahren Kirche

Nach seinem anglikanischen Ursprung branch theory genannt, ist dieses Modell bei den antikonfessionalistischen Christen sehr beliebt. Drei große Zweige bilden den Baum der Kirche Christi. Amtlicherseits wird diese Theorie von den großen Kirchen abgelehnt: "Sie hat ihren Ursprung nicht in der Bibel, sondern bei modernen humanitären Ideen. " [(3) VISSER'T HOOFT: s. LThK 11, 644] Weil das Modell somit dem Selbstverständnis jeder einzelnen Kirche widerspricht, kann es für sich allein auch zu ihrer Versöhnung nichts beitragen.

3) Unsichtbare und sichtbare Kirche

Die beiden bisherigen Modelle sind einschichtig, die verschiedenen Kirchen befinden sich entweder gegeneinander oder miteinander, jedenfalls alle auf einer Ebene. Brauchbarer als derlei eindimensionale Vorstellungen ist ein drittes Hauptmodell. In einer imponierenden Begriffsliste heißt es von der neueren katholischen Ekklesiologie:

"Man erkannte auch wieder, daß die irdische Kirche selbst nicht nur ein "äußeres", sondern auch ein "inneres Sein", nicht nur eine „sichtbare“, sondern auch eine "unsichtbare", nicht nur eine „hierarchische“, sondern auch eine „mystische“ Seite, nicht nur einen "Leib", sondern auch eine "Seele" besitzt. So kann uns die Feststellung, daß die einzelnen Autoren sich einer sehr unterschiedlichen, sei es theologisch, philosophisch, soziologisch, juristisch, biologisch oder sonstwie geprägten Terminologie bedienen, nicht in der Erkenntnis wankend machen, daß sie im Grunde das Gleiche meinen, wenn sie unterscheiden zwischen "Erscheinung“ und "Wesen", "Wirklichkeit" und "Ideal", "Rechtskirche“ und "Liebeskirche“., "Organisation" und "Organismus", zwischen "Gesellschaft" und "Gemeinschaft", sichtbarer „Sakramentskirche“ und unsichtbarer "Gnadenkirche", hierarchischer "Kirche" und mystischem "Leib Christi", "Heilsanstalt" und "Heilsgerneinde" - wozu man als evangelische Parallelen ergänzend noch die Unterscheidungen zwischen "Institution" und "Ereignis" und zwischen "Kirchentum" und "Kirche" hinzufügen kann. [(4) Ulrich VALESKE, Votum Ecclesiae, München 1962, 30 f.]

Zweischichtig ist dieses Modell darum, weil hier nicht verschiedene Kirchen nebeneinander geordnet sind, sondern in jeder Kirche ein inneres von einem äußeren Moment abgehoben wird. Der ökumenische Wert dieses Denkmusters liegt darin, daß hier ohne weiteres einem und demselben inneren Moment (dem jeweils zweiten Glied obiger Liste, nämlich der eigentlichen Kirche) mehrere äußere Gestalten zugeordnet werden können. Die Kirche ist und geschieht in der katholischen, in der evangelischen, in der orthodoxen Kirche.

Auf diese These hin dürfen wir eine der Kernaussagen des letzten Konzils ausdeuten. Auf ihren wesentlichen Inhalt verkürzt, besagt sie [(5) Kirchenkonstitution Nr. 8]: Die Kirche Christi subsistiert in der römisch-katholischen Kirche. Die bemerkenswerte Formel ist, soviel steht fest, aus ökumenischen Gründen nach vieler Mühe von der Kommission gewählt worden. Was unterscheidet diesen umgestellten Satz von der gewohnten Form: Die römische Kirche ist die Kirche Christi? Eben der Hinweis auf das zweischichtige Kirchenmodell. Wäre "Kirche Christi" bloß eine Eigenschaft der sichtbaren römischen Kirche, dann verbliebe man in einer Dimension: jedes Ding hat schließlich viele Eigenschaften. Ganz anders, wenn umgekehrt die katholische Kirche als Seinsweise der Kirche Christi bestimmt wird. Das heißt entfaltet: die eigentliche Wirklichkeit ist die Kirche Christi. Sie ist. Und zwar ist sie in der römischen Kirche. Die römische Kirche als greifbar verfaßte ist nicht eigentlich, sondern in ihr, als sie, ist die Kirche Christi. Nicht die Papstkirche, sondern das Glaubensgeheimnis "Kirche selbst" ist einziges Subjekt. Sie west an in der römischen Kirche. Damit ist aber nun eben nicht unvereinbar, daß sie auch in anderen Kirchen wirklich da ist

Gegen einen naheliegenden Vorwurf möchte ich mich mit Hilfe einer dogmengeschichtlichen Parallele absichern. Tatsächlich ist es dieselbe Dialektik zwischen Glaubensgeheimnis und betastbarer Konkretheit, welche zum Dogma von Chalkedon wie zum zweischichtigen Kirchenmodell führt. Im Jahre 1177 nun glaubte Papst Alexander III. gegen solche einschreiten zu sollen, welche behaupteten, daß "Christus, insofern Mensch, nicht Etwas sei“. Ich behaupte also ausdrücklich nicht, daß die feststellbare Kirche nicht Etwas sei, sondern lediglich, daß sie als Feststellbare kein Subjekt ist, vielmehr eine wesentliche Eigenschaft der Glaubenswirklichkeit "Kirche Christi", die im eigentlichen Sinne ist.

So sehr dieses Modell gegenüber den anderen beiden ein Fortschritt ist, so bringt es doch eine schwere Gefahr mit sich: sobald ich glaubend weiß, daß in jeder christlichen Gemeinschaft die eine und selbe Kirche Christi am Wirken ist, im selben Moment beginnt, wie mein Eifer für das eigene Kirchentum als dieses, so auch mein ökumenischer Schwung nachzulassen. Denn was liegt an der sichtbaren Einheit, wenn auch ohne sie die Kirche Christi überall da ist, wo zwei oder drei in seinem Namen beisammen sind? Man entdeckt auf einmal, wie man mehr und mehr nicht nur die Unterschiede, sondern sogar den Skandal der Trennung bagatellisiert. Hier steckt das Übel des "ökumenischen Indifferentismus“. Das zweischichtige Kirchenmodell versucht dazu, Jesu letztes Gebet nicht mehr ganz ernst zu nehmen.

II. Das umfassende Modell

1) Die Zeit als dritte Dimension

„Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es noch nicht tragen. Wenn aber Jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit einführen“ (Joh 16,12 f). Daß "die Lehre der Kirche" sich entwickelte, ist heute eine Selbstverständlichkeit. Daß de facto die Lehren der Kirchen sich sehr verschieden "entwickeln", von verschiedenen Ausgangslagen aus, entlang verschiedener Linien und Fehllinien, über verschiedene Zwischenstufen und leider auch Mißbildungen bis hin zur stets utopischen ganzen Wahrheit, zur eschatologischen Einheit des Verschiedenen: in dieser nicht länger zu verheimlichenden Tatsache steckt kräftigster ökumenischer Sauerteig.

2) Bereits erprobte Weisen dieses Modells

Statt die gesuchte Formel abstrakt zu entwickeln, sei an zwei Beispielen gezeigt, daß sie sich in anderen Zusammenhängen schon bewährt hat.

a) Jahrhunderte lang war die Christenheit überzeugt, das Evangelium sei im wesentlichen auf der ganzen Welt verkündet. Als dann zu Beginn der Neuzeit aus fernen Meeren ganze Welten stiegen, mit Millionen Menschen, die von Christus nichts wußten, da war das für die Christen ein schwerer Schock, der sich bis in unsere Tage hinein ausgewirkt hat. Heute ist uns klar, daß die Indios des Kolumbus und die Japaner des Franz Xaver in einem gewissen Sinn eben noch vor Christi Geburt standen. Physisch Zeitgenossen von Luther und Ignatius, sind sie in anderer Hinsicht gleichzeitig mit den Areopagiten des Paulus und den Friesen des Bonifatius. Die Katastrophe des Ritenstreites erklärt sich zum Teil aus Roms Unfähigkeit, diesen Abstand der Epochen zwischen Zentrum und Peripherie recht zu würdigen.

b) Das zweite Beispiel stammt aus der innerkatholischen Entwicklung. Da sich ähnliches auch in anderen Konfessionen fände, bitte ich sehr, im folgenden nur auf die formale Struktur zu achten. Daß die Theologiegeschichte für diejenigen, denen schon die jeweilige Frage unsinnig scheint, weithin einem gigantischen Lobby-Gezänk ähnelt, sollte uns eher zur Demut als zur Schadenfreude dienen. Hat also im 13. Jahrhundert Duns Scotus die unbefleckte Empfängnis nur gemeint oder echt geglaubt? Mir scheint, er habe sie geglaubt und hätte, sie leugnend, vor dem eigenen Gewissen nicht bestanden. Sein Gewissen war aber dabei noch nicht gemeinschaftlich getragen. Gehen wir einen Schritt weiter: Im 17. Jahrhundert gehörte in vielen marianischen Kongregationen zu den Aufnahrnebedingungen der Eid auf die Immaculata. Die Dominikaner waren gegen diese Lehre. In solcher Lage hat das kirchliche Amt immer wieder seine Einheitsfunktion ausgeübt, indem es beiden einander entsetzlich befehdenden Parteien verbot, sich gegenseitig zu verketzern. So sehr die einen, innerlich und als Gemeinschaft, ihres Glaubens sicher waren, so empört die anderen protestierten - sie mußten, so befahl der Papst, in Eintracht leben. Wenn eine MC-Gruppe etwa einen Predigermönch einlud, um von ihm die Argumente des hl. Thomas zu hören, so gab sie nicht ihren Glauben auf, daß der Heilige in diesem Punkt eine materiale Häresie lehre: dennoch wußten sich die Sodalen ihrem Gast in der einen Kirche verbunden. Seit 1854 glauben auch die Dominikaner die unbefleckte Empfängnis.

Stellen wir jetzt ein extremes Gedankenexperiment an, das aber grundsätzlich möglich ist. Es erhebe sich in der katholischen Kirche eine heftige Kontroverse in einer Glaubensfrage. Gegeneinander werden zwei Orden gegründet, und ihre Oberen zu Bischöfen mit persönlicher Jurisdiktion geweiht. Dann sind zwei katholische Partikularkirchen in gewisser Weise im Glauben getrennt, und es mag Jahrhunderte dauern, bis sich die Streitfrage so weit geklärt hat, daß die späten Nachfahren der Gründer miteinander ins reine kommen, welche Seite inwiefern recht gehabt habe. Die ganze Zeit über gilt jedoch von beiden Gemeinschaften, was das Konzil sagt: "In ihnen und aus ihnen existiert die eine und einzige katholische Kirche" [(6) Kirchenkonstitution, Nr. 23].

3) Die formale Struktur des Modells

In einem Satz läßt sich das dreidimensionale Modell demnach so beschreiben: Die eine, heilige, eigentliche Kirche ist die von Christus gestiftete Gemeinschaft der Erlösten, welche anwest und wirkt in jener äußerlich feststellbaren Kirche (und zwar in der ganzen sowohl als im kleinsten ihrer Teile), die ein Gesamtmuster aus vielen Strängen ist, welche nebeneinander durch die Zeiten hin laufen, sich hier teilen, dort vereinen, sich unabhängig voneinander in Bezug auf verschiedene Aspekte verschieden entwickeln, bis hin zu schweren Irrungen und Gegensätzen, trotzdem aber im Entscheidenden mit sich und einander identisch bleiben. In diesem Modell bedeutet der Anschaulichkeit halber die Höhe die Unterscheidung zwischen dem Eigentlichen der Kirche (oben) und ihrem Feststellbaren (Fläche unten): die Breite unten enthält nebeneinander die Stränge der jeweiligen Ortskirchen und Denominationen, die Länge ist die Zeitstrecke seit Gründung der Kirche. Zu den drei Dimensionen hinzu kommen unzählige Farben und Farbtöne in den Strängen: Sie bedeuten die verschiedenen Aspekte unseres Heiles sowie deren Betontheit in den verschiedenen Teilen der Kirche. Jeder Strang ist also aus vielen farbigen Fäden zusammengezwirnt zu denken. Stellen wir uns die "Seele" der Kirche, das Eigentliche an ihr, vielleicht als weiße Lichtfläche vor, welche die gesamte Vielfalt von oben bescheint und zu leuchtender Buntheit bringt; dann haben wir, so scheint mir, in diesem Ineinander von Einheit (oben), Nebeneinander und Nacheinander das gesuchte umfassende Modell der Kirche.

4) Die alten Modelle im neuen

a) Die branch theory ist in unserem Vorschlag unmittelbar sichtbar enthalten: aus den Zweigen eines Baumes sind Strange eines Gewebes geworden.

b) Das zweischichtige Kirchenmodell ist einfach die senkrechte Dimension unseres neuen Gebildes.

c) Das Muster "wahre Kirche/falsche Kirchen" ist ebenfalls zu finden: man entdeckt es, wenn man einen Querschnitt durch alle Fäden macht und dabei nach einer ganz bestimmten Farbe sucht; wo man findet, was man sucht, da ist wahre Kirche, wo nicht, falsche. Insofern die betreffende Farbe tatsächlich zur Gesamtbuntheit wesentlich dazu gehört, war diese Redeweise nicht ganz unrichtig. Freilich gilt sie stets nur "in Bezug auf das oder das" (secundurn quid) nicht aber schlechthin (simpliciter), ist somit hinfort besser zu vermeiden.

5) Zwang zur Gleichzeitigkeit?

Der springende Punkt des ganzen Vorschlags liegt in der Einsicht, daß die vielen Kirchen sich dann als eine Kirche verstehen können, wenn jede das, was sie den anderen vorauszuhaben überzeugt ist, als einen ihrer Hut und Entwicklung besonders geschenkten und aufgetragenen Aspekt des Gesamtheils versteht, der bei den anderen unentfaltet ist, während sie zum anderen demütig mit der Möglichkeit rechnet, daß die anderen ihrerseits andere Farben verwalten, von denen sie ausdrücklich nichts weiß.

Daß ein Widerspruch in Worten auch immer eine Unvereinbarkeit des je Gemeinten bedeute: über diese Naivität unserer Väter sind wir ja wohl hinaus. Vielmehr lehrt die lange Geschichte christlicher Verwirrungen und Klärungen doch wohl das eine: wo Glaube gegen Glaube steht, haben meist beide recht und unrecht. Wie kein Mensch ungeschützten Auges in die Sonne sehen kann, so ist die gesamte Wahrheit nie existentiell zu vollziehen, kann nur entweder durch die Sonnenbrille des theoretischen Systems als Ganzes entschärft oder durch das Prisma des lebendigen Vollzugs zu dieser und jener Farbe ausdifferenziert werden. Da sagt (und übertreibt) dann also der eine A, der andere B; gehört wird aber nicht das, sondern vom einen „nicht-A“, vom anderen „nicht-B“ - so lange, bis ein Teilhard oder Küng kommt und umständlich erklärt, wieso sich beide Seiten ja "eigentlich" gar nicht widersprechen. Wenn die rechte Sonnenbrille, das passende Prisma gefunden ist, werden aus streitenden Konfessionen zusammenwirkende Spiritualitäten. "Selig die Friedensstifter“, sagt Jesus - wie selig, hat er am eigenen Leibe gespürt.

Solange in irgendeiner Streitfrage unter Christen das Friedenswerk aber noch nicht vollbracht ist, so lange gebrauchen moderne Christen da, wo ihre Väter grob von richtig und falsch sprachen, das feinere neuzeitliche Modell „fortschrittlich/rückschrittlich“: ich bin schon weiter in der Entwicklung, du beharrst noch auf einer früheren Stufe. Z.B. sind die Mariendogmen dem Katholiken ein Ergebnis der Dogmen-Entwicklung, für den Protestanten ein Rückfall in finstere heidnische Mutterkulte. Da fast jeder Pluralismus sich heutzutage notwendig so artikuliert, erhebt sich gegen das vorgeschlagene Modell der einen Kirche ein beachtlicher Einwand: Können denn menschliche Gemeinschaften einerseits bewußt in derselben Zeit leben, andererseits aber - und zwar nicht nur nebeneinander, sondern miteinander - doch in verschiedenen Zeiten?

Auf einem ganz anderen Gebiet geht das offensichtlich nicht: in dem Maße, wie die Weltgeschichte eine gemeinsame wird, wie die Entwicklungsländer mit uns leben, müssen sie unsere Denkart annehmen, trotz all ihrer Fraglichkeit: so sehr müssen sie es, daß anderenfalls beide Teile zugrunde gingen. Sollte das bei den Kirchen anders sein? Ist bei dem vorgeschlagenen Modell also nicht vergessen worden, daß es nur eine Kirchengeschichte gibt?

Es gibt tatsächlich einen Zwang zur Gleichzeitigkeit - doch nur bei der technisch-wirtschaftlichen Gestaltung der Lebensgrundlagen. In einer Welt, die Traktoren kennt, muß der Holzpflug allmählich aussterben und mit ihm eine ganze Weltanschauung. Denn auch der materielle Unterbau prägt den Menschengeist. Doch lassen sich eben nicht alle geistigen Unterschiede auf die materielle Basis zurückführen. Es ist kein Zufall, daß die Entwicklungsländer sich gerade heute neu auf ihre geistigen Traditionen besinnen, bei denen natürlich, ebenso wie bei uns, der Wind der Wissenschaft auch allerhand Spreu fortweht, bevor das je Bleibende sich zeigt.

Bei diesem gibt es keinen Zwang zur Gleichzeitigkeit. Ebenso, wie ich mit einem längst verstorbenen großen Geist in ein ehrfürchtiges Gespräch treten kann, ebenso doch auch mit einem Lebenden, der aus irgendwelchen Gründen, was den oder jenen Punkt betrifft, heute noch eine für mich längst veraltete Ansicht teilt. Wäre solche Ehrfurcht nicht das allgemeine Gesprächsklima, dann würde sich keiner mehr wohlfühlen können: jeder von uns hat ja in den 99 Gebieten, wo er kein Spezialist ist, veraltete Ansichten!

6) Die katholische Spielart des Modells

a) Ob und in welcher näheren Ausformung das vorgeschlagene Denkmuster den anderen Kirchen passe, das müssen sie selbst sagen. Die katholische Fassung könnte etwa so aussehen: Die römische Kirche hält selbstverständlich an all ihren Dogmen fest. Zugleich erkennt sie aber zweierlei an: Einmal, daß andere Christen viele dieser Wahrheiten „noch nicht tragen" können. Zweitens, daß die begriffliche und alltägliche Gewandung, welche viele Dogmen im früheren und heutigen katholischen Lebensvollzug "noch“ tragen, das eigentlich Gemeinte oft erheblich verdeckt, ja entstellt. "Hätten die Väter des 1. Vatikanums die Dekrete des 2. gelesen, wäre die Hälfte von ihnen in Ohnmacht gesunken. Was Stellung und Verhalten des Papstes betrifft, appelliere ich an das nächste Konzil!" Dieser lebhafte Ausspruch eines unierten Ostritlers ist nicht nur christlich, sondern auch katholisch.

Zusammen mit allen, die sich zu Jesus Christus dem Auferstandenen bekennen, wissen die Katholiken sich deshalb als die eine Kirche. Warum sollten sie nicht um der Liebe und Einheit willen den nämlichen Schritt in ein größeres Ganzes hinein vollziehen, welchen auf Geheiß des Papstes jeder Orden immer schon tun mußte, ohne seine den anderen voraneilende Wahrheit irgendwie zu verleugnen?

b) Für die Nichtkatholiken in dieser Kirche wären die katholischen Dogmen dann eben unverbindliche Sonderansichten einer bestimmten Christengruppe, die auch dann den Frieden nicht stören, wenn man sie selbst für falsch hält. Man spräche und stritte weiter darüber, wie man es jetzt tut; man achtete und liebte einander dennoch weiter, wie man es auch jetzt schon tut. Der einzige Unterschied wäre, daß institutionell statt der Spaltung die von Christus erbetene Einheit herrschen würde.

7) Praktische Folgerungen

Wenn die Trennung ein Skandal vor der Welt ist, dann ist unsere gemeinsame Pflicht, dieser Welt den Glaubenskern gemeinsam zu bezeugen, drängender als die Pflicht jeder Kirche, ihren Mitgliederbestand zu hüten. Selbst wem diese These nicht evident ist, auch er wird keinen Grund finden, sie denen, die sie halten, zu verbieten. Legt man diesen Maßstab an, dann schrumpfen alle scheinbar unlösbaren Probleme zu nichts zusammen. Zuerst stürzen als Trennmauern ein alle theoretischen, dogmatischen, exegetischen Differenzen. Denn eben um der Botschaft willen müssen die Gegensätze in ihrer Auslegung zurücktreten gegenüber der Lebenseinheit ihrer Verkünder.

Fataler scheint es zunächst, wenn die theoretische Getrenntheit in eben dem, was den Lebensvollzug der Einheit bedeuten würde, nicht zu überwinden wäre. Denn man kann nicht gemeinsam tun, was für einen Teil Unsinn oder Lüge wäre. Deshalb sind die Kirchen erst dann eins, wenn Mischehe, gemeinsamer Gottesdienst und Bekenntniswechsel allseits ohne Diskriminierung anerkannt sind. Gemessen am Maßstab unserer unbedingten Pflicht, Christus gemeinsam zu verkünden (denn sonst wird die Welt nicht glauben!), verflüchtigen sich sogar diese Hindernisse.

a) Ein Bekenntniswechsel ist frei zu verantwortende Tat des Einzelnen. Es genügt, sich an das evangelische Verbot des Richtens zu halten, um auch dem Mitchristen sich in einer Kirche verbunden zu wissen, der die eigene Konfession erst kürzlich verlassen hat. Ähnliche Anforderungen wurden an Ordensangehörige schon seit jeher gestellt und von ihnen mehr oder minder gut erfüllt. Gabe und Pflicht einer tiefen Einheit aller Christen vorausgesetzt, stimmt diese Analogie. Denn das Konzil meint es sehr ernst mit seiner Betonung der Gewissensfreiheit. Ihretwegen ist aber nicht nur der Scheiterhaufen fortan verboten, sondern auch jeder hämisch ausgestreckte Zeigefinger; damit ist nicht nur dem bisherigen Sprachgebrauch des Kirchenrechts („Apostat"), sondern auch der ihm zugrundeliegenden Ideologie der dogmatische Boden durchaus entzogen.

b) Mischehe und Kindererziehung bedingungslos freizugeben wird ebenso von dem alten Prinzip erlaubt, daß ein nur materieller Irrtum nicht heiIsgefährlich ist. Wenn ein Franziskanerpapst, der persönlich für die Immaculata gestorben wäre, trotzdem keiner Mutter verbieten durfte, ihr Kind bei Dominikanern erziehen zu lassen, dann bräuchte doch an sich ein katholischer Pfarrer heute in Bezug auf die Evangelischen nicht strenger zu sein. Die Pflicht der Katholiken, für ihren Glauben auch bei ihren Kindern einzutreten, bleibt bestehen; als juristisch fixierbare ist diese Pflicht aber nicht absolut, sondern der Pflicht zur christlichen Einheit untertan. Was daraus wird, steht bei Gott - oder etwa nicht?

c) Das gemeinsame Abendmahl endlich ist möglich, sobald man ernstnimmt, daß entscheidend nicht die genaue Weise des Zeichens, sondern der Bezeichnete selber ist. Hält ein katholischer Priester den Gottesdienst, dann entsteht keinem Beteiligten eine Schwierigkeit; denn alle, die hinzutreten, wollen Christi Leib und Blut zeichenhaft empfangen. Eben das aber geschieht.

Wie ist es aber beim evangelischen Abendmahl unter Leitung eines "nicht geweihten" Amtsträgers? Früher nannten die Katholiken das schlichtweg ungültig. Heute würde die Mehrzahl einverstanden sein, daß hier "nicht nichts" geschieht. Was aber dann? Geschieht da "weniger" als bei der Messe? Darauf seien ausnahmsweise statt zwei einmal drei Antworten gegeben: nein, ja, im Gegenteil! Ich gebe dem Leser mein Wort, daß alle drei Antworten und ihre Begründungen dasselbe meinen, nur je vor anderem Horizont und mit anderem Akzent.

aa) Beim evangelischen Abendmahl geschieht nicht weniger als bei der Messe. Denn beide Male geschieht im Kreise heutiger Jünger eben das, was der Herr seinen Freunden beim letzten Abendmahl zu seinem Gedächtnis zu tun aufgetragen hat. Unter dem Zeichen des Brotes ist Er da: "Das ist mein Leib."

bb) Unter einer gewissen Rücksicht geschieht bei der Messe mehr. Aufgrund der starken Ritualisierung des Geschehens ist das sakramentale Mahl schärfer von einem bloß profanen abgegrenzt. Nur Geweihte können ihm vorstehen, genau festgelegte Materie muß bereit sein, der Priester muß bestimmte Worte mit bestimmter Intention sprechen, andernfalls ist, was er tut, ungültig - ähnlich wie ein Tor-Wurf beim Fußballspiel ungültig ist. Wenn aber alles regel-recht vollzogen wird, dann - und hier liegt das katholische Plus - erlangt das Dasein des Herrn bei den Seinen eine sozusagen juristische Greifbarkeit; dieser göttliche Sinn des Zeichens bleibt freilich zu glauben; das Zeichen in sich selbst aber ist nicht nur physisch (als Brot und Wein), sondern auch soziologisch eindeutig feststellbar: die sichtbare Kirche handelt sichtbar, in einer letzten Eindeutigkeit: eben das macht nach katholischer Lehre ein Sakrament aus. (Sofern eines Dinges Verweis entweder auf die rätselhafte Welt oder aber auf die göttliche Liebe seine letzte, innerste Substanz darstellt, ist der Ausdruck "Transsubstantiation" durchaus angebracht!). Die Gefahr liegt auf der Hand: ritualistische Versachlichung, magisches Treiben.

cc) Unter einer anderen Rücksicht geschieht darum beim evangelischen Abendmahl mehr. Hier hat grundsätzlich jeder Christ das Recht, im Kreise anderer und für sie das Brot des Herrn zu brechen, und auch die Form dieser Feier ist nicht zwingend vorgeschrieben. Weil mithin der Übergang zwischen profanem und sakramentalem Mahl hier fließender ist, darum wird deutlicher als bei der hieratischen Messe, daß die sakramentale Wirklichkeit nicht durch magische Kräfte, sondern dank der persönlichen Treue von Jemand da ist, an den seine Freunde glauben. Deutlicher als bei der Messe wird das deshalb, weil eben menschliche Treue anders als ein Mechanismus keiner bestimmten Formeln und Regeln bedarf, um zu wirken: wo immer eine Gruppe "dies zu Seinem Andenken tut", darf sie Seiner Gegenwart gewiß sein, auch ohne soziologische Eindeutigkeit. Doch ist auch hier eine Gefahr offenkundig: ungeschütztes Abgleiten ins rein Profane, endlich Vernachlässigung überhaupt: denn wenn ich sowieso alles glauben muß, kann ich das ganz ohne Zeichen bequemer tun.

Beide Denkweisen (von inner-evangelischen Unterschieden dürfen wir einmal ganz absehen) sind grundsätzlich allen Christen mitvollziehbar. Praktisch ist es einem minder dialektischen Gemüt freilich nicht ganz leicht, von einer sich ohne weiteres in die andere hineinzubegeben. Vielleicht ist es also wirklich unmöglich, die Interkommunion bereits freizugeben. Dogmatisch aber gilt: Die Differenz in der Auslegung des Zeichens verbietet nicht den zeichenhaften Vollzug der realen Einheit im Bezeichneten und darum miteinander. Der evangelische Meßbesucher muß nicht das katholische, der katholische Abendmahlsteilnehmer darf das evangelische Eucharistieverständnis hier und jetzt sich zu eigen machen. Deshalb ist das „Sakrament der Einheit" kein Grund zur Kirchentrennung.

C

Würde das dargestellte Modell von den Kirchen angenommen, dann wäre das ökumenische Problem aus einem theologischen ein kirchenrechtliches geworden: wie kann die vorhandene Einheit, um der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses willen, institutionell so ausgedrückt werden, daß der Skandal der Trennung verschwindet? Das jüngste Konzil hat als erstes keinen Bannfluch mehr geschleudert. Deshalb sei selbst dem verziehen und die christliche Gemeinschaft nicht verweigert, der immer noch nicht begriffen hat, daß bei brennendem Haus aller Familienzank aufzuhören hat.

Verzeihung aber braucht ein solcher - mehr als das übliche Maß.

Nürnberg, Dezember 1968


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Schriftenverzeichnis

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