Jürgen Kuhlmann

Dein Reich komme!

Ewigkeitshoffnung und heutiges Weltbild (II)

Ist die Bundesrepublik ein "Reich"? Die Idee wird den meisten merkwürdig vorkommen. Wir fühlen uns nicht als "Reichsbürger" - anders als Jesus und seine Jünger. Römische Soldaten, Fahnen und Münzen bezeugen auch für Judäa die Gegenwart des "Römischen Reiches", obwohl die Reichshauptstadt über 2000 Kilometer entfernt war. Allgegenwärtig drückte des Kaisers Reich, nur in ohnmächtiger Erbitterung konnten die Juden sich der glorreichen Zeit erinnern, da sie unter David und Salomo in ihrem eigenen Reich lebten. "Dein Reich komme" - das haben viele Beter in jener messianisch aufgeregten Zeit durchaus realpolitisch verstanden: Gott Israels, mach endlich Schluß mit der Diktatur der fremden Ausbeuter! Laß statt ihrer hochmütigen Kommandanten wieder einen Mann deiner Wahl herrschen ...

Zweitausend Jahre später wissen wir, was aus der glühenden Hoffnung geworden ist. Nicht Gottes Herrschaft hat sich durchgesetzt, sondern Jesu Kreuzestod führte zum Auferstehungsglauben der Christen. Dann das Ende des Tempels, die Zersprengung der Juden unter alle Völker; und jetzt ein kleiner Staat, der ständig um sein Dasein kämpfen muß, und mit welchen Mitteln! Die Christen haben sich zu einer "Kirche" gesammelt, die auch noch zerstritten und zerspalten ist. Wo bleibt Gottes Reich?

Wie viele Menschen mögen die christlichen Jahrhunderte hindurch zu Gott gerufen haben - bedrängt oder angeödet vom jeweiligen Reich ihrer Zeit, das zwar manche Verheißungen verkündete, aber so oder so eben ungöttlich gewesen ist. Altrömisches Reich, Frankenreich, Deutsches Reich, Britisches Weltreich, Zarenreich, Sowjetreich, Drittes Reich, vielleicht einmal ein globales Einheitsreich. Zu jedem Menschenreich gehört Zwang, Privilegienwirtschaft und für die Schwachen die Knute. Das alles wissen wir.

Trotzdem beten wir: Dein Reich komme! Hat der nachdenkliche Beter nur die Wahl zwischen politischem Mißverständnis und scheppernder Phrase?

Du kommst zu uns

Wir sollten uns zuerst einmal klarmachen, was das Wort kommen bedeutet, welchen göttlichen Sinn es hat. Ein Gleichnis mag das verdeutlichen:

Ein junger Mann wartet auf eine junge Frau. Sie hat ihr Kommen versprochen, aber sie bleibt aus. Ungeduld, Zweifel, Angst, Zorn jagen sich in ihm, während er scheinbar ruhig dasteht - bis er sie endlich kommen sieht Allerdings wird sie von ihrem Vater begleitet, und der darf zur Zeit noch nichts von dieser Verbindung wissen. Also spielt der Wartende den Gleichgültigen, der nur zufällig hier steht. Auch sie ändert nicht den Schritt, unterbricht nicht das Gespräch. Nur ihr strahlender Blick trifft blitzhaft den seinen, und das ist ihm für jetzt genug. Noch ist sie nicht da für ihn. Und doch weiß er selig: sie hat ihr Versprechen gehalten, ich habe nicht vergebens gehofft.

Nehmen wir an, auf dem Rückweg gingen bald darauf Tochter und Vater erneut vorbei. Und stellen wir uns vor: diese Begegnungen wiederholten sich unendlich oft, wobei der Zeitraum zwischen jeweils zwei "Ankünften" immer kleiner wird (mathematisch: die zwischen zwei Begegnungen verstrichene Zeit geht gegen Null). In dieser Weise kann man den Begriff "reines Kommen" erhalten, der dem Reich Gottes entspricht: stetiges glückseliges Hereinbrechen, das doch nie (in dieser Weltzeit) sich in absolutes Gekommensein, in endgültiges Da-sein verwandelt.

Um das Kommen des Reiches betet die zweite Vaterunserbitte. Wenden wir auch bei ihr den "goldenen Schlüssel für jedes theologische Problem" an (so nennt der orthodoxe Theologe Evdokimov das Dogma von Chalkedon, daß in Christus Gottheit und Menschheit "unvermischt und ungetrennt" sind), dann ergibt sich: die Bitte hat einen doppelten Inhalt.

Zeitlich gemeint heißt sie: Gott, laß immer wieder Strahlen und Zeichen deines Reiches geschehen, damit wir der Übermacht der vielfältigen irdischen Reiche, der Be-reiche dieser Welt, nicht erliegen. Da geht es oft gnadenlos zu: Arbeitsplatz, Straßenverkehr, Weltwirtschaft, Strafvollzug, Drogenszene, trautes Heim; wohin wir schauen: Egoismus, Krisen, Gefahren. So war es, und so wird es bleiben.

Und doch hat unser Gebet durchaus einen klaren weltlichen Sinn. Die Sklaverei war ein scheußlicher Zustand - aber die Abschaffung der Sklaverei war ein Augenblick des Kommens von Gottes Reich. "Dein Reich komme" heißt darum mit Recht für den Kranken: Genesung; den Eingesperrten: Befreiung; den Einsamen: Begegnung; den Ausgebeuteten: Gerechtigkeit; den Verkannten: Klärung; für die Zerstrittenen: Versöhnung; für die Gelangweilten: Blitz der Schönheit; für die ihre eigene Vernichtung produzierende Menschheit: Bekehrung zur Vernunft.

Jeder noch so verbesserte Zustand ist ein willkommenes Ergebnis jener Augenblicke, da das Reich kommt. Er macht aber nicht selbst dieses Reich aus. Im Augenblick der Befreiung, Genesung, Begegnung kommt das Reich zwar, in den folgenden Zuständen der Freiheit und Gesundheit ist es aber keineswegs "da". Deshalb ist auch die Vorfreude voller als die Freude; jene freut sich "schon" auf das Reich, diese "noch nicht" über es.

Leere Zeit - erfüllte Dauer

Die Bitte "Dein Reich komme" hat zugleich mit dem zeitlichen auch einen ewigen Sinn. Kehren wir zurück zu unserer Liebesgeschichte: endlich ist der Vater mit der Verbindung einverstanden. Wieder kommt die Geliebte, geht aber nicht mehr am Wartenden vorbei, sondern ist für ihn da, ganz und gar, ohne Ende. Um ist die Zeit des Wartens, die Hoffnung erfüllt, der Augenblick da. Hermann Hesse besingt ihn so:

Auch zu mir kommst du einmal
Du vergißt mich nicht
Und zu Ende ist die Qual
Und die Kette bricht.

Noch erscheinst du fremd und fern
Lieber Bruder Tod
Stehest als ein kühler Stern
Über meiner Not.

Aber einmal wirst du nah
Und voll Flammen sein
Komm Geliebter ich bin da
Nimm mich ich bin dein!

Liebende erfahren, daß nach solcher Ankunft die Zeit nicht genauso weiterrinnt wie zuvor dem Wartenden; auf diesen qualitativen Gegensatz von leerer Zeit vorher und erfüllter Dauer danach müssen wir achten; er läßt uns wenigstens ahnen, wie es sein könnte, wenn einmal unsere Zeitlichkeit als ganze umschlägt in die Gegenwart der unverhüllten Liebe.

Im Jahre 1336 hat Papst Benedikt XII. feierlich verkündet: "Die Seelen der Heiligen ... sehen die göttliche Wesenheit in unmittelbarer Schau von Angesicht zu Angesicht, ohne gegenständliche Vermittlung irgendeines Geschöpfes. Sondern unvermittelt zeigt die göttliche Wesenheit sich ihnen nackt, klar und offen" (D 530 = DS 1000). Ähnlich darf die wagende Hoffnung auch alle übrigen Ankünfte des Reiches radikalisieren: dann wird die Genesung volles Heil bringen, den Tod nicht bloß abwehren, sondern ihn überwinden. Die Befreiung wird nicht nur äußere Mauern einreißen, sondern alle bösen Trennwände stürzen, die hier das eine "Individuum" gegen das andere versperren. Die Begegnung läßt mich nicht nur dich treffen, mein gleicharmes Mitgeschöpf, vielmehr DICH, den Sinn des Ganzen in Person. Daß mit Deinem Reich Du selbst zu mir kommst: darauf bin ich so zitternd gespannt.

Ich komme zu mir ...

"Wer von einem Festgelage träumt, muß manchmal am nächsten Morgen weinen. Wer vom Weinen träumt, wacht zuweilen am nächsten Morgen zu einer frohen Jagdpartie auf. Während er träumt, weiß er nicht daß er träumt ... und erst, wenn er erwacht, weiß er, daß er geträumt hat Es gibt aber auch das Große Erwachen, und danach sehen wir, daß all dies hier nichts ist als ein großer Traum. Die Narren freilich glauben, daß sie schon jetzt wach seien, und glauben in allen Einzelheiten zu wissen, wer Fürst ist und wer Hirte. Welche Borniertheit! Konfuzius und du, ihr seid beide Träume, und auch ich, der ich das sage, bin ein Traum."'

Dieser schöne Text stammt aus dem alten China. Um unser Denken recht auszubalancieren, müssen wir die Vorstellung, daß Du zu mir kommst, mit diesem "Großen Erwachen" zusammendenken: daß ich zu mir komme. Die einseitige Du-Sicht gilt zwar weithin als die christliche Wahrheit, dabei darf es aber nicht bleiben. Der Schreiner macht eine Truhe; so ähnlich stellen viele sich das Schöpfungsgeschehen vor, nur macht Gott sein Werk nicht mit Händen, sondern geistig. Übersehen wird bei solchem Verständnis allerdings, daß die Schöpfung - da geistig - eine innere Tat Gottes ist und nicht, wie des Schreiner Truhe, ein äußeres Werk. "In Ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir" (Apg 17,28).

Dieser innere Aspekt wird sofort deutlich, wenn wir das Wort "Machen" anders verwenden. Nehmen wir an, zwei Kinder unterhalten sich über ein geplantes Theaterspiel: Ich mache den Gärtner, und du machst die Prinzessin. Ja, nicht bloß wie der Schreiner seine Truhe macht Gott uns Menschen, sondern so ähnlich wie auf der Bühne Hans den Gärtner macht und Gretel die Prinzessin. Oder wie ich im Traum allerlei Gestalten mache, die ich selber bin - ohne es allerdings zu wissen.

Versuchen wir, uns das "Erwachen aus dem Lebenstraum" durch ein anderes Gleichnis nahezubringen: Du stehst mit einem guten Freund in der Bahnhofshalle, die Uhr zeigt sieben Minuten vor Mitternacht. Plötzlich eine Lautsprecherstimme: Achtung, Achtung, es ist eine Bombendrohung ergangen. Räumen Sie sofort das Bahnhofsgelände. Alles drängt zu den Ausgängen. Auch dein Freund ruft: Los! und rennt weg. Du bleibst stehen, an solchen Unsinn glaubst du nicht Als der Zeiger auf die volle Stunde springt, tut es einen lauten Schlag. Und eine Stunde darauf sieht man deinen Freund mit einer Taschenlampe nach dir suchen. Er findet die zerfetzten Reste deines Körpers.

Was ist nun mit dir? Du sitzt auf einem sonnenbeschienenen Bett, hörst durchs offene Fenster die Vögel jubilieren und schaust auf das Lager neben deinem, wo dein Freund anscheinend tief schläft. Zu seinem Kopf führen Drähte, zu deinem auch, wie du ertastest Auf einem Tischchen läuft eine Art Videoband. Du schließt die Augen und erinnerst dich: gedrängt voll der Bahnhof, die Uhr zeigt eins vor zwölf, alles rennt. Du schaust auf deine Armbanduhr: elf Uhr.

Der Gleichnispunkt dieser Geschichte liegt darin, daß sie das plötzliche Abbrechen der gesamten Zeit anschaulich machen kann. Für den Erwachten wird es in der Welt, wo jener Bahnhof steht, nie mehr zwei Uhr. Wenn er, als Erwachter und von den Geschehnissen nicht mehr selbst Betroffener, sich wieder in die Welt seines Freundes einschaltet, kann er dort vielleicht bestimmte Wirkungen hervorbringen, aber er gehört dieser Welt nicht mehr an. "Das Leben ist Traum" war auch im europäischen Barock ein beliebtes Thema.

Im Traum, im Erwachen

Gott ist Einer, die Vielheit gehört nicht zum Träumer, sondern in den Traum. Um das störende Videoband und die Vielheit der Träumer wegzubringen, können wir uns etwa vorstellen, daß ich über ein vielfältiges Gehirn verfüge, das zugleich verschiedene Träume träumt, genauer: einen umfassenden Traum, aber aus vielerlei Perspektiven. In Fällen von Persönlichkeitsspaltung ist so etwas ja denkbar; so erzählt (im klassischen Fall aus Georgia) Jane, die dritte Persönlichkeit daß sie Eva Weiß und Eva Schwarz "wie hinter einem Vorhang "anwesend wußte. Dann kann es sein, daß ich aus dem einen Traum erwache und jetzt weiß, daß dessen Zeit geträumt war, während sie in anderen Träumen weitergilt.

Daß ich zu mir komme, mit lebhafter Erinnerung an einen Traum aus ihm erwache, das ist - neben dem Erlebnis, daß du zu mir kommst - die andere Hauptvorstellung, die uns die ewige Vollendung ahnbar macht. Entscheidend ist die Einsicht daß die Zeitlichkeit des Traums und die des Erwachten qualitativ grundverschieden sind; im Verhältnis zur wirren Traumzeit ist die wache Klarheit unvergleichlich wirklicher.

Werden dann aber die Traumfiguren beim Erwachen nicht ausgelöscht, eben als unwirklich durchschaut? Einerseits ja, als abgesonderte Individuen, als autonome Komplexe sind sie dahin, und ich weiß jetzt klar: dieser Eindruck war bloß ein Wahn. In Wahrheit habe die ganze Traumzeit hindurch ich selbst diese Figuren "gemacht". Das ist die Wahrheit des Nirvana-Gedankens.

Andererseits löscht der erwachte Schöpfer aber seine Geschöpfe nicht aus, und das ist die christliche Wahrheit. Nicht nur erinnere ich mich nach dem Erwachen an jeglichen Inhalt als noch gegenwärtig (hier hinkt das Traumgleichnis, unsere Träume sind meist schnell vergessen, die göttliche Erinnerung ist unverlierbar, stets währende Gegenwart). Sondern bei solcher Erinnerung bin ich mir auch der tiefen Selbigkeit meiner, des Erwachten, mit dem Ich-Subjekt einer jeden Traumgestalt bewußt. Aufgrund dieser personalen Identität kann aber das ewige Wachbewußtsein auch dem Subjekt der Traumgestalt zugesprochen werden, die ich demnach nicht bloß war, sondern für immer lebendig gewesen bleibe.

Trinitarisch gedeutet

Erwacht werde ICH an mich, dieses Individuum, von innen her denken, und das wird mein ewiges Leben sein. Denn wie könnte ICH ohne mich, an mir vorbei, mich kennen? Die Elektronenwirbel meines Gehirns und überhaupt alles, was ich bin, kann ich von außen kennen, mich als Wer aber nur so, daß ich dabei bin. Sonst fehlte dem göttlichen Erkennen sein "Objekt", nämlich ich selbst als Subjekt.

Du kommst zu mir, und ich komme zu mir - wie sind beide Sichten zu verbinden? Denn jede ist nötig. Hätte allein die Zweiheit das letzte Wort, dann bliebe ich trotz aller Verklärung doch zutiefst immer der Sklave aus dem Nichts, wäre nie wahrhaft "Mitinhaber der göttlichen Natur" (2 Petr 1,4). Hätte letztlich nur der "Unzwei"-Standpunkt recht (indisch: Advaita), gälte einzig die reine Selbigkeit des alleinigen Ich, dann stünde am Ende, verrauscht jeder Liebestraum, bloß mein Erwachen zu schauerlicher Einsamkeit.

Die Lösung kann hier nur angedeutet werden. Sie heißt: Dreieinigkeit. Weil das göttliche Wesen eines und all-einfach ist, deshalb dürfen wir unsere Herkunft aus dem Nichts am Ende auf uns als endliche Naturen beziehen und nicht mehr auf unseren tiefsten Personkern, uns innerlicher als wir selbst; das ist die Ich-Wahrheit.

Weil Gott andererseits unendliche Gemeinschaft ist (ich - du - wir), an der die Beziehung des Geschöpfes zum Schöpfer unaufhebbar teilhat, deshalb bleibt es ewig wahr, daß DU zu mir kommst mit allem Jubel deiner Liebe.

Auch hier sei es uns genug, die Vereinbarkeit beider Sichten von ferne zu ahnen; wer das Gefühl hat, daß er sie nicht ganz begreift, ist in diesem Punkt rechtgläubig: Glaubensverständnis führt nie zu einem völligen "Durchblick", wie weltliche Wissenschaft ihn erreichen kann.

[Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" 38/1985, 237 f]


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