Jürgen Kuhlmann
Das Rätsel Mensch
dank Jesus gelöst
Das Ganze als Krimi
"Mensch, paß doch auf!" hörte neulich ein Radfahrer rufen, angesprochen war aber nicht er, sondern der Hund der Ruferin, der ihm fast ins Rad gelaufen wäre. "Mensch" ist ein überaus vieldeutiges Wort. Es menschelt, sagt man über unschöne Gebräuche; und doch ist es ein Lob, wenn jemandem bestätigt wird, er habe menschlich gehandelt.
Vieldeutig ist auch der Name "Gott". Die einen führen "mit Gott" ihre Soldaten in die Schlacht, andere rufen den gerechten Richter an, der zuletzt hoffentlich stärker ist als das Unrecht auf der Welt; wieder andere verfluchen jenen allwissenden, allmächtigen Blick, der ihnen - so fürchten sie - nichts Eigenes läßt, sondern ihre Freiheit mit seinen Vorschriften und Höllendrohungen total vergiftet.
Kann die Verbindung beider Zweideutigkeiten eindeutig sein? Gewiß nicht. Warum ist Gottes Menschwerdung[, deren wir in dieser Weihnachtszeit gedenken,] trotzdem Grund zu Freude und jubelndem Dank? Weil damals nicht irgendein Gott irgendein Mensch geworden ist. Wäre etwa einer der aztekischen Götter, die Tausende blutiger Menschenopfer forderten, zum irdischen Kaiser oder Direktor eines Folterzentrums geworden - das wäre entsetzlich. Oder wenn, umgekehrt, der gemütliche Himmelspapa mit dem weißen Bart ein läppischer Spießbürger geworden wäre - wie langweilig müßte das All uns sein! Daß der weltliche Zeitgeist (auch in den Kirchen) jeweils mehr einem dieser Extreme zuneigt, darf uns nicht wundern; unser Verstand wünscht eben seine griffige Klarheit, und deutlich scheinen diese beiden Zerrbilder, sowohl der grausame Tyrann als auch der nette Wohltäter. Sie sind jedoch zutiefst zweideutig.
Das erschreckende Extrem finden wir in den Szenen mittelalterlicher Höllenbilder und den Worten barocker Höllenpredigten. Was uns heute eher belustigt, muß auf angstverhexten Gemütern jener Zeiten mit zermalmender Wucht gelastet haben. Umgekehrt stelle ich mir vor, wie angewidert spätere Geschlechter nach den kommenden Weltkatastrophen über jenen laschen pflegeleichten Kuschelgott den Kopf schütteln werden, der in unserer derzeitigen, ach so aufgeklärten Religion herumgeistert und anspruchsvolle Menschen in Massen aus den Kirchen treibt, wohin? Die einen zu strengen Sekten, andere zur logischen Konsequenz: wenn schon gottlos, dann ohne religiösen Klimbim! Nein, solange die Rede von Gottes Menschwerdung nur das Rätsel Mensch und das Rätsel Gott verknüpft, wird Alles nur noch verworrener und jener Pfarrer behält recht, der (bei Agatha Christie) tiefsinnig bemerkt: "Das Leben selbst ist ein ungelöstes Rätsel."
Das Ganze ein total spannender Krimi samt uns mittendrin? So ist es (und so erklärt sich, scheint mir, der Riesenerfolg dieser Literatur). Wird auch die Lösung im Großen ähnlich ausfallen wie im Kleinen? Wird es dem Lebenden wie dem Lesenden ergehen: daß er sich zwar von Seite zu Seite immer weniger auskennt, weil das Ganze unmöglich scheint; daß aber zum Schluß doch die Fäden entwirrt, Spreu und Weizen getrennt und alle Fehlurteile aufgehoben werden? Der Christ glaubt: ja. (Ich vermute sogar, daß Agatha Christie manche ihrer Werke bewußt so verstanden hat, als moderne Mysterienspiele, Gleichnisse des Großen Krimi und seiner christlichen Lösung.) Für jeden Menschen ist das Leben ein ungelöstes Rätsel - solange wir nicht "die letzte Stunde" (1 Joh 2,18) erreicht haben; erst auf der letzten Seite wird der vollkommene Krimi klar. Dessen aber, daß das Rätsel sich zuletzt gerecht lösen wird, dessen ist der gläubig hoffende Leser jetzt schon gewiß, während das Gestrüpp des scheinbar Unbegreiflichen dicht und immer dichter wuchert.
Mitunter blättert der Leser vom Schluß aus zu der Seite zurück, wo ein wichtiges Element der Lösung schon stand, nur hatte er nicht darauf geachtet. Wird es auch beim Lebensrätsel so sein? Im Gleichnis von Lazarus und dem Prasser deutet Jesus so etwas an. Der verstorbene Reiche bittet darum, daß seine Brüder doch von Lazarus gewarnt werden mögen, "damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen. Doch Abraham sagt: Sie haben Moses und die Propheten, auf die sollen sie hören" (Lk 16,29). Ein noch deutlicheres Zeichen ist den Christen gegeben; mit welcher Scham werden wir uns an den Kopf greifen, sollten wir eingestehen müssen, daß wir den entscheidenden Hinweis, auf den alles ankommt, trottelig übersehen und unser einziges Leben vertan haben! Den Lebenskrimi richtig deuten heißt glauben. Ihn zum Guten mitgestalten heißt lieben. Auf sein Ende vertrauensvoll gespannt sein heißt hoffen. Seine Schlüsselszene ist für Christen Jesu Leben, Tod und Auferstehung (ob es für andere Menschen andere Schlüsselszenen gibt, sollen spätestens seit dem letzten Konzil die Christen ausdrücklich offenlassen; wo Gott selbst der Verfasser ist, kann eine Geschichte sich ja aus sehr verschiedenen und allesamt gültigen Sinnsträngen zusammensetzen).
Nicht irgendein Mensch ist Gott geworden, sondern Jesus offenbart, wer und wie Gott für uns sein will. Seine Weise, Mensch zu sein, löst das Rätsel von Leben und Tod; seine Auferstehung schenkt dem vernünftig Glaubenden soviel Gewißheit, wie er braucht. Weil der Schöpfer mit diesem Menschenleben zufrieden war, hat Er es nicht verderben lassen, sondern durch den Tod hindurch in Neues Leben gerettet. Dafür, daß dies nicht bloß eine hübsche Illusion, sondern erfahrene Wirklichkeit war, sind die ersten Christen Zeugen, bis zum blutigen Tod. Wer ihre Schriften liest, spürt wie normal sie waren: nicht fanatisch, nicht hysterisch, weder Narren noch Schurken, Leute eben wie wir auch, gewöhnliche Menschen, die allerdings Ungewöhnliches erlebt hatten. Meine Freunde und ich, wir würden uns durchaus nicht wegen eines selbsterfundenen Märchens freiwillig von Löwen fressen lassen; auch jene Christen hätten die Arena lieber gemieden, doch war ihnen ihr Zeugnis für das Ewige Leben wichtiger als eine Verlängerung des zeitlichen - mit Recht, wie jeder normale Mensch einsieht. Ebenso denken die Märtyrer aller Jahrhunderte seither, bis zu Erzbischof Oscar Romero von El Salvador, der 1980 am Altar erschossen wurde, weil er sein christliches Wächteramt ernst nahm (sein ergreifendes Tagebuch gibt es ["In meiner Bedrängnis"] seit dem Sommer 1993 auch auf deutsch).
Wie verhält Jesus die Lösung sich zu den extremen Gottesbildern, von denen zu Beginn die Rede war? Er ist ihre kritische Stereo-Einheit, dank welcher jene aus ihrer Zweideutigkeit erlöst werden, so daß bei jedem Extrem die in ihm verhüllte Wahrheit vom mitwuchernden Unsinn geschieden werden kann - eben im Licht der "letzten Stunde", der in Christus schon vorweggenommen Schlußseite des Gesamtkrimis. Wir müssen unterscheiden: Im praktischen Alltag, sofern wir also noch in der weiterlaufenden Welt leben, sollen wir lieber Weizen und Unkraut nebeneinander wachsen lassen als solche Pflanzen gewaltsam auszureißen, die uns Unkraut scheinen und doch gottgeliebte Wildkräuter sind. Beim Anwenden der christlichen Prinzipien heißt es behutsam sein, weil wir im Rätselgeschehen noch mittendrin sind: "Wirkt euer Heil mit Furcht und Zittern" (Phil 2,12)! Trotzdem sind die Prinzipien selbst dem glaubenden Bewußtsein eindeutig, strahlen schon die erlösende Klarheit der letzten Seite aus.
Die Wahrheit des heutigen freundlichen Gottesbildes steht bereits im Neuen Testament: "Gott ist die LIEBE" (1 Joh 4,8). Uns faßbar zu werden, hat die All-Liebe den Menschen Jesus geschenkt, "auf daß sie das Leben haben und es in Fülle haben" (Joh 10,10). Welche Wahrheit kommt dann aber dem früheren Gottesbild zu, jenem strengen Richter, der die Mehrheit der Menschen zu ewiger Qual verdammt? Haben da nicht die jeweils Mächtigen ihre eigene Grausamkeit an den Himmel projiziert, damit die Unteren gehörig erschrecken und vor lauter Angst nie an Aufruhr denken? Der Verdacht ist weithin berechtigt. Aber nicht ganz. Denn die Liebe hat ihre eigene Strenge. Weil eine Mutter ihr kleineres Kind liebt, deshalb muß sie dem größeren den Mißbrauch seiner Übermacht wehren. Nach diesem Prinzip sind Gottes Gebote und Drohungen zu verstehen.
Das vierte Gebot z.B. heißt ursprünglich nicht, wie wir gelehrt wurden: Kinder seid brav, folgt euren Eltern. Die Schwachen unter die Starken zu ducken, dazu bedarf es keiner göttlichen Weisung. Vielmehr richtet das Gebot sich an erwachsene Kinder und verteidigt deren hinfällige Eltern mit göttlicher Autorität. Der Höchste begibt sich nach unten und steht dort denen da unten gegen die da oben bei. Von Israels Zug durchs Rote Meer über Jesu Einsatz für die Verrandeten bis zur "Option für die Armen", die von lateinamerikanischen Christen für die Gesamtkirche als unaufgebbarer Besitz erkämpft worden ist, ist dies unseres Gottes Heilsprinzip. Allerdings auch dann, wenn jene Front innerhalb derselben Person verläuft, wenn also etwa das Kind eine tolle Idee hat und mit der Spiritusflasche zum glimmenden Grill eilt. Durch sie ist es stark, als verletzlich ist es schwach; selbstverständlich steht Gott jetzt hinter dem Verbot des Vaters, und auch wenn dieser selbst seine Ruhe braucht (dann ist er der Schwache ...). Insofern haben wir das vierte Gebot doch nicht so falsch gelernt.
Liebe ist Stereo-Einheit von strenger Macht und Freundlichkeit: die Anwendung dieses Prinzips ist, wie gesagt, oft schwierig, das Lösungsprinzip selbst leuchtet in erhabener Klarheit. In ihm stimmen alle Religionen und vernünftigen Philosophien überein, mögen ihre Vertreter noch so schwer gegen es verstoßen. Die Fehlgriffe der Christen sind besonders schwer entschuldbar, weil Gott ihnen persönlich vorgelebt hat, wie ein wahrer Mensch lebt. Wenn jemand anders lebt, dann deshalb, weil er an Jesus die Lösung nicht wirklich glaubt. Warum nicht? Vielleicht weil wir in unserer wissenschaftsgeprägten Zeit nach "objektiven", unbezweifelbaren Beweisen verlangen - die es allerdings nicht geben kann. Auf solch unsinnigen Anspruch laßt uns gern verzichten. Nur wer sein Herz mit auf die Waagschale legt, erhält auf seine Frage nach dem Ganzen ein klares Ergebnis; es ist keineswegs "bloß subjektiv": wie soll jemand mit Essig im Mund einen edlen Wein wahrhaft kosten? Willkürlich ist der Unglaube. Glauben wir an Jesus die Lösung, dann steigt in unserer Seele das Grundwasser der Liebe; trauen wir uns, liebende Menschen zu sein, dann stärkt sich der Glaube: denn woher als aus Gott käme Wesen wie uns die Kraft zur Liebe? [Circulus vitiosus? Nein: circulus vitalis, Stromkreis des Lebens. Wo du gerade bist, dort schalte dich ein!]
Juli 1993
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