Jürgen Kuhlmann

Es wechseln die Kreise, die Kugel wächst

Ewigkeitshoffnung und heutiges Weltbild (I)

"Ich glaube an das Ewige Leben." Ob solche Zuversicht berechtigt sei: darüber befindet allein der Glaube. Nicht daß es ein ewiges Leben gibt, will ich im folgenden begründen, sondern nur eine Erklärung vorschlagen, wie wir diesen Glauben uns selber und unseren Zeitgenossen ohne Weltbildschwierigkeiten verständlich machen können. Wohl bleibt jegliche Vorstellung eschatologischer Wirklichkeit von einem großen Irgendwie umklammert. Doch muß, was in der Klammer steht, dem geläufigen Weltbild entsprechen.

Irreleitend: die Uhrzeit

Wir müssen von einer veräußerlichten, entfremdeten Zeitauffassung zurückfinden zum ursprünglichen Erlebnis. Wenn jemand beim Wort "Zeit" gleich an eine Uhr denkt, dann wird sein Verständnis der Wirklichkeit statt von dieser selbst von einem Meßinstrument geprägt; das ist ähnlich unsinnig, wie wenn einem beim Wort "Glühwein" ein Thermometer einfiele. Gewiß kann die Wärme des Weins auch gemessen werden, das ist aber nicht das Wesentliche an ihm.

Die Spitze des Uhrzeigers bewegt sich über das Zifferblatt, von einer Zahl zur nächsten. Die Zahlen liegen räumlich auseinander. Ganz von selbst entsteht somit der Eindruck, auch die einzelnen Augenblicke der Zeit seien "entlang der vierten Dimension" sozusagen nebeneinander aufgereiht wie Perlen auf der Schnur; in der Mitte das Jetzt, auf der einen Seite das Nichtmehr der Vergangenheit, auf der anderen das Nochnicht der Zukunft. Für technische und organisatorische Zwecke ist dieses "physikalische Zeitmodell" natürlich notwendig. Nur mit seiner Hilfe kann z.B. eine Eisenbahndirektion ihren Fahrplan erstellen.

Solch meßbares Nebeneinander kann jedoch nicht das Wesen der Zeit ausmachen. Denn so vorgestellt, scheint die gesamte Zeit nichtig. Die zukünftigen Momente sind noch nicht, die vergangenen nicht mehr. Und der Begegnungspunkt von Zukunft und Vergangenheit im Jetzt ist eben nur ein Punkt, d.h. von unendlich geringer Ausdehnung, also ist die Gegenwart - gerade erst noch nicht und sogleich schon wieder nicht mehr - genau besehen gleichfalls nichtig.

Das übliche Verständnis der Ewigkeit ist von dieser Zeitauffassung her bestimmt. Man stellt sich ein "stehendes Jetzt" vor, nimmt also den Mittelpunkt jener Zeitkette für sich allein, schneidet die Kette auf beiden Seiten ab - in der Ewigkeit gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft - erweitert aber dafür den Jetztpunkt ins Unendliche. So aufgefaßt, scheint die Ewigkeit völlig zeitlos, hat mit Zeit überhaupt nichts zu tun, besteht in einer reinen, ungegliederten Gegenwart ohne Anfang noch Ende. - So verbreitet diese Zeit-Vorstellung auch sein mag, sie ist dennoch falsch. Die ihr entsprechende Ewigkeitsauffassung hält sich zwar für christlich, entstammt jedoch einer vorchristlichen Philosophie und ist vom Christentum im Kern überwunden.

Dagegen: Zeit als Dauer

Vergessen wir deshalb zunächst einmal die Vorstellung eines räumlichen Nebeneinanders der Zeitmomente. Erleben wir die Zeit in ihr selbst! Ich liege auf der Wiese und schaue einer hoch im Blau schwimmenden Wolke nach. Langsam zieht sie über den Himmel. Die ganze Zeit hindurch, während ich an ihrer Wanderung Anteil nehme, bin ich da. Eine solche währende Gegenwart heißt bei Bergson: Dauer. Sie sei das wahre Wesen der Zeit:

"Die ganz reine Dauer ist die Form, die die Aufeinanderfolge unserer Bewußtseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen. Dazu hat es keineswegs nötig, sich an die vorübergehende Empfindung oder Vorstellung ganz und gar zu verlieren; denn dann würde es ja im Gegenteil zu dauern aufhören. Ebensowenig braucht es die vorangegangenen Zustände zu vergessen: es genügt, wenn es diese Zustände, indem es sich ihrer erinnert, nicht neben den aktuellen Zustand wie einen Punkt neben einen anderen Punkt stellt, sondern daß es sie mit ihm organisiert, wie es geschieht, wenn wir uns die Töne einer Melodie, die sozusagen miteinander verschmelzen, ins Gedächtnis rufen. Könnte man nicht sagen, daß, wenn diese Töne auch aufeinander folgen, wir sie dennoch ineinander vernehmen, und daß sie als Ganzes mit einem Lebewesen vergleichbar sind, dessen Teile, wenn auch unterschieden, sich trotzdem gerade durch ihre Solidarität gegenseitig durchdringen?" (Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Jena 1911, S. 78 f.)

Das scheint mir eine ebenso überzeugende wie entscheidende Einsicht Tatsächlich: Wie erfassen wir denn eine Melodie? Immer nur so, daß sie zum Teil physikalisch bereits vergangen, dem erlebenden Bewußtsein jedoch noch Gegenwart ist! Anders könnten wir nicht einmal "Hänschen

klein" trällern. Die Gegenwart ist eben nicht, wie mancher mathematisch verengte Sinn meint, bloß die unausgedehnte Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit. Wäre sie das, dann könnten wir keine Musik erleben. Damit eine Folge von Tönen als Melodie, als zusammenhängende Einheit erfahren werden kann, muß ihr ganzes Beziehungsgefüge zugleich und miteinander bewußt sein.

Bergson sagt, die Melodie sei "als Ganzes mit einem Lebewesen vergleichbar". Dieses lebendige Modell sollten wir, statt der toten Perlenkette, unserer Zeitauffassung zugrundelegen. Äußerlich gesehen, befinden mein rechter Daumen und meine Nasenspitze sich weit auseinander, als bewußte Wirklichkeiten meiner selbst leben beide jedoch ineinander. Zwar kann ich mich jeweils nur auf ein Glied intensiv konzentrieren, trotzdem sind die anderen mir dabei nicht verloren. Deutlicher noch wird der Vergleichspunkt mit der Zeit, sobald wir als Lebewesen eine wachsende Pflanze wählen. Wirklich, lebendig ist bei ihr nicht allein die Triebspitze, auf die ihre Lebenskraft sich im Augenblick konzentriert, sondern die gesamte Pflanze mit all ihren Teilen, auch den früher gewachsenen.

Meine aktuelle Gegenwart entspricht der Triebspitze. Hier entscheidet sich, in welche Richtung ich mich weiter entwickle, hier ist meine Aufmerksamkeit gesammelt. Doch auch die Vergangenheit ist wirklich, wie der schon gewachsene Pflanzenleib. Nur kann ich auf das Gewesene nicht wie auf eine Aktualität achten, muß vielmehr - das ist das Gesetz der Werdewesen - mit meinem Gegenwartsbewußtsein stets an der Front des Werdens sein.

Ewig: nicht zeitlos sondern allzeitig

Zu welchem Begriff der Ewigkeit kommen wir, wenn wir statt des Auseinander der physikalischen Zeit das Ineinander der lebendigen Dauer als Wesen der Zeit erkennen? Jetzt ist eine Überraschung fällig. Wir kommen zu einer Ewigkeits-Definition, die seit fast anderthalb Jahrtausenden in hohem Ansehen steht, die jedoch seit dem Einbruch des Aristotelismus ins mittelalterliche Denken nicht mehr in ihrer eigenen Kraft verstanden worden ist. Kurz vor seiner Hinrichtung (im Jahr 524) schreibt Boethius (Trost der Philosophie V,6): "Ewigkeit ist also der ganze und vollkommene Zugleich-Besitz des endlosen Lebens."

Wenige Seiten zuvor stellt Boethius sich einen runden Körper vor und vergleicht das Sehen mit dem Fühlen: Ich sehe das Ganze zugleich (totum simul), beim Fühlen aber erfasse ich die Rundung durch eine Bewegung rund um die Teile. Offenbar entspricht das Fühlen unserem endlichen, das Sehen aber Gottes ewigem Erleben derselben Welt, unseres zeitlichen Kosmos. Das ewige Leben ist also nicht in solchem Sinn als zeitlos aufzufassen, als schlösse es den Weltlauf von sich aus. Nicht zeitlose, die Welt draußen lassende In-Sich-Fülle ist die Ewigkeit (so dachte Aristoteles), vielmehr die in sich gesammelte Dauer, welche Anfang und Ende sämtlicher Welten sowie alles, was sich in ihnen ereignet, zur einzigen unvergänglichen Gegenwart zusammenhält.

Der nordamerikanische Prozeßtheologe Lewis Ford urteilt hart: "Die einbeziehende Natur der Einfachheit laut Boethius wurde von Thomas von Aquin fallen gelassen - mit katastrophalen Folgen ... Für Thomas ist die Ewigkeit insofern endlos, als sie zeitlos ist, nicht weil sie immerwährend ist." Thomas war noch ganz in einer biblisch-heilsgeschichtlich denkenden Tradition aufgewachsen; deren Synthese mit dem aufkommenden Aristotelismus hat er als sein Lebenswerk gesehen und persönlich gewiß an beiden Seiten der Wahrheit festgehalten. Nicht seine persönliche Synthese aber hat er an die kommenden Jahrhunderte weitergereicht, sondern (in unserer Frage) nur deren aristotelischen Bestandteil, jene punkthaft reine Ewigkeit, welche unsere Zeiten draußen läßt; denn "es gibt Dinge, die man besser nicht sieht als sieht" (Aristoteles). Zum Glück stammt der Glaube der Christen ans Ewige Leben aus göttlicher Kraft, deshalb hat die herrschende Theologie ihn auch dadurch nicht völlig abtöten können, daß sie eine Begrifflichkeit verwendet, in der unser ewiges Leben im Grunde undenkbar ist.

Nach solch prinzipiellen Erwägungen dürfen wir es uns etwas leichter machen. Abstrakte Begriffe sind kein Selbstzweck, sollen vielmehr lebhafte Vorstellungen aufrufen und sinnvoll verknüpfen. Die überlieferte Bildersprache tut es nicht mehr. Wie bei Tier und Computer, gilt auch für die menschliche Informationsstruktur (= "Seele"), daß sie auf ihre materielle Basis angewiesen ist und bei deren Untergang mit vergeht. Die Vorstellung von Leichen, die sich aus ihren Gräbern erheben, macht uns eher schaudern als glauben; wo früher der Himmel vermutet wurde, gähnt jetzt der Weltraum. Was bisher Wer, Wo und Wann des ewigen Lebens war: Seele, Himmel und Endzeit, all das ist für das zeitgenössische Empfinden irdisch und vergänglich.

Ewiges Ganzes aus Zeitscheiben

Natürlich werden Christen weiterhin von "Auferstehen" und "in den Himmel kommen" sprechen; auch nach Galilei sagt man ja zu Recht "Sonnenuntergang". Wollen wir Zeitgenossen sein - und das ist uns aufgetragen - wird der vorstellbare Sinn solcher Wörter jedoch ein anderer sein müssen als vor dem Weltbildwandel. Wie kann er aussehen? Den dargestellten "inklusiven Ewigkeitsbegriff" verbildlichend, schlage ich das folgende Modell vor. Dabei wird die räumliche Weit um eine Dimension, zur bloßen Fläche verkürzt, die verbleibende Dimension nutzen wir zur Darstellung der Zeit.

Man stelle sich eine Brotschneidemaschine vor, ihr rundes Messer bedeutet das scharfe Jetzt. Mit ihr will ich ein Brot in dünne Scheiben schneiden. Links halte ich das Brot, rechts ergibt sich zuerst ein kleiner Kanten, dann immer größere Scheiben, bis sie zuletzt wieder kleiner werden und nach dem letzten winzigen Kanten die Aufgabe erledigt ist - "und es kommt nichts nachher". Nach dem letzten Stück kann für dieses Brot keines mehr kommen, seine Zeit - denn die Längsachse des Brotes bedeutet die Lebenszeit eines Individuums - ist um. Folgt daraus, das Brot sei im Nichts versunken? Keineswegs. Nur eine sehr törichte Hausfrau stellt neben die Brotmaschine den Müllkübel. Der Abfolge jener Schnitten entspricht der Lebenslauf eines Menschen. Klein fängt er an, nimmt erst zu und dann wieder ab, bis es mit ihm vorbei ist - und es kommt nichts nachher. Recht hat Brecht, auch hier ist damit aber über die Frage Müll oder Mahl nichts entschieden. Wir Christen freuen uns auf das ewige Fest. - In dieser simpelsten Form kann schon ein Kind das Gleichnis verstehen: jeder deiner Tage ist eine Schnitte, schau zu, daß du ein gutes Brot bist, ohne Giftkörner, ohne Löcher oder eingebackene Steine.

Doch weist der Vergleich noch Mängel auf. Zum einen ist das ganze Brot schon vor der Berührung mit dem Messer fertig; in Wirklichkeit ist eine Lebensgestalt nicht vorgeformt, sondern entscheidet sich immer erst je jetzt. Zum andern sind die Schnitten voneinander getrennte Stücke, nicht ein zusammengehöriges Lebewesen. Und vor allem hat ein Brot kein Selbstbewußtsein.

Deshalb müssen wir das Modell genauer ausgestalten. Aus dem Brotmesser wird eine unendlich dünne Mattscheibe, die elektrische Signale in sichtbare umwandelt. Statt Brot befindet sich links von ihr ein noch formloses Chaos aus lauter Möglichkeiten, die zur Verwirklichung drängen. Verwirklichen können sie sich so, daß sie auf der Mattscheibe miteinander einen selbstbewußten und sich schöpferisch auf bestimmte Weise strukturierenden Kreis bilden, und zwar muß durch die Abfolge solcher Kreise eine Kugel entstehen (ähnlich als zerschnitte man mit der Schneidemaschine einen Apfel). Optisch wahrnehmbar ist also nur der jeweilige Kreis auf der Mattscheibe; unsichtbar, aber elektrisch wirklich ist, rechts von ihr, der ganze fertige Kugelteil, während das Chaos links von ihr ständig neue Möglichkeiten zur Aktualisierung "schiebt".

Was geschieht auf der Scheibe, während die Kugel wächst? Zuerst erblickt man einen Punkt, der wächst zu einem kleinen Kreis, bis ein größter erreicht ist, dann nimmt er wieder ab und ist am Ende verschwunden. Scheinbar ist dieser Kreis stets derselbe, mit sich identisch, obwohl seine innere Struktur sich dauernd verändert. Der Kreis scheint, wie gesagt, erst zu wachsen und dann abzunehmen. Die tiefere Wahrheit ist jedoch: Die Kugel wächst immer, auch während der Negativ-Phase des Kreises. Seine tiefe Kugelwahrheit ist dem Kreis jedoch nicht unmittelbar bewußt, sie kann er höchstens glauben. Denn dies ist das Gesetz seines Werdens: Solange er wird, ist seine Selbst- und Weltsicht auf das konkrete Jetzt der eben gerade werdenden Fläche beschränkt; an das schon Gewesene rechts von ihm kann er sich nur wie an etwas Vergangenes, nicht mehr Wirkliches erinnern, obwohl es doch - zwar nicht optisch, aber elektrisch - durchaus noch wirklich ist. Da er seine Kugelgestalt nie erlebt, wird der Kreis versucht sein, sich bloß für ein vergängliches Flachwesen zu halten.

Wenn er an sein späteres Schrumpfen denkt oder es schließlich erleben muß, wird er trauern und vor dem endgültigen Verschwinden sich ängstigen. Wenn dann gewisse Kreise ihm versichern, es sei nach dem Verschwinden doch nicht mit ihm vorbei, sondern irgendwo anders auf der Mattscheibe werde er ein höheres und schöneres Kreisdasein führen können, dann wird er zwar zunächst geneigt sein, die tröstliche Botschaft zu glauben; in seinen ehrlichen Momenten wird er sie aber unter Illusionsverdacht stellen - wir wissen, mit Recht. Denn ein Kreis, der die Scheibe verlassen hat, kehrt nie auf sie zurück. Es kommt nichts nachher.

Allerdings sind wir Christen dank Ostern überzeugt, daß etwas anderes geschieht. Sobald eine Kugel per-fekt, d.h. "durch-gemacht" ist, sobald sie sich am Ende des Werdens von der Scheibe löst, gibt es keinen Grund mehr, ihr Selbstbewußtsein ausschließlich auf den jeweiligen Werdekreis zu konzentrieren. Im selben Augenblick, da scheinbar ein winziger Seinspunkt aus der Wirklichkeit ins Nichts scheidet, verläßt in Wahrheit eine fertige Kugel die Enge der Werdezeit. Ähnlich wie ein Maler erst in höchster Konzentration Tupfer neben Tupfer auf die Leinwand setzt und am Ende mit einem Blick das Ganze überblickt, so erfüllt das schöpferische Selbstbewußtsein der vollendeten Kugel DANN plötzlich ihre gesamte Lebensgestalt; alle gewordenen Kreise werden vom ewigen Licht zum Leuchten gebracht und zwar so total, daß ihre Schönheiten Himmel und ihre Finsternisse Hölle sind - und bleiben. Denn wie der Baum fällt, so bleibt er liegen; als welche eine Kugel sich aus der Zeit löst, so besteht sie in der Ewigkeit.

[Zusatz 2001: Lessing (von K-J Kuschel S. 132 zitiert) ist überzeugt, "daß der beste Mensch noch viel Böses hat, und daß der schlimmste nicht ohne alles Gute ist ... So müssen die Folgen des Bösen jenem auch in den Himmel nachziehen, und die Folgen des Guten diesen auch bis in die Hölle begleiten; ein jeder muß seine Hölle noch im Himmel, und seinen Himmel noch in der Hölle finden." (G VII, 193) Darf die Hoffnung des Christen sich an der Gewißheit eines Chorsängers aufrichten, daß seine Patzer beim Konzert zwar nicht weg sind, aber vor dem Glanz des Ganzen oder doch der Verzeihung aller verschwinden? Wird damit DANN sogar Iwan Karamassow einverstanden sein?]

"Ich bin bei euch alle Tage"

Ich schlage vor, das eschatologische Ereignis, also den Umschlag des werdenden Flächenbewußtseins in das erfüllte Bei-Sich-Sein der vollen Raumgestalt, als "Verewigung" zu bezeichnen. Das klingt freilich zunächst nur salbungsvoll und nichtssagend. Dennoch scheint dieser Ausdruck am geeignetsten, das Kugel-Modell begrifflich zu umfassen. An der Formel selbst liegt nichts; eine minder verdorbene wäre willkommen. Sind aber nicht schon andere abgesunkene Wörter neu aufgerichtet worden?

Den entscheidenden Vorteil dieses Verständnisses gegenüber der Rede von Auferstehung und Himmelfahrt sehe ich darin, daß es zwar einen Mythos enthält (anders können wir Menschen über das Letzte nicht sprechen, nicht Ent- sondern Ummythologisierung ist die Aufgabe), dennoch aber nicht im schlechten Sinn mythologisch ist. So heißt ein Denkbild dann, wenn es innerhalb der unserem Wissen zugänglichen Dimensionen Ereignisse behauptet, die anderseits der Wissenschaft entzogen sein sollen. Im guten Sinn mythisch dagegen sind Vorstellungen, die nicht im Bereich der uns zugänglichen Dimensionen liegen, aber irgendwie einsichtig mit ihnen verknüpft sind.

Beiden Bedingungen genügt das vorgeschlagene Modell. Darin hat die Wissenschaft es mit den zweidimensionalen Figuren auf der Mattscheibe zu tun. Alles, was sich dort abspielt, gehört in ihre Kompetenz. Da die Verewigung nicht ein Vorgang in der Zeit ist, sondern mit der Zeit als ganzer geschieht, deshalb liegt die Frage nach ihr ebenso wie die Überzeugung von ihr völlig außerhalb des Feldes der Wissenschaft, so daß es zu keinem Konflikt kommen kann. Glaube an Jesu Verewigung und Hoffnung auf die eigene verträgt sich mit strengster Rationalität.

Das Stichwort Ostern läßt uns fragen: Was ist die Beziehung einer vollendeten Kugel zur weiterbestehenden endlichen Gegenwart? Die Erscheinungsberichte deuten an, daß eine verewigte Person sehr wohl auf die weiterlaufende Geschichte einwirken kann. Wir mögen es uns so vorstellen, daß die losgelöste Kugel gleichsam zurückschwebt, die Jetztfläche mit einem ihrer Kreise schneidet und bestimmte Faktoren, die dort sowieso wirksam sind, auf besondere Weise "bündelt", so daß es zu - sonst ganz unwahrscheinlichen - Effekten kommt. "Brannte nicht unser Herz in uns?" Was später Saulus vor Damaskus erlebte, was mit Franz von Assisi geschah, als er das Evangelium aufschlug und den Satz vom Verkaufen aller Habe las, diese und viele ähnliche Ereignisse der Heilsgeschichte bis in unsere Tage scheinen stets so konstruiert, daß zwar dem Betroffenen der Offenbarungscharakter klar ist, gleichwohl bleibt aber selbst bei den massivsten Wundern objektiv so viel Raum für Zweifel und Ungewißheit, daß es nicht um Wissen, sondern um Glauben geht: "Thomas, weil du gesehen hast, hast du geglaubt."

Entsprechend dürfen wir jegliches Lesen eines alten Textes, Betrachten eines Bildes oder Hören von Musik als aktuelle Begegnung mit dem menschlichen Schöpfer jenes Werkes uns deuten. Sooft ein noch zeitlicher "Kreis" X sich mit etwas scheinbar Vergangenem beschäftigt, trifft er nicht bloß auf die tote Spur des Gewesenen, sondern dessen "Lebenskugel" ist geheimnisvoll selber da. Natürlich läßt sich so etwas nicht beweisen. Rührt uns aber nicht zuweilen, wenn wir ein Gedicht lesen oder eine Harmonie hören, irgendwie mehr als nur etwas an? Nichts liegt näher, als daß ein Vollendeter den ferneren Weg seiner Schöpfungen begleitet und die Nachgeborenen persönlich in sie einführt.

1985


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