Jürgen Kuhlmann

Die bunte Friedenslampe

Ein interreligiöses Meditationssymbol  und Lehrmittel

Für Johannes Lähnemann zum 60. Geburtstag

1) Ein anderer Gott?

Ungläubig erstaunt, ja geschockt schaut mein Freund mich an. Kann der Pfarrer da vorn das wirklich gesagt haben? Wir sitzen am 20. November 1991 in der Egidienkirche bei einer interreligiösen Gebetsfeier. Drei Jahre zuvor hatte Johannes Lähnemann die Nürnberger Gruppe der »Weltkonferenz der Religionen für den Frieden« gegründet; beim vorangegangenen Mainzer Treffen der deutschen Sektion hatte ich ihn im September 1988 kennengelernt und bin seither dabei [so auch im August 2000 neben Imam Ibrahimovic bei Familie Wielsch] . Mit Ata Enayati, einem Bahai aus der Nachbarschaft, hatte ich mich angefreundet; so sitzen wir jetzt am Bußtag in der Kirche und wollen unseren Ohren nicht trauen. Eben sprach der evangelische Dekan Friedrich (mittlerweile bayerischer Landesbischof) in Bezug auf Juden, Christen und Muslime vom »Glauben an einen anderen Gott«.

»Wie kann er das sagen? Wir glauben doch an denselben Gott!« flüstert mein Bahai-Freund mir zu. Ich kann nur nicken, auch mein ökumenischer Sinn ist zunächst empört. Doch werde ich aus dieser ersten Reaktion aus zwei Gründen später aufgestört. Erstens hat Dekan Friedrich jahrelang im Heiligen Land gelebt, kennt die Härte der Religionskonflikte dort aus unmittelbarer Erfahrung und weiß vermutlich, was er sagt. Zweitens hat natürlich auch er Anspruch auf meine ökumenische Friedlichkeit; vom heiligen Ignatius habe ich gelernt (Exerzitienbüchlein, Nr. 22), »daß jeder gute Christ bereitwilliger sein muß, die Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verurteilen«. Der Gründer der Jesuiten wußte Bescheid aus seiner Zeit im Verlies der Inquisition. Läßt auch jener schockierende Satz sich retten? Glauben Juden und Christen, Muslime und Bahais - obschon wir denselben Gott anbeten - dennoch in irgendeinem wahren Sinn »an einen anderen Gott«?

2) Derselbe Gott, nicht der gleiche

Die Lösung, die mir damals den Frieden wiedergab, teilte ich Dekan Friedrich in einem kurzen Brief mit und veröffentlichte sie 1996 im Buch »Ehrfurcht vor fremder Wahrheit«  [S. 35, Anm. 27]. Für die notwendige »Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive« sei sie hier dargestellt.

In einer Klasse sitzen nebeneinander jüdisch, christlich, muslimisch und humanistisch-religionslos erzogene Kinder. Die Lehrerin will ihnen klar machen: Wir glauben alle an denselben SINN des Lebens, aber überhaupt nicht den gleichen, vielmehr leben wir in und von gegensätzlichen, ja zueinander notwendig widersprüchlichen Glaubensweisen. Keine leichte Aufgabe, an der sich weltweit viele Glaubensverkünder abmühen - zu wenige allerdings, auf das Ziel eines kraftvollen Religionsfriedens geschaut. Ihnen kann, so hoffe ich, der folgende Vorschlag ein wenig helfen, so daß die ihnen anvertrauten jungen Menschen ahnen: Wahrer Glaube muß bestimmt, verbindlich sein - und zugleich die anders Glaubenden samt ihrer Wahrheit achten, weil der Große Frieden sie wie uns umfaßt.

3) Die bunte Friedenslampe

»Nichts ist in der Vernunft, was nicht zuvor sinnlich gewesen wäre«, heißt ein alter Spruch. Als anschauliches Symbol der ökumenischen Spannungen empfiehlt sich ein schlichtes Kunstwerk: die bunte Friedenslampe. Es handelt sich um eine oben offene Glaskugel mit einer Glühbirne in der Mitte. Die Kugel ist mit allerlei bunten Kreisflächen verschiedener Größe bemalt, so daß man von den verschiedensten Seiten aus das je anders gefärbte Zentrallicht als leuchtende Mitte eines bestimmten Kreises erblickt. [Ein Riesenexemplar solcher Lampe (aus Draht und Buntpapier, über ein Meter Durchmesser, 500 Watt!) hing im Herbst 1973 in der Eingangshalle des Nürnberger KOMM; für ein Foto wäre ich dankbar.]

Im verdunkelten Raum leuchtet allein die Friedenslampe. Zwei Kinder stellen sich so hin, daß Ali einen grünen, Sabine einen roten Kreis strahlen sieht, dann fragt die Lehrerin: Welche Farbe hat das Licht? Nach den Antworten tauschen die Kinder ihre Plätze und sehen auch das Licht anders. [In lustige Extreme getrieben wird diese Szene im 7. Kapitel meines Kinderbuches für Erwachsene »Jocki und der Innenseher«, da geht es um eine Unterwasserfriedenskugel in der Südsee.]

Dann fragt die Lehrerin: Wer hat recht? Und wie ist es wirklich? Das sich anschließende Gespräch dürfte auf deutsch einfacher sein als in anderen Sprachen, sehen wir doch schnell ein, daß beide Kinder zwar dieselbe Glühbirne leuchten sehen, aber durchaus nicht das gleiche Licht schauen! Ähnlich glauben wir an denselben, keineswegs aber an den gleichen Gott. Wer für beide Begriffe nur ein Wort (z.B. "the same") hat, tut sich schwerer. Er sieht diesen Unterschied zwar aufs deutlichste, wie soll er ihn aber sagen? Das sei jedoch seine Sorge.

In eben dieser Verlegenheit sind auch wir Deutschsprachigen beim Gegenbegriff: »anderer«. Wenn es nicht das gleiche Licht ist, so offenbar ein anderes. Wenn ein anderes, also nicht dasselbe. Beide Schlüsse scheinen zu stimmen, und doch ist das Ergebnis falsch; denn das Licht in der Mitte ist dasselbe, egal von wo aus jemand es sieht. Warum kommt es zu solchem Irrtum? Weil das Wort »anderes« zweideutig ist, ungeschieden beides bedeutet: »nicht das gleiche« ebenso wie »nicht dasselbe«. Wer beides vermischt und verwechselt, denkt nicht logisch, sondern falsch. Soviel sieht, angesichts der Friedenslampe, durchaus schon der Alltagsverstand ein, es bedarf dazu keiner dialektisch geschulten Vernunft, erst recht keines tiefen Glaubens.

Von hier aus kann die Lehrerin die Kinder einen Denkschritt weiter nach innen führen, ins Reich ihrer persönlichen Beziehungen: Kennt ihr das nicht auch aus eurer Familie? Daß derselbe Vater nicht für alle Kinder immer der gleiche Vater ist? Muß er zu der frechen großen Tochter nicht manchmal anders sein als zu dem kranken Baby - obwohl er für beide kein anderer ist? Derselbe Vater ist nicht der gleiche. Auch das verstehen die Kinder gut. Von hier aus ist der Überschritt zum Glauben nicht mehr schwer: Wir Juden, Christen, Muslime und Humanisten sind allesamt Kinder desselben Gottes, denen DU freilich nicht allen stets das gleiche Antlitz zuwendest.

Denn Gott will uns bunt. Für diesen Glauben gibt es in jeder der Religionen aus Abrahams Erbe Anknüpfungspunkte. Im Ersten Testament erscheint die Königsbraut am Hochzeitstag »in buntgestickten Kleidern« (Ps 45,15), als Darstellerin der eigentlichen Gottesbraut Zion, zu ihr sagt ihr Freund: »ICH kleidete dich in bunte Gewänder« (Ez/Hes 16,10). Nach christlichem Glauben soll »durch die Kirche kundwerden die vielbunte Weisheit Gottes« (Eph 3,10). Das Wort »polypoikilos« wird meist als »mannigfach« oder »vielfältig« übersetzt; was sind aber Schubladen-Fächer oder Rock-Falten gegen die bunte Pracht eines Blütenkranzes? Weil das Wort in der Antike einmal einen solchen bezeichnet, deshalb halte ich »vielbunt« mindestens für die schönste Übersetzung und insofern auch für die wahrste. Im Koran endlich (30,21) wird Buntheit ausdrücklich ein Gotteszeichen genannt: »Und zu Seinen Zeichen gehört die Schöpfung der Himmel und der Erde und die Verschiedenartigkeit eurer Zungen und eurer Farben. Siehe, hierin sind wahrlich Zeichen für alle Welt.«

Weil Gott uns bunt will, deshalb leuchtet sein SINN-Licht uns nicht gleich sondern so verschieden, daß es in der Praxis allerdings zu schlimmen Konflikten kommen kann:

4) An der Ampel

»Halt! Wo willst du hin? Siehst du nicht die rote Ampel?« - »Spinner! Die ist doch grün. Laß mich los!« - »Bestimmt nicht. Du rennst ins Verderben, das darf ich nicht zulassen. Gleich rasen die Autos los ...«

Eine unmögliche Geschichte? Durchaus nicht. Zwar kaum am Straßenrand, aber in vielen Wohnzimmern und anderswo passiert sie jeden Tag: sooft Menschen mit gegensätzlichen Geistes-Brillen dasselbe an sich weiße Sinnlicht als widersprüchliche Botschaften auffassen - müssen, denn ihrer Brillen sind sie sich nicht bewußt. Mag auch sein, es sind gar keine Brillen (die allein auf der Empfängerseite angesiedelt wären), vielmehr solche Filter, die zur Botschaft gehören. Als im Frühjahr 2001 der Posträuber Ronny Biggs nach England heimkehrte, wurde an den Trick jener Bande erinnert. Um den Zug anzuhalten, galt es ein Signal von Grün auf Rot zu stellen. Hätten sie die Signalanlage elektrisch manipuliert, wäre jedoch Alarm ausgelöst worden. Also deckten sie das grüne Licht mit einem Handschuh ab und speisten das rote aus einer mitgebrachten Batterie.

Nehmen wir diese Story als Mitte zwischen der objektiven Buntheit der geschauten Friedenslampe und der Farbigkeit subjektiver Brillengläser, so steht uns für die Beurteilung inhaltlicher Glaubensgegensätze ein Spektrum auch formaler Modelle zur Verfügung: Wieweit ein Glaubensgegensatz an farbigen Brillen liegt (die abzusetzen man mindestens versuchen kann), wieweit an der Absicht geistiger Instanzen (im Spannungsfeld zwischen Engeln und Teufeln; dabei ist ein dunkler Engel nicht mit einem Teufel zu verwechseln), wieweit schließlich an Gegensätzen (die uns als Widersprüche erscheinen müssen) innerhalb des Geglaubten selbst - auch auf diese Frage gehört die Antwort nicht dekretiert, sondern im Dialog miteinander gesucht.

5) Die leuchtenden Fenster der Kathedrale

Jene Hoffnung auf ein »Neues Pfingsten«, von der Papst Johannes XXIII. beseelt war als er das Konzil einberief: sie sollen Christen heute auch auf die Große Ökumene der Weltreligionen beziehen. Lukas hat sein Pfingstbild mit dem Sprachenwunder der vielen Zungen des einen Feuers bekanntlich als Gottes erlösende Antwort auf das alte Unheil des Babelturms ausgestaltet. Die babylonische Einheit (des einen Mittelpunkts der Koordinatenachsen, von dem aus alle übrigen Punkte sich bestimmen lassen müssen, wird von Gott verworfen, mit dem Chaos des Sprachenwirrwarrs bestraft. Er wird an Pfingsten zur bunten Fülle umgewertet. 1977 war in der Nürnberger Sebalduskirche eine Pfingstfeier unter das Motto »Gott will uns bunt« gestellt; die Unterscheidung zwischen der babylonischen Einheit in der Farbdimension (alle Fenster werden gleich rot oder blau oder sonstwie angemalt) und der jerusalemischen Einheit in der Lichtdimension (im selben Sonnenlicht funkeln die Farben nicht gleich aber gleich schön) war auch schon Thema meiner Pfingstpredigt 1972 in St. Elisabeth.

Das Wunder strahlender Buntheit hat mich schon als Kind begeistert. Ich erinnere mich, wie ich eines sonnigen Tages mit dem vieleckig geschliffenen Glasstöpsel einer Karaffe spielte, und plötzlich tanzte ein bunter Fleck an der Wand. Seither hat der Prisma-Zauber mich nicht mehr losgelassen; anfangs der Siebziger Jahre nannte eine Gruppe junger Christen sich »Prisma«, weil wir uns bemühten, die Buntheit unserer Individualitäten als Farben desselben göttlichen Lichtes zu empfinden. Der befreiende, friedenstiftende Ritus, den wir praktizierten, sei ökumenischen Religionspädagogen zur Umgestaltung und Übernahme empfohlen.

Beide Modelle, die Friedenslampe und der Prismakreis, kommen darin überein, daß zwar der ganze bunte Kreisumfang jemandem bewußt ist, nur eine Farbe aber jeweils als von innen her leuchtend, die übrigen lediglich als Farben. Ziel der geistlichen Übung ist es, die Teilnehmer zwar nicht unmittelbar sehen (das ist unmöglich) aber doch dank dem sichtbaren Gleichnis ahnen, hoffen, ja glauben zu lassen, daß die fremden Geistfarben in und für sich ebenso leuchten, wie sie es von der eigenen erfahren. So wird das ökumenische Doppelziel erreicht: Friedliche Ehrfurcht vor fremder Wahrheit ohne Verlust an Verbindlichkeit der eigenen. Leuchten kann ich nur rot oder grün oder ... - achten soll ich auch alle anderen Farben, weil ich bei der Lampe sehe und im Prismakreis existentiell erfahre, wie sinnvoll und überzeugend die fremde Wahrheit ist, wenn man sie ruhig strahlen läßt statt sie gleich - als wären wir Ampeln - kämpferisch auslöschen zu wollen.

Bisher haben wir die Vielheit als geschöpfliche auf der bunten Kugel-Oberfläche erblickt und sie von der Selbigkeit der ungeschaffenen Lichtquelle in der Mitte unterschieden. Das können schon Grundschulkinder verstehen, wie ich Ende Mai 2001 beim Glaubensgespräch mit einem Erstkommunionkind am Vorabend ihres Festes erfuhr. Die älteste Tochter jenes Paares, zu dessen Hochzeit damals die Etappen-Predigt entstand, wird von der Frage verwirrt, was sie glauben solle: Die Katechetin sagt dies, Freunde das, auf die Kommunion freut sie sich herzlich, ihr geliebter Papi aber ist aus der Kirche ausgetreten. Ich male ihr die Friedenslampe vors innere Auge, sie wählt sich als blauen Kreis, begreift sofort, wieso der orangene gegenüber dazu die Gegenfarbe ist (als Summe der beiden anderen Grundfarben rot und gelb) und daß niemand beide zugleich als leuchtend erblicken kann. Nur darauf kommt es an, daß jemand die eigene Glasfläche schön sauber hält, damit das eine Licht als diese Farbe möglichst hell strahlen kann: das widerspricht überhaupt nicht der Gegenfarbe, als die dasselbe Licht gegenüber leuchtet. Mit großen Augen hört das Kind zu und scheint tief erleichtert. Ob sie sich wirklich so eine Lampe basteln wird?

6) Die Friedenslampe veranschaulicht die drei-einige Liebesspannung

Eher ins Gespräch Erwachsener gehört der folgende Gedankengang, der die Pluralität menschlicher Grundüberzeugungen als Relationalität auffaßt: als irdische Auswirkung jener innergöttlichen Beziehungen, die wir Christen verehren, sooft wir unseren Glauben an die allerheiligste Dreifaltigkeit bekennen. Denn auf tiefere Weise hilft unsere Lampe die Vereinbarkeit gegensätzlicher Glaubensweisen ahnen, sobald wir die Vielfalt nicht mehr horizontal (in diesem Fall auf der Oberfläche) sondern vertikal (hier zwischen außen und innen) wahrnehmen: Die Spannung Licht / Farbe läßt sich auf grundverschiedene Weisen erleben, und jede stimmt!

Einer der bunten Kreise (sagen wir: dieser grüne da) bedeute mich samt meiner Welt, die anderen seien Symbole meiner Mitmenschen. Ich stelle mich so hin, daß mir die Lichtquelle inmitten des grünen Kreises erstrahlt. Da gibt es nun drei grundverschiedene Weisen, in je zwei Varianten, wie ich die eigene Helle deuten kann.

a) ICH

aa) Die Helle außen: das Ich . Der grüne Kreis, der ich bin, achtet auf sich selbst und erlebt seine eigene Helle einfach als wirklich, ohne nach Geber und Ursprung zu fragen. Es gibt mich, es gibt alles, es gibt Sinn; diesem es nachzuforschen ist sinnlos, denn jedes Resultat der Forschung müßte ja wieder etwas sein, was es gibt. Das geheimnisvoll gebende »Es« selbst gibt es logischerweise nicht, anscheinend ist es nur grammatikalisch begründet wie bei »es regnet, es schneit«. Nein: Wirklich bin ich, sind wir Menschen, Tiere, Pflanzen und Dinge - hier auf Terra oder sonst irgendwo im Weltall, in welcher Gestalt auch immer. Da mein grünes Licht von keinem der andersfarbigen Nachbarn her zu erklären ist, darf ich annehmen, daß ich aus mir selber leuchte; dasselbe glaube ich auch von allem anderen, was sinnvoll ist.

Kein Zweifel: Im Licht der Friedenslampe zeigt diese Grundeinstellung der Neuzeit sich als eine Wahrheit. Das Ganze lügt nicht, wenn es vielen so erscheint, als leuchtende, faszinierende Oberfläche. David Hume findet dieselbe Struktur auch in seinem Menschenbild (nicht wissend, daß er damit an uralte buddhistische Thesen anknüpft):

»Es müssen unsere vielen einzelnen Wahrnehmungen sein, die den Geist zusammensetzen. Ich sage ‚den Geist zusammensetzen’, nicht ’zu ihm gehören’. Der Geist ist keine Substanz, in der die Wahrnehmungen drinstecken ... Wir wissen nichts außer einzelne Qualitäten und Wahrnehmungen. Wie unsere Idee eines Körpers, eines Pfirsichs zum Beispiel, nur Einzelnes meint: Geschmack, Farbe, Form, Größe, Festigkeit usw ... Wenn irgend jemand nach ernster und vorurteilsloser Überlegung denkt, daß er einen unterschiedlichen Begriff von sich selbst hat, so muß ich bekennen, daß ich mit ihm nicht länger debattieren kann.« [David Hume, Abstract, v. 1740, sowie Treatise, Oxford 1888,252]

Das ist ehrlich und irrtumslos formuliert; es gibt Etappen, da ist ein Mensch von seiner aktuellen Perspektive, die er eben erst erkundet, dermaßen erfüllt, daß es ihm unmöglich ist, sie zwischendurch von anderswoher zu relativieren. Wer gerade versunken am eigenen Weltbild malt, kann mit keinem fremden Maler über die rechte Sicht debattieren. Wir hingegen sollten mit Hume so debattieren können, daß wir seinen Standpunkt zwar als eine Wahrheit anerkennen, als eine berechtigte Weise, die Wahrheit zu sehen, nicht aber als die einzige Weise.

Dasselbe gilt für die Anwendung der oberflächigen (nicht: oberflächlichen!) Ichsicht auf das Ganze überhaupt, wie wir sie bei jenen Philosophen finden, die als Atheisten gelten, von Epikur über Feuerbach bis Sartre. Wer etwa den folgenden Abschnitt Feuerbachs im milden Licht der Friedenslampe in sich aufnimmt, dürfte weder an dessen Wahrheit zweifeln noch daran, daß die Wahrheit auch noch ganz anders ist:

»Der Mensch steht mit seinem Ich oder Bewußtsein an dem Rande eines unergründlichen Abgrunds, der aber nichts Anderes ist, als sein eignes bewußtloses Wesen, das ihm wie ein fremdes Wesen vorkommt. Das Gefühl, das den Menschen an diesem Abgrund ergreift, das in die Worte der Be- und Verwunderung ausbricht: was bin ich? woher? wozu? ist das religiöse Gefühl, das Gefühl, daß ich Nichts bin ohne ein Nichtich, welches zwar von mir unterschieden, aber doch mit mir innigst verbunden, ein anderes und doch mein eigenes Wesen ist.« [Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke, Stuttgart 1903 ff., VIII, 392]

Auch Jesus hat als selbstbewußtes Ich gelebt. Weil er mit Gott wesensgleich ist, muß er allen Forderungen, die von anmaßenden Institutionen im Namen Gottes zu Unrecht an die Menschen gestellt werden, in unbefangener Selbstgewißheit entgegentreten, »den Alten ist gesagt worden, ich aber sage euch.«

bb) Die reine Mitte: das Selbst. Ohne das leuchtende, in sich farblose Mittellicht wäre auch mein grüner Kreis nicht hell. Im nächtlichen Zimmer genügt ein Griff zum Schalter, und alles ist finster. Auf strahlt das reine Licht, und auch mein Kreis ist hell. Nichts anderes ist mein farbiges Leuchten als die besondere Weise der Einschränkung, die das reine Licht in mir annimmt. Sofern ich hell bin und nicht finster, bin ich (das grüne Leuchten) keine andere Wirklichkeit als das Licht selbst, sondern seine farbige Erscheinung. Keine Fremdheit gibt es zwischen heller Farbe und Ursprungslicht, sie ist eine der Weisen, wie ES wirklich ist; heimlich in ihm enthalten, wird sie außen offenbar. Ähnlich ist das unendlich einfache göttliche Wesen der Ursprung jeder bestimmten Sinnhaftigkeit.

Diesen Ursprung ohne Ursprung erlebt der Selbst-Mystiker, in Indien und anderswo. Der Christ hat keinen Grund, gegen Meister Eckhart mißtrauisch zu sein; laut dem Johannesevangelium findet diese Bewußtseinsweise sich auch in Christus. »Ehe Abraham ward, bin ICH« (Joh 8,58), das klingt wie extremste Advaita-Identitätsmystik. Jemand hat vorgeschlagen, das betonte »ego eimi« bei Johannes als »ich bin ICH« zu übersetzen; es handelt sich hier um die reine SELBST-Aussage des göttlichen Subjektes in Person. Christus besteht darauf: »Wer mich sieht, sieht den Vater« (Joh 14,9).

b) DU

Jetzt erlebt der grüne Kreis sein Licht als abhängig von der leuchtenden Mitte. Nicht ihre Seinsweise bin ich insofern, sondern deutlich unterschieden: Licht vom Licht. DIR, dem mir anderen, verdanke ich mich selbst. Keine Fremdheit stört; es ist ja mein Eigenstes, was Du mir gibst. Wohl aber bekenne ich dankbar meine totale Bezogenheit auf Dich: ohne Dich wäre ich nichts.

Wer seine Beziehung totaler Abhängigkeit von Gott herzlich bejaht, lebt in der religiösen Bewußtseinsweise. Auch der Christ wird sich ihr immer wieder überlassen, zuletzt wenn er ungestützt im Tod versinkt, sich selbst und alles verliert, während einzig sein Vertrauen auf DICH den ganz Anderen sich noch in die Leere hinauswirft. »Nicht mein Wille geschehe sondern der Deine« Ohne zu begreifen (»mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«), liefert Jesus sich dem Anspruch des Vaters willig aus, bis zum Tod am Kreuz. Seine Lehre ist nicht seine Lehre, sondern dessen, der ihn gesandt hat (Joh 7,16), dessen Willen zu tun ist Jesu Speise (Joh 4,34).

Dem eben bedachten Gegensatz zwischen kosmischem Ich und mystischem Selbst entspricht bei der DU-Weise der zwischen [aa)] konfessionell-bestimmter Religion und [bb)] frommer Liebesmystik. Während jene das Du-Verhältnis von der bunten Oberfläche aus lebt, wo seine besondere Farbe sich gegen diejenigen anders Gläubiger absetzen muß, vollzieht Liebesmystik sich im farblos-weißen Zentrum selbst, wohl als Du-Beziehung, jetzt aber nicht als Partizipation, bestimmte Teil-Habe an Jesu Gottesverhältnis, vielmehr als Mitvollzug seiner rein innergöttlichen Du-Beziehung zum Vater und insofern nicht mehr unterschieden von demselben (und in der Mitte auch unfaßbar gleichen) Mitvollzug solcher, die ihr ewiges DU zwar anders sagen aber ebenso meinen wie mystisch fromme Christen.

c) EINS

Wieder bin ich der grüne Kreis und achte auf meine Helle. Nicht als Weise meiner, der zentralen Lichtquelle, erlebe ich mich aber jetzt, auch nicht als abhängig von Dir. Selbigkeit wie Unterschied treten zurück vor der Erfahrung unserer schwingenden Einheit, des Lichtes. Zwischen der Mitte und mir, uns beide umfangend, strömt und strahlt die Wirklichkeit; in ihrem Schoß bin ich geborgen. Ähnlich ist mein Leben die dynamische Spannungseinheit zwischen mir als Wer-Subjekt und meinen zahllosen - inneren wie äußeren - Was-Objekten, ähnlich ist der Heilige Geist, das Leben in Gott, die ewige Aufhebung der unendlichen Spannung zwischen subjektiv-einfachem Ursprung und objektiv-buntem SINN-Leib des ganzen Christus.

Auch bei der Eins-Weise, unserer embryonalen Geborgenheit in der All-Einen, gibt es den Unterschied von kosmisch und mystisch. aa) Ihre kosmische Weise ist das rauschhafte Grundgefühl, das viele Künstler belebt und in südlichen Festen schwingt; in unseren Breiten erlebt man es zuweilen beim Faschingstanz ... bb) Die mystische Eins-Weise hingegen ist nüchtern, auf sie richtet sich die Aufmerksamkeit des Zen-Jüngers und anderer strenger Buddhisten. Wer von ihr gekostet hat, geht zwischen esoterischem Gebabbel und anti-esoterischer Kritik ruhig seinen Weg der Meditation. Buddhismus gilt als »Religion ohne Gott«; der scheinbar unsinnige Begriff wird verständlich, sobald wir uns klarmachen: ein Ungeborenes kennt seine Mutter nicht als Person, nimmt SIE nicht als Gegenüber wahr. Wohl als Alles. Alles ist Eines und ich bin dabei. Alles ist Licht und Leben. Kein Zufall, daß die all-bergende Leerheit in der buddhistischen Tradition gern weiblich dargestellt wird.

Schluß

Welches ist, schließlich, die besondere Wahrheit des Christentums? Keine andere als Jesus Christus selbst, d.h. die Menschlichkeit des absoluten Sinnes in allen drei Dimensionen. Christus hat zu Gott gebetet, auf radikal unentfremdete Weise "ich" gesagt und "im Heiligen Geist gejubelt" (Lk 10,21). Der ewig gültige SINN des Ganzen ist einer von uns geworden; ein Mensch aus Fleisch und Blut hat in die Geschichte der Zweifel das endgültige Ja Gottes gebracht. Kein Wunder, daß in der christlichen Kirche stets Bekenner von Du-, Ich- und Eins-Wahrheit miteinander zurechtkommen müssen. Das heutige Spannungsfeld traditionell frommer, emanzipatorischer und New-Age-begeisterter Kreise
[Farbsymbolik] ist mithin keine Modeerscheinung, sondern folgt notwendig aus dem innergöttlichen, in Jesus vermenschlichten dreieinigen Sinngefüge.

Zurück zu unserem Jubilar. Neben der Unsumme von Anregungen, die ich von den Freunden innerhalb der von ihm gegründeten Nürnberger WCRP-Gruppe empfangen durfte - in diesen zwölf Jahren hat sich vor allem die ökumenische Idee »Etappen der Großen Liebesgeschichte« langsam ausgestaltet, das im Juni 2001 erscheinende Buch mit diesem Titel ist deshalb Johannes Lähnemann gewidmet - verdanke ich ihm vor allem zweierlei: Zum einen seine befreiende Deutung jenes Satzes aus dem Johannes-Evangelium (14,6), der vielen so anstößig klingt: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; keiner kommt zum Vater außer durch mich«. Diese Aussage ist zum Triumph-Motto christlicher Fundamentalisten geworden: Da seht ihr es, nur wir haben recht!

So sei der Satz aber nicht gemeint, erläutert Lähnemann. Nicht das ausdrückliche Wissen um Jesu irdische Identität ist für jeden Menschen heilsbedeutsam, vielmehr das Gehen seines Weges der radikalen Menschlichkeit, das »Tun der Wahrheit« (Joh 3,21!), die Jesus ist, das liebende Leben des Lebens, wie er es uns vorlebt. Daß nur so ein Mensch zum Ziel seines Daseins findet: dagegen hat kein Vernünftiger etwas, in welcher Farbe auch immer der SINN ihm leuchte.

Zum andern bewundere ich an Johannes Lähnemann seine Freundlichkeit für alle, sogar zu solchen, denen sein ökumenisches Über-Mauern-Springen unheimlich ist. Auch sie umwirbt er aufs Herzlichste und beteuert immer wieder, wie sehr ihm Synkretismus, Glaubensmischerei verhaßt sei. Und es stimmt ja: Gott, Mensch geworden, kennt unsere Grenzen, überfordert uns nicht. Von Natur aus ist ein Lebewesen auf seine individuelle Perspektive festgelegt, kann fremde Blickwinkel nicht unmittelbar empfinden ("Ich versichere Ihnen, daß ich nichts spüren werde," sagte mir einst ein Dentist). So auch bei der Sinn-Wahrheit. Trotz ökumenischer Aufgeschlossenheit bleibt jeder Mensch naiv gewiß: "eigentlich und im Grunde" ist doch mein Glaube der wahre. Solche Gewißheit ist gut, nämlich das notwendige Selbstgefühl jenes Sinn-Organs, dem dieser Mensch tatsächlich als Zelle angehört. Es ist wahr. Gerade so, wie hier und jetzt mein Satz stimmen könnte (o tät’er’s!): Welch schöner Frühlingstag! Trotzdem löge mein Freund nicht, wenn er mir widerspräche: Welch grausliche Herbstnacht! Denn wir telefonieren zwischen Bayern und Neuseeland. Christ, erkenne deine Würde - aber die der andern auch!

Juni 2001

Lieber Mitpilger Lähnemann, AD MULTOS ANNOS !

                  Ihr
                  Jürgen Kuhlmann

Kommentare

 

Nachtrag im Juli 2010

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Nach neun Jahren, schwerer Krebsoperation und dritter Hochzeit eines Kindes springt mich aus den »Verborgenen Worten« von Baha'u'llah das elfte arabische an: »O Sohn des Seins! Du bist Meine Lampe, und Mein Leuchten ist in dir. Entnimm daraus dein Licht und suche niemanden als Mich, denn Ich habe dich reich erschaffen und Meine Gunst über dich ergossen.«

Dieses Bahai-Evangelium strahlt mir neue Klarheit ins Herz. Also nicht nur sehen darf ich die Friedenslampe (indem ich die Buntheit der mir begegnenden Glaubensweisen als eine solche glaube), ich darf und soll selbst eine bunte Friedenslampe sein (indem ich dem einen Blick jetzt diese, dann dem andern jene Heilsfarbe zeige).

Erfahren tut dies seit jeher jeder geistlich wache Mensch, der auf seine Mitmenschen dialogisch eingeht; meist wird er dabei der eigenen Buntheit nicht ausdrücklich bewusst, immer nur der Farbe, die jeweils dran ist. Sollte ihn aber einmal Angst überfallen, wenn man ihm Standpunktlosigkeit vorwirft, feigen Relativismus, der mit nichts Ernst mache: dann kann das gottgeschenkte Selbstbewusstsein einer bunten Lampe ihn vor dem Rückfall in monochrome Enge bewahren. Nein: Treu ist nicht, wer um des eignen Lichtes willen alle fremden Farben abdunkelt, sondern wer dasselbe innerste Licht in jeder Farbe wahrnimmt und jeweils so scheinen lässt, dass es seinem Mitmenschen als eben die Farbe leuchtet, die es für dessen Blick, den Umständen entsprechend, annimmt.

In diesem Geist lese ich, an sechsfarbig drei-einig auf SICH bezogenes Heilslicht glaubender Christ, auch das zwölfte »Verborgene Wort« von Baha'u'llah: »O Sohn des Seins! Mit den Händen der Macht erschuf Ich dich, mit den Fingern der Kraft formte Ich dich, und Ich barg in dich das Wesen Meines Lichtes. Sei damit zufrieden und suche nichts anderes, denn Mein Werk ist vollkommen und Mein Gebot bindend. Sei dessen gewiss und zweifle nicht.«