Jürgen Kuhlmann

Das Geheimnis
der Stockspitze

Kommt mein Blick, mein Wort wirklich bei dir an? Solange er Kind war, hat der Zeitgenosse das fest geglaubt. Später gab es Mißverständnisse, einer redete am andern vorbei, ganz anderes verstand der Partner als ich gemeint hatte, immer wieder mißlang die Verbindung. Bin ich vielleicht grundsätzlich isoliert, führt von mir zu dir überhaupt keine Brücke?

Diesen schlimmen Zweifel bestärkt eine Zeitstimmung: jeder Mensch ist ein eigenes System. Ich bin zwar Empfänger deiner Signale und Sender der meinen; was aber bei dir aus meinen Signalen wird, was deine bei dir waren, davon kann ich hier nichts wissen. Meine Welt reicht sozusagen bloß bis zu meiner Antenne, wirklich bei dir drüben kann ich nicht sein, da bist du so allein wie ich bei mir herüben. Solcherart zementiert der Zeitgeist mit Argumenten die Einsamkeit. Kein Wunder, daß Resignation um sich greift. Wenn Liebe bloß ein verlogenes Wort ist, wenn keiner mit dem Kopf durch die Wand seines individuellen Gefängnisses kann, "was soll's?" Schmerzlich oft begegnet uns Bürgern eines der reichsten Länder diese freudlose Frage. Ja wirklich, wenn ich bloß immer bei mir bin und nie wirklich bei dir, was soll's?

Gegen diese Angst hilft eine geheimnisvolle Alltagserfahrung. Ludwig Wittgenstein (Schriften 1, Frankfurt 1960, S.472) stellt fest: "Wenn ich mit einem Stock diesen Gegenstand abtaste, habe ich die Tastempfindung in der Spitze des Stockes, nicht in der Hand, die ihn hält." Und Martin Buber (Begegnung, Heidelberg 1978, S. 51) erzählt ein Erlebnis aus dem Jahr 1911: "Nach einem Abstieg, zu dem ich ohne Rast das Spätlicht eines vergehenden Tages hatte nutzen müssen, stand ich am Rande einer Wiese, nun des sicheren Weges gewiß, und ließ die Dämmerung auf mich niederkommen. Unbedürftig einer Stütze und doch willens, meinem Verweilen eine Bindung zu gewähren, drückte ich meinen Stock gegen einen Eschenstamm. Da fühlte ich zwiefach meine Berührung des Wesens: hier, wo ich den Stock hielt, und dort, wo der Stab die Rinde traf. Scheinbar nur bei mir, fand ich dennoch dort, wo ich den Baum fand, mich selber. Damals erschien mir das Gespräch. Denn wie jener Stab ist die Rede des Menschen."

Der Leser mache, zum Beispiel mit einem Schreibstift, das Experiment selbst und erlebe: Berühre ich mit der Spitze das Papier, dann bin ich sozusagen dort, in der Spitze, erfahre den Widerstand. Erst nach einer "Umschaltung" schaffe ich es, mich auf die Grenze meines Körpersystems zu konzentrieren und "in den Fingerspitzen" zu sein. Wenn der Stift oder Stab die Brücke ist, dann bin ich wirklich zuerst drüben und merke nur mit Mühe, daß ich auch herüben bin.

Ich finde diese kleine Erfahrung umwerfend tröstlich Umgeworfen wird der moderne Aberglaube, daß ich nur so weit reiche wie mein isoliertes materielles System, daß ich in meiner individuellen Welt gefangen sei. Nein: nicht bloß Fenster haben wir Monaden, sondern in Wort und Blick (sogar durch gedruckte [oder elektronisch codierte] Buchstaben hindurch?) ist der eine wahrhaft bei, ja in dem anderen. Wie ist das möglich? Über die wissenschaftliche Frage mögen Biologen und Informatiker nachdenken. Der Christ vermutet: weil wir Menschen nicht nur am unendlichen trinitarischen Gegensatz von Ich und Du teilhaben, sondern ebenso an der unendlichen Vermittlungseinheit dieses Gegensatzes: der heilig brausenden Gischt, dem innergöttlichen Wir.

Wie die Kinder sollen wir werden und - trotz aller Mißverständnisse - an die Möglichkeit der Kommunikation glauben, weil wir sie als wirklich erleben. Freilich sollen wir nicht in die naive Annahme zurückfallen, als hätten ich und du den gleichen Inhalt im Bewußtsein. Das nicht. Angenommen, Bubers Esche habe irgendein Bewußtsein gehabt: dann hat sie den Druck des Stockes gewiß sehr viel anders gespürt als der Mensch, der ihn hielt. Daß wir das Gleiche erleben, dessen dürfen wir nicht zu schnell gewiß sein.

Aber dasselbe erleben wir: den Vollzug der Begegnung. Das genügt. Überwunden ist die Isolation, das Gefängnis gesprengt. Ich bin nicht bloß bis dahin, wo meine Nerven enden, ich bin wirklich auch jenseits der Brücke, bei dir. Und du, ich spüre es, bist wahrhaft auch bei mir, obwohl ich nicht genau weiß, was du genau über mich und unser gemeinsames Thema denkst. Entscheidend ist, daß wir beisammen sind.

Gibt es auch eine Brücke ins Unendliche, zu DIR? Ja: das Gebet. Dank DIR, daß DU die Mauern unserer Endlichkeit niedergerissen hast. "Bist du vom Himmel gestiegen, oder bin ich im Himmel bei dir?" - so jubelt Leonora in Verdis Troubadour. Sei tu del ciel disceso o in ciel son io con te? - erst als fassungsloser Lobgesang an die ewige Liebe kommt dieses hinreißende Lied ganz zu sich. Denn Deine Antwort heißt: beides, mein Lieb.

Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" vom 8. August (Nr. 32) 1982

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sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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