Jürgen Kuhlmann

Zum letzten Mal

Kinder, es ist das letzte Mal, daß wir zum Meer gehen. - Und dann die letzten Schwimmzüge hin zu dem goldenen Schein, den die untergehende Sonne auf die Wellen streut. Später der letzte Blick auf die mondbeglänzte Bucht. Jahr um Jahr packt mich am letzten Tag vor der langen Heimreise dieselbe Wehmut. War es gar schon das allerletzte Mal und ich habe es nicht gewußt?

"Kinder, es ist die letzte Stunde" (1 Joh 2,18). Solche Erfahrungen an der Grenze zweier Zeiten sind ein Schlüssel, der uns Spätergeborenen das Grundgefühl der ersten Christen nahebringt, ihre Gewißheit des bevorstehenden Abbruchs der Zeit überhaupt. Mit dieser Welt und allem, was in ihr gilt, ist es unwiderruflich bald vorbei, denn der Herr kommt. Zeitlich aufgefaßt, hat diese Erwartung sich als Mißverständnis erwiesen. Die aufgeregte Endzeitstimmung damals war nur das Sprach-, Denk- und Fühlkleid jener tieferen Grenzwahrheit, die den christlichen Glauben wesenhaft mit ausmacht: Je jetzt ist die letzte Stunde. Dieser Augenblick, im Nu geschaffen, ist im nächsten Nu schon vorbei und bleibt für immer, was ein Mensch aus ihm macht.

Warum vergessen wir diese umwerfende, nein: aufrichtende Wahrheit immer wieder so schnell? Eine Arznei gegen solche Schlafkrankheit kann es sein, jegliches erlebte letzte Mal als Anschub zu nutzen, der die Schaukel unseres Herzens aus ihrer Alltagsträgheit wegstößt und so in Glaubensschwung bringt, daß wir mitten in der scheinbar banalsten Stunde zitternd ihre Endgültigkeit ahnen. Ähnlich wie, für mich heuer zum letzten Mal, dort unten das Meer in dem Mondlicht sich kräuselt, das vor etwa acht Minuten die Sonne verlassen hat, um mir dieses unvergeßliche Bild zu bescheren.

Saug es tief in dich ein, meine Seele, und erinnere dich seiner dann, wenn es dir im Büro wieder einmal langweilig wird. Sonst wäre dein Mißverständnis der Zeit schlimmer als der Urchristen Endzeittaumel. Ihr Irrtum betraf nur das Kleid der Heilswahrheit, deiner zerbräche ihren lebendigen Leib. Der letzte Blick auf die schimmernde Bucht trennt Zeit von Zeit; unendlich bedeutsamer ist je jetzt (Karl Rahner, sei gegrüßt!) die Grenze zwischen verfallender Zeit und richtend-bewahrender Ewigkeit. Andauernd ist es zum letzten Mal. Und deshalb fängt auch immer Alles an. Denn DU kommst.

August 1995

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