Jürgen Kuhlmann
Kein Ende des Rhythmus:
LIEBE DEINEN NÄCHSTEN !
Ins Sein münden die Werdetakte - wo freilich vor dem Tode niemand bleiben kann. Was nun? Auf dem Gipfel angelangt, kann der Bergsteiger nicht mehr weiter; zurück muß er, kein Zweifel. In welcher Stimmung soll er sich dann erneut an den Aufstieg machen? Einerseits im Geist stetiger, vergewissernder Wiederholung.
Anderseits bleibe ich aber bis zum Ende ein geschichtliches Wesen, brauche Zukunft und Spannung, kann ohne Werden nicht intensiv sein. Da merke ich: dir meinem Nächsten fehlt noch manches; des ich schon satt bin. Helfe ich dir einen neuen Berg hinauf, dann schmecke ich plötzlich wieder den Geschmack der wilden Frische (die gehört der Seifenwerbung entrissen) und deine Entdeckerfreude breitet sich als Mitfreude in mir aus. Seither steht mir die Zukunft offen, ich muß nur den Kreis, in welchem sich alles um mich dreht, in die Ellipse mit dir und mir als Brennpunkten verwandeln und mich voll dir zukehren.
Als Buddha die Erleuchtung erlangt hatte, überwand er die Versuchung, im Nirwana zu bleiben, und kehrte zu den Menschen zurück, sie den Weg des Heils zu lehren. Durch das Nein zu allem Vielen springt der Mystiker ins Eine, nach dem Werden erfährt er das Sein. Dieser Gegensatz ist aber nur der erste Schritt in die Mystik. Wer bei ihm stehen bliebe, wäre ein Pseudo-Mystiker. Denn nur für unseren raupengleich kriechenden Verstand ist das Eine der Widerspruch zum Vielen. In Wirklichkeit entfaltet das Eine sich ins Viele, das Sein bejaht die Werdenden. Die Pole kosmisch und mystisch sind als Pole erst dann recht erfaßt, wenn zuletzt auch ihre unzertrennliche Beziehungs-Einheit gelebt wird. Richtet nicht! Äußerlich ist das Ziel der höchsten Mystik vom naivsten Anfang nicht zu unterscheiden. Simone Weil war starke Raucherin - aus Schwäche, geschöpflicher Dankbarkeit, Solidarität? Tiere lassen sich vom Brutpflegeinstinkt leiten; schon ein zweijähriges Menschenkind ist zu wohlwollender Nächstenliebe fähig.
Im Entschluß zur Liebe rundet sich der Rhythmus der Bewußtseinstakte, nachträglich wird der Schlußpunkt auch als Anfang vor allen Takten, als der Ur-Einsatz des Ganzen erkannt. Denn die Nächstenliebe - Teilhabe an der innergöttlichen Mutter-, Vater- und SELBST-Liebe - ist nichts anderes als die andere Seite jenes tiefen Ja, das der Grund aller Takte des Rhythmus ist. Was wir als Sein erfahren, ist der Selbstvollzug von Gottes schöpferischer Liebe. Der Junge, der noch gar nicht weiß, daß er zum Klettern bestimmt ist, verspürt einen sanften Zug nach oben. Er folgt ihm - und erfährt erst, wenn er selbst einem Anfänger hilft, wie der Griff der selbstlosen Hand sich auf ihrer Seite anfühlt. Nur deshalb drängt die innere Erfahrung uns Geschöpfe zum Werden, weil Gottes überströmende Werde- und Liebeslust aus der Fülle der Vollendung immer neu in andere Seins-Anfänger überbordet, jene "Liebe, die bewegt die Sonne und die anderen Sterne".
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist deshalb so göttlich, weil hier der Mensch von Gottes Standpunkt aus fühlt und handelt: dir, dem auf mich Angewiesenen, von dem ich nichts habe, dir wende ich mich gern und frei zu. Da ist der Ring des Egoismus gesprengt. Freilich bringen wir es fertig, selbst diese Haltung noch zum Mittel religiös verbrämten Eigenzweckes zu machen. Seit Jesus die Nächstenliebe zum Maßstab des Jüngsten Gerichts erklärt hat, läßt sich überhaupt nicht mehr wissen, ob ihre Praktizierung göttlich oder schlau ist! Abscheulich war die Antwort jener Berlinerin an den Bedürftigen, der sich für ein Fünf-Mark-Stück heftig bedankte: Nu ham Se sich mal nich so, ick hab das ja für Gott jetan, nich für Sie.
So nicht. Auch Jesus weiß, daß in unserer harten Welt die Kräfte des Egoismus den zunächst schutzlosen Mut zur Liebe stützen müssen, bis er, ausgewachsen, sich auch gegen das Eigeninteresse durchsetzen kann. Aber Jesus formuliert so, daß der Wohltäter gerade nicht an seinem Nächsten vorbei auf einen (so bloß) vorgestellten Gott schielen darf: "Macht euch Freunde mit dem bösen Mammon, damit - wenn er versagt - sie euch in die ewigen Wohnungen aufnehmen" (Lk 16,9). Nur dann also ist die Tat gut, wenn der andere sich in ihr als gemeintes Ziel empfindet; denn auf seinen aufgeklärten Dank kommt es am Ende an, noch so scheinschlaue Manipulation begründet keine Dankbarkeit.
Jetzt, da der Rhythmus sich in seinem ganzen Gefüge erhellt hat, vom embryonalen Anfang bis zur Vollendung in der Liebe, jetzt können wir die finstere Frage anpacken, die uns so bedrängt: was ist das Böse? Ein Grenzproblem heutiger Wissenschaft versetze uns ins Herz der Problematik.
Zwei Verdächtige werden geschnappt und in getrennte Zellen gesperrt. Die Rechtslage sei wie folgt: Nachweisen kann man ihnen die Tat nicht. Wenn einer sie gesteht und der andere nicht, wird der Verstockte zu zwanzig Jahren verurteilt, der Geständige kommt als Kronzeuge frei. Gestehen beide, erhält jeder zehn Jahre. Wenn endlich beide schweigen, können sie nur - wegen Waffenbesitzes - mit je einem Jahr Haft bestraft werden. Jeder kenne die Bedingungen und sei im rationalen Denken geübt. Wozu rät ihm sein Interesse? Das Ergebnis scheint klar. Entweder der andere gesteht oder nicht. Wenn ja, muß ich auch gestehen, sonst kriege ich die zwanzig Jahre. Wenn nein, muß ich es erst recht, denn in diesem Fall komme ich frei. Egal was der andere tut, auf jeden Fall ist es für mich besser, wenn ich gestehe. Kühl kalkuliert A, B ebenso. Während sie für zehn Jahre in ihre Zellen wandern, begegnen sie zwei anderen Gaunern, die nicht so toll rechnen, dafür aber gemeinsam den Mund halten konnten und mit nur einem Jahr davonkommen.
Dies ist das berüchtigte Gefangenen-Paradox der Spieltheorie, Ursache mancher schlaflosen Nacht und Thema subtiler Aufsätze. Minder zugespitzt, findet sich dieselbe Struktur auch bei so aktuellen Problemen wie den Heizkosten oder der Wahlbeteiligung. Wohnen in einem Haus zehn Parteien, welches Heizverhalten ist dann für mich das beste? Offenbar nicht das Sparen, denn mein Mehrverbrauch belastet mich nur zu 10%. Soll ich fremde Molligkeit finanzieren und selbst bibbern? Und bei demokratischen Wahlen weiß jeder Wähler: auf meine einzelne Stimme kommt es gar nicht an. Wenn für ein Mandat einmal bloß 100 Stimmen fehlen, gilt das schon als Sensation. Das Ergebnis wird gleich sein, egal ob und wo ich mein Kreuz mache. Jeder weiß das; handelten aber alle nach diesem Wissen und sparten sich die Mühe, dann gäbe es keine Demokratie.
Wo steckt der Fehler? Soviel ich weiß, knacken die Experten immer noch an dieser Nuß, für lange. Denn bloß mit verständigem Wissen ist sie nicht zu knacken. Innerhalb seines Rahmens ist in unserem Fall nichts schiefgelaufen. Nicht weil der eiskalte Rechner in seiner Zelle falsch rechnet, verrechnet er sich so gründlich; nicht die Methode der Antwortfindung ist irrig. Aber er hat sich die falsche Frage gestellt! Er hat gefragt: angenommen, der andere tue dies oder das, was ist für mich am besten? Einmal so gestellt, kann die Frage nur mehr fatal beantwortet werden; die Logik der Rationalität ist zwingend. Wo steckt der Fehler? Darin, daß er keine weise, sondern eine dumme Frage tat, gegen sie hilft alle Schlauheit nichts mehr. Die rechte Frage wäre gewesen: was ist für uns am besten? Dann wird die Logik ihm zum Schweigen raten. Nicht die Wissenschaft hat versagt - sie ist nur Werkzeug - sondern die Unklugheit des Egoisten.
Mir scheint nun: jene falsche Frage zu stellen, was ist für mich, statt was ist für uns am besten, darin liegt das Unwesen des Bösen. Es ist tatsächlich derart banal. Ein Böser nimmt seinen Mitmenschen nicht als gleichberechtigte und ihm verbundene Person wahr, sondern lediglich als Umstand, als einen Faktor, der wohl Berücksichtigung verlangt, nicht aber Rücksicht verdient. Grundmodell des Bösen ist der Kreis um ihn als Zentrum, nicht die Ellipse.
[Zusatz 2001: Die Ellipse steht für die trinitarische Stereo-Einheit der drei Sinnweisen EINS DU ICH. Bei unserem Gegensatz ich/wir ist das Wir also nicht als Mono-Mitte zu verstehen, die von Ich und Du absieht. Vom Egoismus (Ich-Sucht) erlöst weder die (gleich-un-rangige) Servilität (Du-Sucht) noch die laue Wir-Sucht von Harmoniesüchtigen, sondern allein die volle Liebe als Vollzug aller drei Sinndimensionen in Richtung auf DICH meinen konkreten Mitmenschen. Ob ich als Zentrum meines Kreises nur mich bejahe oder als armer Randpunkt des deinen bloß dir dem fremden Zentrum ausgeliefert bin oder punktlos in unserem Kreis verschwimme: jedesmal wird der drei-einige Sinn verfehlt, sooft ich auf DICH, der/die mich braucht, nicht achte.]
Erinnern wir uns des jungen Vaters, der sein plärrendes Baby, weil es ihn beim Fernsehen störte, kurzerhand aus dem Fenster warf. Die Geschichte ist leider wahr. Für ihn, der halt gerade sein Fußballspiel genießen wollte, war das gewiß eine - auf kurze Sicht - verständige Lösung; hätte es sich um einen krächzenden Papagei gehandelt, würden wir ihn loben. Denn der flöge heil ins Weite. Böse war, daß er nach dem Standpunkt des Babys nicht fragte. Nicht anders steht es bei den Menschenversuchen der KZ-Ärzte, überhaupt jede Untat ist vom Standpunkt nur des Täters aus jeweils durchaus logisch. Alles so zu verstehen heißt aber gerade nicht alles verzeihen, denn irgendetwas nur so verstehen, eben das heißt böse sein.
Ich erschrecke. Wenn diese Erklärung stimmt, reicht die Herrschaft des Bösen - um mich und in mir - dann nicht viel weiter als selbst die Spalten der trostlosesten Greuel- oder Protestpresse ahnen lassen? Böse wäre ja dann nicht nur, wer eine Untat ungescheut begeht, sondern auch, wer sie bloß aus objektiven Gründen unterläßt, aus Scheu vor der Reaktion des anderen, der Polizei, der Öffentlichkeit. Dann läge ja sozusagen die ganze Welt im Bösen. Genau das sagt die Bibel (1 Joh 5,19).
Wie ist das aber möglich? Die Frage ist nicht empirisch gemeint; von "unten" aus gesehen ist nichts natürlicher, als daß jeder sich durchzusetzen bestrebt ist. Dem so beschränkten Blick erscheint eher die liebevolle, vernünftige Opferbereitschaft als das große Wunder, die unbegreifliche Ausnahme. Wie das Böse möglich sei, frage ich jetzt vielmehr als Christ. Hast Du, unser Gott, nicht alles geschaffen? Gibt es denn in unserer Seele etwas, das nicht von Dir wäre? Wenn nein, woher dann das Böse? Ja, woher die Freiheit zum Guten, wenn doch all unser Gutes von Dir gewirkt wird? Was keine Generation begreifen konnte, werden auch wir nicht durchschauen. Doch können wir, mag sein, die Richtung erkennen, in der die Antwort zu ahnen ist.
Unterscheiden wir beim Entschluß die Wahl und die Entscheidung. Die Wahl geschieht zwischen verschiedenen Gütern; ist kein Zwang im Spiel, so heißt sie frei. Sie ist aber zugleich notwendig. Denn ich bin nicht Herr meiner Motive, in jedem Augenblick siegt das stärkere. Daß ich jetzt im Morgenlicht am Küchentisch schreibe, hat mancherlei Gründe, liegt aber keinesfalls an meinem Verdienst, sondern an meinem Programm, nicht meine Freiheit hat mir das gegeben. Anders die Entscheidung zwischen böse und gut, gut und besser. Sie ist frei, liegt in meiner Macht. Deshalb ist sie aber, so seltsam das klingt, nichts positiv Wirkliches, überhaupt kein Etwas.
Sondern wenn meine aktuelle Motivlage so beschaffen ist, daß ich jetzt nicht wollen darf, weil ich sonst gegen die Liebe verstoße, dann besteht die gute Entscheidung in einem "positiven Nichts": ich will jetzt nicht. [2001: Dies ist laut Raimon Panikkar das Wesen der Meditation, sie trainiert also das Gute.] Ich weigere mich, zu wollen, setze mit dem Wollen aus. Die Entscheidung zum Guten ist ein tatloser Zustand, ein Warten im Leeren und ohne Stütze. Mein ganzes Sein schreit zu Dir, Du wollest mich in der Versuchung nicht untergehen lassen, Du mögest mir, ehe meine geschöpfliche Nichtskraft ausgebrannt ist, neue, bessere Motive senden, so daß meine Wünsche sich verlagern, bis sie endlich so sind, daß Deine Stimme, mein Gewissen ihnen zustimmt und als Lohn der guten Entscheidung die Wahl des Guten geschehen läßt. In der schlechten Entscheidung hingegen läßt das Geschöpf seine natürlichen Automatismen laufen [2001: seien die jetzt mehr ich-süchtig gierig, du-süchtig servil oder eins-süchtig bequem], sagt nicht nein zum Wollen, obwohl seine derzeit herrschenden Motive gegen ein verbindliches Wir gekehrt sind. [2001: Das heißt gegen einen Anspruch des guten Ganzen, fordere es jetzt eher die Selbstverwirklichung (Mozart soll lieber frech für uns komponieren als seine Zeit bei der erzbischöflichen Personalversammlung töten) oder unangenehmen Einsatz für ein Du oder einen gefährlichen Friedensdienst zwischen allen Fronten. Welche Sinnweise jetzt äußerlich "dran" sei, ist eine Gewissensfrage, innerlich sollen wir stets in der ganzen Dreispannung leben. Wer sich von einem der Pole bannen läßt, gerät in Teufelsmacht, ist entweder dem Ich-Teufel luziferischer Eigensucht verfallen oder dem Du-Satan mancher "ekklesiogener Neurose", jenem an den Himmel projizierten allmächtigen Vampir (Paulus spricht - 2 Kor 4,4- vom "Gott dieser Welt), oder endlich der allverschlingenden Eins-Hexe, die weder ein freies Ich noch ernsten Dienst duldet, sondern allen Sinn in schmatzendem Sumpf zergehen läßt.]
"Richtet nicht!" Denn wir wissen nie, ob eine Untat entschieden gegen das Gewissen oder bloß natürlich, ohne Gewissensprotest, geschah. Mag sein, die unauffällige Lieblosigkeit eines anständigen Bürgers, der Vorfahren und Umständen lauter ehrenwerte Motive verdankt, wiegt vor Deinem Gericht am Ende schwerer als das Sensationsverbrechen des im Suff erzeugten Haltlosen, wenn er einer drängenden Verlockung lange widerstand, bis er nicht mehr konnte.
Die gute Entscheidung, das Ja der Person zum [vollen]Wir während die Natur bloß aufs Ich aus ist [2001: sofern ich von einem Mono-Vollzug gebannt bin], hat dieselbe Form wie Jesu Ja am Kreuz. Wer sein Leben gewinnen will, muß es verlieren. (Dieser Satz ist nicht zweideutig, sondern doppeldeutlich.) So erläutert Ignatius das Prinzip seines Meisters: "Das bedenke jeder, daß er so viel vorwärtskommen wird in allen geistlichen Dingen, wie er herausgeht aus seinem eigenen Lieben, .Wollen und Interesse" [Exerzitienbüchlein, Nr. 189].
Nur wenn wir, Gefangene in den Zellen des Kerkers Individualität, trotzdem klug die rechte Wir-Frage stellen, brauchen wir uns beim endgültigen Urteil nicht zu schämen. "Ich hätte dir bloß ein Was sein können, und du hast mich als dein Du in ein belebendes Wir eingelassen geh ein in unsere Freude.
[Fast ganz aus: An Quintulum oder Seiltanz des Herzens (1982)]
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