Jürgen Kuhlmann

Anbetung MIR !

Indiens beste Geister waren und sind überzeugt, daß die zentrale Idee des brahmanischen Denkens nicht auf menschlicher Klügelei, sondern auf göttlicher Offenbarung beruht. Wer darf es wagen, dem zu widersprechen? In Israel hat Gott sich als unser unendliches DU offenbart, in Indien als das unendliche Selbst, A-dvaita, Un-zwei, ICH. In "Anbetung MIR", einem Text wahrscheinlich aus dem elften Jahrhundert [Heinrich Zimmer, Anbetung Mir, München Berlin 1929], heißt es:


All-einsamer, zur Wahrheit rein Erwachender bin ich
- mit dem Feuer dieser Entscheidung verbrenne du den Urwald des Nichterkennens
- und sei kummerlos beseligt.

Oh ich - Anbetung mir! - für den es kein Vergehen gibt.
Der bestehen bleibt, wenn auch vom höchsten Brahma
bis zum letzten Grashalm alles Wesen der Welt vergeht.

In mir, dem unendlichen Weltmeer, o wunderbar! -
steigen die Wellen der Lebensfunken auf, brechen sie,
spielen und gehen in mich ein, wie sie ihr Wesen heißt.

Wohlan: wer weise das Selbst erkannte und dem Scheinspiel
der Sinnenfreuden spielend sich hingibt, was ist ihm gemein
mit den Wahnbefangenen, die der endlose Strom der Geburten dahintreibt?

Oh, Geist allein bin ich. Einem Gaukelspiel vergleichbar
ist die Welt. Warum, woher käme mir da der Wahn,
eines abzustreifen, ein anderes zu ergreifen?

Wie ein vom Traum dir umgaukeltes Netz
betrachtedrei oder fünf Tage lang Freund und Feld, Gut und Haus,
Weib und Erbe und was sonst dir zufiel.

"Von Brahma bis zum Grashalm - das bin ich allein" -
wer so urteilt, ist des Wahnes bar, rein und friedevoll -
ist zu Ende für Erlangtes und Nichterlangtes.

Nicht-irgend-etwas-Sein, fester Stand in. sich selbst
sind auch im Lendenschurz des nackten Asketen schwer zu erlangen.
Aufgeben und Annehmen ließ ich hinter mir und weile wie es mir wohl ist.

Erkenne ich mein Urwesen als zuschauendes Auge, erkenne ich mein höchstes Selbst
und mich als göttlichen Herrn - in Wunsch- und Hoffenslosigkeit vor Bindung und Erlösung
ist kein Sorgen in mir um Erlösung.

"Der hier - bin ich, der da - bin ich nicht"
gib diese Unterscheidung auf. "Alles ist Selbst"
so entscheide, und erwägensbar zieh dahin in Seligkeit.

"Alles ist nur spielend Gebilde, das Selbst ist frei in Ewigkeit"
wer solches erkennt - ein Weiser - müht er sich wie ein töricht Kind?


Vom christlichen Glauben her spricht nichts gegen solche Mystik, im Gegenteil: "Die advaita-Erfahrung, zu der des Menschen unnachgiebiges Suchen nach dem inneren Selbst führt, kann vielleicht beschrieben werden als Eintreten oder besser Aufgenommenwerden in das Wissen, welches das Absolute von sich hat, demgemäß buchstäblich als Sehen aller Dinge vom Standpunkt des Absoluten. Von der überlegenen Stellung des absoluten Bewußtseins aus schwindet jede Zweiheit, denn nur das Absolute ist absolut eins-ohne-ein-zweites (ekam advitîyam). Von diesem Standpunkt haben Welt und Geschichte keine absolute Bedeutung ... Wenn Jesu religiöse Erfahrung in seinem menschlichen Bewußtsein, mit seinem Vater eins zu sein, besteht, wenn überdies der Christ berufen ist, an diesem Bewußtsein teilzuhaben, dann hat advaita einen Platz in der christlichen Erfahrung wie in jener von Jesus selbst: Der Christ hat Anteil an Jesu Bewußtsein seines advaita mit dem Vater. Das ist christlicher advaita."[Jacques Dupuis SJ (damals Delhi), in: Orientierung 41/1977, S.170 ff]

Wohl der größte christliche SELBST -Mystiker war Meister Eckhart. Was dachten wohl seine mittelalterlichen Zuhörer, wenn sie in seiner Predigt Sätze wie diese vernahmen: "In jenem Sein Gottes, wo Gott über allem Sein und über aller Unterschiedenheit ist, dort war ich selber, da wollte ich mich selber und erkannte mich selber (willens), diesen Menschen (= mich) zu schaffen. Und darum bin ich Ursache meiner selbst meinem Sein nach, das ewig ist, nicht aber meinem Werden nach, das zeitlich ist. Und darum bin ich ungeboren, und nach der Weise meiner Ungeborenheit bin ich ewig gewesen und bin ich jetzt und werde ich ewiglich bleiben." Man lese statt "ich" jeweils "ICH", dann ist der Text unangreifbar [Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. v. Josef Quint, München 1963, S.308].

Doch spüren wir: bei solchen Sätzen ist die Zweideutigkeit aufs höchste gestiegen. Mystisch sind sie wahr: vor jeglicher Individualität oder nach tapferer Bewältigung der Vielheitswelt und demütigem Durchgang durch ihr leidvolles Ende. In wem - für den Augenblick - jeder Funken Egoismus erloschen ist, der darf so sprechen. Daß die Volkskirche sich hingegen zur Mystik überaus kritisch verhält und Meister Eckharts Kühnheiten bis heute verwirft, ist zu begreifen. Vom unmystisch-ichverkrampften Sinn als schlicht wahr aufgefaßt, wäre Herrn Jedermanns SELBSTbewußtsein falsch und verderblich.


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Siehe auch des Verfassers

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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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