Jürgen Kuhlmann

Ist Friede der Religionen denkbar?

Die Heilsspannung WORT <=> GEIST

Inhalt

A) Der Karikaturenstreit: Symptom einer tiefen Krise

B) Gesucht: Eine heilende Symbolik

C) Leitgleichnisse

I. Viele Organe des einen Leibes

II. Viele Akte des einen Dramas

III. Etappen der Großen Liebesgeschichte

IV. Viele Instrumente eines Stereo-Konzerts

V. Viele Farben - ein Licht

VI. Viele Buchstaben - ein Sinn

D) Das Innen leben, vom Außen lernen


A) Der Karikaturenstreit: Symptom einer tiefen Krise

Erst nahm man in Mekka dänischen Käse aus dem Regal, weil Karikaturen einer jütländischen Zeitung den Propheten Mohammed verspottet hatten, dann druckten andere europäische Zeitungen die Bilder nach, inzwischen brennen in islamischen Ländern westliche Botschaften. Da fragt sich in Europa mancher Christ: Wo stehe ich in diesem "Streit der Kulturen"? Als Gläubiger möchte ich urteilen: Geschieht den nordischen Freigeistern recht, warum trampeln sie so ehrfurchtslos auf den Gefühlen von Gläubigen herum? Als Europäer erinnere ich mich an gepfefferte Jesuswitze und meine: Gott sei Dank haben wir Humor; ein derart verbiesterter Glaube kann schon deshalb nicht stimmen.

Leicht formulieren läßt sich eine Position, die abstrakt vermittelt zwischen dem Spott der Wikinger und dem Zorn der Wüstensöhne. Sie prägt zusehends die Diskussion über den Karikaturenstreit. Pressefreiheit ist ein hohes demokratisches Gut, doch darf sie nicht die religiösen Gefühle anderer verwunden. Angegriffene Würde darf protestieren, aber nicht gewalttätig oder durch Drohung mit Gewalt. Nichts wahrer als diese ausgewogenen Grundsätze. Sie lösen jedoch nicht das entscheidende Problem: Wie verhält ein europäischer Christ sich angemessen zu solchen, denen ihr Gewissen einen betont einseitigen Standpunkt aufträgt und die deshalb mit der friedlichen Mittelposition gerade nicht zufrieden sind? Um jemanden achten zu können, müssen wir seine Überzeugung als wahr anerkennen - und zwar nicht nur subjektiv (so wäre mancher Irrer wahrhaft Napoleon!) sondern in einem Sinn, der sich irgendwie auch anderen, nämlich allen gutwillig Urteilenden, verständlich machen läßt. Wie könnte dieses Irgendwie in unserem Fall aussehen, wo religionskritische Humanisten und muslimische Gegner der zügellosen westlichen Freiheit einander derart scharf widersprechen? Das ist die Frage, um die es in diesem Artikel geht: Welcher Begriffsrahmen befähigt einen westlichen Christen, sowohl eifernde Muslime als auch radikal Unreligiöse als vernünftige Mitmenschen zu respektieren, obwohl deren Überzeugungen seiner eigenen - die er treu bewahren will - ins Angesicht widersprechen? Wie man sieht, ist dies nichts anderes als, aktuell zugespitzt, die lebenswichtige Frage, wie Fanatismus und Relativismus sich zugleich überwinden lassen, d.h. nach der denkbaren Gestalt eines ebenso bestimmten wie friedenstiftenden Glaubens.

B) Gesucht: Eine heilende Symbolik

Jesus "sprach nicht ohne Gleichnis" (Mt 13,34), kein Mensch kann das, sobald Thema des Sprechens der Sinn des Ganzen ist. Innerhalb einer Glaubenswelt sehen die in ihr Denkenden und miteinander Sprechenden mit Recht von der Gleichnishaftigkeit aller Rede ab. Wenn z.B. Christen "Vater Unser" sagen, "Gottes Sohn" oder "Ewiges Leben": treffen solche Worte den gemeinten unendlichen Sinn? Hier heißt es genau unterscheiden. Uns begreiflich an Vater, Sohn und Leben ist allein das aus Eigenschaften und Taten sich erschließende Wesen irdischer Väter und Söhne, die wir sind und auf die wir uns beziehen, sowie das menschliche Leben als solches, d.h. sofern es sich von Tod unterscheidet. Sobald ein Glaube sich in Worten ausdrückt, wird er Gleichnisse sagen. Durch die meint er allerdings sehr wohl das Eigentliche, den unendlichen Sinn selbst. Daß dieser Sprung gelingt, der SINN erreicht wird: eben das glaubt echter Glaube - und sei es der eines Atheisten, welcher glaubt, es gibt keinen Gott. Wir werden sehen: So wie er das Wort "Gott" auffaßt, muß er das sagen.

Wo Glaube spricht, meint er unfehlbar das göttlich Wahre selbst, scheine das Gleichnis, durch das er sich ausdrückt, anderen noch so falsch. Gemäß der klassischen katholischen Theologie sind Ort der Wahrheit nie die Sätze, die "Denkzeuge", durch die wir Wahres denken, sondern unser lebendiger Geist. Allerdings heißen auf abgeleitete Weise auch die Sätze "wahr". Das ist gemäß einer deftigen Formel des Thomas von Aquin (1225-1274) so zu verstehen, "wie ein Urin gesund heißt, nicht wegen der Gesundheit, die in ihm wäre, sondern wegen der Gesundheit des Lebewesens, die er bedeutet" (Summa Theologica I, q 16 a 7). Thomas ist hier glasklar: "Ein ausgesprochener Satz wird wahr genannt, sofern er eine Wahrheit der Vernunft bedeutet, nicht wegen einer Wahrheit, die in dem Satz wäre", ihm selber zukäme.

Der angesehene Pariser Professor dürfte grimmig geschmunzelt haben, als er diese Wahrheit mit dem derben Beispiel des Urins erläuterte. Da saßen sie vor ihm, die eifrigen Studenten, die selbst Professor werden wollten und stolz waren auf ihre gescheiten Sätze. Ihnen reibt Thomas es hin: verehrte Denker, Redner und Schreiber, all die großartigen Sätze, die unser Geist hervorsprudelt, in denen er sich ausdrückt, sind nichts als Abfallprodukte des Lebens der Wahrheit in uns!

Doch geht es, will ein Glaube sich mitteilen, nicht ohne Sätze. Die sollen sauber konstruiert sein, sowohl einzeln als auch im Zusammenhang. Wer ein Glaubenszeugnis als "Konstrukt" abtut, sagt nichts zur Sache; denn das ist sein eigenes ebenfalls, auch wenn es so ehrwürdig und solide scheint, daß wir seine Konstruiertheit nicht mehr bemerken. Gewiß ist der Denkvorschlag, den ich im folgenden mache, gleichfalls ein Konstrukt. Es ist aber nicht am einsamen Schreibtisch ausgetüftelt worden, baut vielmehr auf offenbarten Gleichnisworten auf und hat sich in einem Vierteljahrhundert freundschaftlicher Gespräche innerhalb der Weltbewegung "Religionen für den Frieden" (WCRP) allmählich ausgestaltet.

Weil ungewohnt, wird mein Vorschlag vielen vermutlich als weltfremde Spekulation vorkommen, als eine Art abseitiger Poesie, die mit den realen Gewaltausbrüchen in Kabul und Madrid, Damaskus und London, und wer weiß wo bald noch, nichts zu tun hat. Dieser Schein trügt. Auf die Dauer sind Ideen das Stärkste, was es gibt. Wo allzu enge Ideen schon so viel Blut vergossen haben, kann dort vielleicht der Keimling einer Versöhnungsidee zur Palme heranwachsen, in deren Schatten eines Tages Rabbiner, Bischof und Mullah sich die Hände reichen und einander - ohne Verwischung ihrer Gegensätze - offiziell gelten lassen? Jenen Durchbruch, den das jüngste Konzil beim Verhältnis der christlichen Konfessionen zueinander gebracht hat, ihn hätten nicht nur, sondern haben zuvor viele Repräsentanten der streitenden Kirchen für unmöglich erklärt. Warum soll, was der christlichen Ökumene gelang, der globalen für immer verwehrt sein?

Sehen wir deshalb jetzt ab von den Wahnideen und Greueltaten unaufgeklärter Muslime. Sie sind nicht das Wesentliche. Auch Katholiken wehren sich dagegen, daß ihr Glaube am Maßstab der Inquisition gemessen wird. Der Islam hat Denker und Mystiker hervorgebracht, die zu den Blüten der Menschheit zählen. Es muß nach dem Widereinander von Judentum und Christentum, Islam und humanistischer Moderne ein sinnvolles Zu- und Miteinander geben; andernfalls vergiftet Haß die Zukunft der einen Erde.

Und zwar muß solches Zueinander in religiösen Kategorien verstehbar sein, als Wille des Gottes der Heilsgeschichte. Es genügt keinesfalls, wenn freisinnige Juden, Christen und Muslime miteinander gut auskommen; das ist jetzt schon so. Vielmehr müssen die geistlichen Autoritäten aller "Leute des Buches" einander - zwar nicht ausdrücklich anerkennen; das wäre zu viel verlangt. Denn eine Glaubensgemeinschaft kann eine fremde nur dann als vollgültig anerkennen, wenn beide sich - wie katholische Orden - als Untergruppen einer umfassenderen Gemeinschaft verstehen; ein solcher Zusammenschluß widersprüchlicher Glaubensweisen bleibt jedoch unmöglich. Wohl aber müssen Wortführer der Religionen es offiziell für möglich erklären, daß die jeweils anderen ebenfalls aus Treue zum wahren Gott ihren Glauben leben. Weiter muß religiöser Friede nicht gehen, so weit aber muß er gehen, sonst ist er kein Friede, höchstens äußerliche Toleranz. Die Antwort des Jesuiten an den Protestanten "Bleiben wir dabei: Sie dienen Gott auf Ihre Weise und ich auf seine" taugt nicht zum Versöhnungsprinzip.

C) Leitgleichnisse

Es heißt Abschied nehmen von einer alten Illusion auch der meisten Frommen: als sei die Wahrheit nach Art eindeutiger wissenschaftlicher Richtigkeiten zu verstehen. Bei solchen kann von zwei Widersprüchen nur einer stimmen: zweimal zwei ist vier, nicht fünf. Existentielle Wahrheit ist nicht wissenschaftlich sondern dramatisch. Ihre Eindeutigkeit ist lebendig gestuft. Der entscheidende Unterschied zeigt sich in jedem Leitgleichnis anders; wer in den mannigfachen Wörtern denselben Begriff einsieht, hat das ökumenische Prinzip erfaßt.

Es gilt, mit Hilfe vieler erfahr- und vorstellbarer Bilder denselben in sich unanschaulichen Begriff zu verstehen, ähnlich wie das Volk einer Monarchie seine Königin in mannigfachen Gewändern aber nie unbekleidet erblickt. Nicht auf die Unterschiede der Roben kommt es an, dank ihnen soll vielmehr die Anmut derselben Königin strahlen. Ebenso ist die folgende "Bildersammlung" erst dann verstanden, wenn dieselbe geistige Struktur begriffen ist, die auf je andere Weise jedes Bild bestimmt. Wie die Struktur inseits aller Bilder für das Verhältnis der Glaubensweisen zueinander gelte, diese Frage überfordert menschlichen Verstand, für dieses erhabene Thema hat die Evolution ihn nicht entwickelt. Wir wollen nur an jedem Gleichnis solche Züge hervorheben, die das Gemeinte besonders erhellend abbilden, und vor solchen warnen, die zwar zum Bild aber nicht zur Sache gehören und - buchstäblich mißverstanden - in Irrtum leiten.

Ein kurzer Blick in den Kleiderschrank zeigt die folgenden Symbole: Gegensätzliche Organe des einen Leibes - viele Akte des einen Dramas - Etappen der einen Liebesgeschichte - mannigfache Instrumente eines Stereo-Konzerts - bunte Farben eines Lichts - unterschiedliche Buchstaben geben einen Sinn. Diese Symbole seien jetzt näher untersucht.

I. Viele Organe des einen Leibes

"Wäre das Ganze ein Glied, wo bliebe der Leib? ... Ihr aber seid der Leib Christi und Glieder je zu eurem Teil" (1 Kor 12,27). Das paulinische Anti-Spaltungs-Prinzip dürfen wir kraft der Hoffnung auf Gottes unbeschränkten Heilswillen über den christlichen Bereich hinaus erweitern und auch den zerstrittenen Religionen zurufen: Ihr sollt miteinander der Leib des SINNes sein, gegensätzlich und zugleich eins! Glaubensweisen sind als Organe eines vielfältigen Wahrheitsleibes zu verstehen. Jeder Glaube meint das Ganze, betont und verdeutlicht aber je ein besonderes Sinn-Moment. In unserem Leib sind die Organe ja nicht voneinander getrennt, jedes ist auch seine Beziehungen zu den übrigen, scheint zwar nur ein Teil, lebt in Wahrheit jedoch als eine Seinsweise des Ganzen. Der Mensch als lebendige Viel-Einheit sei die ökumenische Leitidee. Jedem Organ sein Programm; wollte schon der Magen sich an die kritische Nierenwahrheit halten, würde mir übel. Ähnlich bilden die großen und kleinen Sinnorgane der Menschheit nur zusammen den gott-menschlichen Sinnleib. Eine Einheitsreligion zu erstreben wäre Anti-Ökumenismus, einheitlich ist ein Kaninchen nur als Haschee.

Die Notwendigkeit der Glaubenstreue liegt auf der Hand: Ich erlaube einer Herzzelle keineswegs, nach Belieben in Auge oder Darm abzuwandern! Jedes Organ bedarf einer Balance von konfessionellen Grenzzellen, die es vor schädlichem Programm-Übersprung behüten, und ökumenischen Brückenzellen, welche es mit anderen Organen in gesunder Verbindung halten. Minder geeignet ist dieses Symbol zur Darstellung von Mission und Konversion, es sei denn, beides betreffe nicht gläubige Zellen fremder Organe, vielmehr ungebundene Zellen, denen es gut tut, sich in ein Sinn-Organ einzufügen. Hoher Symbolwert kommt zwei Krankheiten zu: dem isoliert wuchernden Krebs des Fanatismus sowie dem Aussatz, der ein Glied sich selbst verneinen und - weil eh' alles egal sei - träge abfaulen läßt.

II. Viele Akte des einen Dramas

"Ein Theater sind wir geworden für die Welt, für Engel und Menschen", so beschreibt (1 Kor 4,9) Paulus das christliche Grundgefühl. Sobald es in einem heutigen Christen zu schwingen beginnt, erwacht er aus Jahrhunderte lang eingedrillter ideologischer Starre, begreift seine dramatische Lebenswahrheit und nimmt Abschied von einer alten Illusion auch der meisten Frommen: als sei die Wahrheit nach Art eindeutiger wissenschaftlicher Richtigkeiten zu verstehen. Bei solchen kann von zwei Widersprüchen nur einer stimmen: zweimal zwei ist vier, nicht fünf. Existentielle Wahrheit ist nicht wissenschaftlich sondern dramatisch.

Wahrscheinlich seit Menschen "auf den Brettern, die die Welt bedeuten" (Faust), Theater spielen, haben wir den Vergleich auch umgedreht und die Welt als Bühne höherer Ordnung verstanden. Auf ihr spielt das Große Drama sich ab, nach christlichem Glauben verfaßt und inszeniert von der Autorin LIEBE. Darsteller sind wir raumzeitlich lebenden Menschen, Publikum ist die Festgemeinde des Ewigen Lebens um die Weltbühne her, d. h. sämtliche (früheren wie künftigen) Aktricen und Akteure, sobald sie nach ihrem Sprung von der Bühne - eingefügt ins schöpferische Facettenauge - Alles schauen.

Damit das alte Gleichnis Welttheater die ebenso alte aber zusehends bedrohlichere Zwickmühle Fanatismus/Relativismus auszuschalten helfe (derzeit zündet sie Konsulate an), sei es an einem Punkt verfeinert: Die Weltbühne ist rund, besteht aus vielen Sektoren, die sich - wie Tortenstücke auf einem Drehteller - dem Publikum darbieten. Zur selben Zeit vollzieht sich in jedem Sektor ein anderer Akt, eine andere Heilszeit des Großen Dramas. Deshalb werden die Sektoren durch feste Wände getrennt; für sie sind die Konfessionellen verantwortlich. Ohne Klarheit, in welchem Akt hier agiert wird, gäbe es keinen dramatischen Sinn. Doch enthalten die Wände Fenster für ökumenische Dialoge, und sogar unauffällige Türen, durch die etwa Mischehepartner hin und her schlüpfen, um als lebendiges Wir dessen Glauben hier wie dort zu leben. Auch Konversionen von Akt zu Akt sind dank dieser Türen möglich, wenn ein Akteur einen Blick des Regisseurs von der Loge herab auffängt und vertraut: meine Rolle ist verwandelt, ab jetzt gehöre ich in diesen Akt.

III. Etappen der Großen Liebesgeschichte

Mit Versen des Hohen Liedes bekennt Israel sich Jahr um Jahr als des Ewigen Braut. Die Kirche jubelt, daß sie die Gattin des Messias ist (Eph 5,25). Ohne betende Freude an der Gott-menschlichen Liebesgeschichte gibt es Religionskunde, aber weder jüdisch noch christlich gelebten Glauben.

Unsere Kultur steht im Bann des Evolutionsgedankens, doch müssen wir begreifen: Gegensätzliche Glaubensweisen, die das Bewußtsein jetzt lebender Menschen prägen, dürfen nicht nach dem Entwicklungsschema beurteilt werden, als niedriger oder höher. Wer einmal frisch verliebt war und später feierlich geheiratet hat, sie oder er weiß, daß beide Etappen ebenso verschieden wie gleichwertig sind. Das Prinzip "existentielle Augenblicke rivalisieren nicht miteinander" wird dank dieser Erfahrungen jedem Nachdenklichen klar. Der Schmelz der frühen Intimität und die öffentliche Klarheit des Hochzeitstages gehören verschiedenen Sinn-Dimensionen an, jede ist auf ihre Weise vollkommener als die andere, weit weg ist Darwins Reihe Amöbe - Echse - Affe - Mensch.

Was sich als Drama der Liebesgeschichte von Gott und Menschheit nacheinander ereignet, wird in verschiedenen Akten auf der Welt-Drehbühne zugleich aufgeführt. In jedem Akt gilt eine andere dramatische Wahrheit; die Hauptaussage eines Aktes scheint in den anderen falsch. Ganz wahr ist erst das kunstvoll ausbalancierte Ineinander aller Teilmomente. Das sollen wir immer klarer vernehmen - ausdrücken kann es kein einzelner Darsteller, auch nicht ein bestimmter Akt allein.

Unterscheiden wir sechs Akte und drei Nachspiele (Was hier nur kurz skizziert wird, findet sich ausführlich in meinem Buch "Etappen der Großen Liebesgeschichte" [Nürnberg 2001]). In den Akten stellt Er Gott dar, Sie seine Freundin die Menschheit, die in jedem Akt anders heißt:

1) Skepsis zupft eine Margerite: Bin ich geliebt? Solcher Zweifel ist die Herzenswahrheit alter und neuer "Heiden". Wer sie im eigenen Innern ganz verdrängt, rutscht leicht aus Glauben in fanatische Borniertheit - umgekehrt ebenso, wer sie (agnostizistisch) als einzig mögliche Haltung propagiert.

2) Zion freut sich ihres intimen Bundes mit Ihm, der Sie erwählt. Diese ewige Wahrheit stellen seit etwa viertausend Jahren und bis zum Weltende die Juden dar. Eine deutsche Jüdin schreibt beim Nachsinnen über die Naziverbrechen: "Durch dies Volk hat zum erstenmal in der Menschengeschichte das Unendliche mit dem Endlichen sich in Beziehung gesetzt, ist es aus Nacht und Schweigen als der Unendliche hervorgetreten, der durch seinen Anruf den Bund mit dem endlichen Wesen Mensch geschlossen hat, aus dem den Völkern die Gestalt ihres Heils entsprang." (Margarete Susman, Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, Freiburg [Herder-Bücherei Nr.318] 1968,72).

Im Sektor Zion gilt dieser Bund nach wie vor, nichts Wesentliches hat sich vor zweitausend Jahren geändert. ER, der göttliche Partner, tritt hier nicht als menschlicher Mitspieler auf, greift allein als Autor seines Buches, vor allem der Tora, und als Regisseur der realen Heilsgeschichte ins Geschehen ein. Inhaltlich gehen beide Fassungen seines Werkes vielfach auseinander; weil die Wahrheit der Bibel und die Richtigkeiten der Realität sich aber demselben Verfasser verdanken, müssen solche unlösbaren Fragen (hatte Adam einen Nabel?) ein gläubiges Gemüt nicht stören. Wer Glauben für eine Art Wissenschaft hält, mißversteht beide. Auch der allererste Dieselmotor sah in des Erfinders schöpferischer Idee großartiger aus als im Durcheinander der Werkstatt.

Jesus tritt in diesem Akt nicht als Christus auf, nicht als lebendiger Tempel des Höchsten, den Tomas in ihm anbetet ("Mein Herr und mein Gott!"), erst recht nicht als Gott selbst in Person, sondern als der schlichte Jude, der sich gegen jegliche Erhöhung zur Wehr setzt: "Was nennst du mich gut, keiner ist gut als Gott allein" (Mk 10,18). Diese dramatische Wahrheit von Jesu echter Menschlichkeit hat schon der spätere Matthäus (19,17) nicht mehr ertragen: "Was fragst du mich nach dem Guten?" Erst recht wird sie vom Dogma der Kirche zwar abstrakt festgehalten, kann aber im Bewußtsein der Rechtgläubigen gegen die Wucht von Jesu Gottheit nicht bestehen. Das allein zeigt schon, wie demütig die Christenheit auf ihre Schwester Judentum hören muß, um nicht aus der eigenen Wahrheit zu fallen. Jesus war Jude, nicht Christ.

3) Ekklesia bezeugt vor aller Welt öffentlich das Doppel-Ja ihrer Hochzeit mit Ihm. Es ist die Grundwahrheit des Christentums, im Großen ebensowenig überholbar wie, im Kleinen, - trotz aller Krisen - das hochzeitliche Ja einer gelingenden Ehe. "Christus ist Gottes JA zu allen Verheißungen" (2 Kor 1,20) - warum ist diese Kernbotschaft des Neuen Testaments für das begonnene Jahrtausend (Computer verstehen nur ja und nein) den Christen dermaßen unbekannt? Vermutlich weil die Denksprache der westlichen Kirche so lange weder einen Artikel kannte noch das Wörtlein "Ja". "Das Ja" läßt sich lateinisch nicht denken, auch deshalb kam diese Offenbarung bis heute nicht an.

Die Hauptwahrheit des Christentums ist mithin nicht ein Verständnis, das andere Verständnisse ausschlösse, sondern die Tatsache des göttlichen Ja zu allen Verheißungen, die je ein hoffendes Herz erfüllten, von der bangen Ahnung einer Höhlenfrau vor dreißigtausend Jahren bis zur Sehnsucht eines Slumkindes heute. Wie Gottes Ja zu all dem sich verwirklicht, können wir nicht begreifen, am Großen Daß darf ein Christ nicht zweifeln. Es steht in Spannung zu jener Botschaft, die bisher und derzeit - drinnen wie draußen - als die christliche gilt. Diese Spannung nicht aufzulösen aber zu klären ist fortan eine Hauptaufgabe der Theologie.

4) Weil Sie (als spätantike Machtkirche) Ihn für sich monopolisieren will, kommt es zur Ehekrise. Gegen die Arroganz seiner Partnerin setzt Er sich durch, sprengt solche Enge, besteht auf seiner Freiheit, allen Menschen nahe zu sein, weist die übermütige Gattin in ihre Schranken. In dieser Etappe tritt Sie als Fatima auf, als muslimische Umma. Die tatsächliche Unterdrückung der Frau im Islam wird von solchem Symbol nicht gerechtfertigt, doch macht es verständlicher, warum er gerade zu dieser Verirrung neigt.

5) Nachdem umgekehrt in den drei real existierenden Religionen Er (nicht selbst aber von klerikalen Funktionären repräsentiert) Sie lieblos unterdrückt hat, setzt diesmal Sie sich in der Ehekrise durch, wirft als My Fair Lady Eliza dem arroganten Partner die Pantoffeln ins Gesicht und verläßt wütend sein Haus. Dies ist die heute so aktuelle dramatische Wahrheit der humanistischen Gottlosigkeit. Daß sie - neben anderen Symptomen einer Animus-besessenen Unvernunft - auch Feministinnen hervorgebracht hat, die über alle Stränge schlagen, fordert kritische Abwehr, paßt aber zum Stellenwert dieses Aktes im Drama.

6) Endlich sitzen beide, Eintracht und Er, friedlich beisammen und betrachten miteinander die Fotos aller früheren Etappen. Dankbar sieht Sie ein, wie jede ihre besondere Wahrheit hat und immer behält. Diesen Akt stellt die neueste Weltreligion dar, der allseits friedliche Glaube der Bahais. Auch er ist (wir sind alle Menschen!) von einer eigenen Weise unökumenischer Arroganz bedroht. Was ein junger Bahai mir schrieb, klingt sehr nach dem Irrglauben eines "religiösen Evolutionismus", der die zeitüberwindende Gleichwertigkeit aller Etappen leugnet und sich des objektiven Primats des eigenen Glaubens rühmt. Weil die anderen das auch tun, stellt ein solches Bahaitum sich - paradoxerweise - gerade dadurch gleich zu gleich in ihre Reihe. In jenem Brief hieß es: "Warum soll man sich mit einem Teil zufrieden geben, wenn man das Ganze haben kann? In jeder späteren Religion sind alle vorherigen im Prinzip mitenthalten. Die früheren Religionen werden in die späteren hinein integriert, und zwar in eine höhere Form. Das Erwachsenendasein basiert auf den Erkenntnissen des Kindes. Die vierte Etage eines Hauses baut auf den anderen dreien auf. Aber es ist ein Haus."

Ach! "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder ..." mahnt Jesus. Nein: Der Siebenjährige ist irdisch im Siebzigjährigen keineswegs voll integriert, erwartet ihn aber im Himmel als auferstandenes Kind - das allerdings zuweilen schon jetzt ins irdische Alter hereinblitzt. So, auf unorganisierbar-ewige Weise, leuchtet die geistliche Einheit aller Etappen manches Mal in ein Zusammensein gläubiger Menschen.

7) Das erste Nachspiel schlägt den Sinnbogen zurück vor die ganze Geschichte. Ehe Ihre Beziehung zu Ihm die beschriebenen Gestalten annehmen kann, lebt Sie, die Menschheit, d.h. jeder Mensch, geborgen in der ewig ungeschiedenen Einheit. Ein Embryo kennt seine Mutter nicht als Dich, als andere Person, ihm ist Alles EINS. Die uns ungegenständlich belebende, vor- wie nachgeschichtliche Große Einheit wird vom Buddhismus dargestellt, so erklärt sich der uns Westlern so rätselhafte Begriff einer gott-losen Religion. Sie hat ebenfalls ihre Wahrheit, ist freilich nicht "wahrer" als die geschichtlichen Akte. Voll wahr ist allein das ganze Drama samt seinen Akten und Nachspielen, mit allen Szenen und Figuren, auch den vielen, die hier nicht aufgeführt werden können.

8) Ein weiteres Nachspiel zeigt die Menschheit bald nach der Geburt, nicht mehr als Ihre Leibesfrucht und noch nicht als Seine Partnerin, sondern als Kind in der Obhut von Mutter und Vater. So fühlten sich die Menschen der entwickelten altorientalischen Religion, sie erblickten Göttin und Gott als Hohes Paar gleichberechtigt nebeneinander. Auch die Indiovölker in Mittel- und Südamerika verehren immer schon das Göttliche Paar. Ein Franziskaner, der lange Jahre mit dem Indio-Bischof Proaño in Ecuador zusammengearbeitet hat, berichtet: "Beim Volk der Kuna (in Panama) ist Gott Mann und Frau zugleich, Paba und Nana, Vater und Mutter ... Paba allein ist noch nicht Gott, und Nana allein ist nicht Göttin, beide zusammen erst sind Gott. Ihre Beziehung zueinander ereignet sich von gleich zu gleich. In der Zweiheit der Person Gottes erscheint sein väterliches und mütterliches Antlitz zugleich."(E. Rosner, Der Traum von einer indianischen Kirche (S. 20). Nr. 60 (1995) der Schriften der Missionszentrale der Franziskaner (Postfach 200953, D-53139 Bonn). Auch ein kaum vergangener Katholizismus fühlte so. Mir fällt ein, wie vor Jahren ein französischer Bub im Ferienlager das Abendgebet eingeleitet hat: "Jetzt wollen wir unserem Vater und unserer Mutter im Himmel danken für den schönen Tag, den sie uns geschenkt haben." Folgten ein Vaterunser und ein Ave-Maria. Vor Weisen und Klugen verborgen, den Kleinen aber geoffenbart. Vater und Mutter gehören zueinander, das ist doch klar. Die Mutter Gottes als "Ikone", als lebendiges menschliches Bild für Gott, "der" auch Mutter ist - das ist seit alters die katholische und orthodoxe Fassung dieser Heilsetappe.

9) Ein letztes Nachspiel stellt die Selbst-Mystik dar. Sie (als Bühnenfigur) erkennt und sagt ihre Identität mit sich der total Erlösten, die in der Loge mit Ihm ein Geist und Leib geworden ist. Klarer zeigt die mystische Identität sich im Organ-Gleichnis: Nicht bloß meine Finger schreiben jetzt diese Worte sondern ich weiß: Ich schreibe sie in den Fingern. Insofern sind meine Finger ich. Nur deshalb mußten Meister Eckharts kühne Identifizierungen der Seele mit Gott von der Kirche verurteilt werden, weil sie ungeistliche Leser zu Hochmut verführen können. Wer "wie Gott" werden will, ist von der Schlange betrogen. Nicht wie ich sein will mein Daumen, nur schlicht wahrnehmen, daß er - am Leib (d. h. nicht sündhaft von mir getrennt) - tatsächlich kein Er ist sondern ich, diese daumenhafte Weise meiner selbst.

Selbst-Mystik findet sich bei Erleuchteten vieler Religionen, am ausgeprägtesten im alten Indien. Die Bhagavadgita, die Gandhi neben den Evangelien stets bei sich hatte, sollte auch Christen besser bekannt sein. Selbstmystik ist freilich gleichfalls nur eine, nicht die Wahrheit. Vor falscher Verabsolutierung warnt eine bezaubernde Anekdote: "Ein alter Guru war gerade dabei, die Geheimlehren, in die er einen fortgeschrittenen Schüler eingeführt hatte, abzuschließen. "Alles ist Gott", sagte der weise Lehrer, "das Unendliche, rein und wirklich, grenzenlos und jenseits der Gegensatzpaare, bar aller unterscheidenden Eigenschaften und aller beschränkenden Kennzeichen. Diese Lehre ist das 'Ende der Veden'."

Der Schüler vernahm es und begriff: Gott ist das einzig Wirkliche. In allen Dingen webt das Göttliche leidlos und ungreifbar, alle Gestalten, alle Ich und Du der Welt sind nur der Schleier seiner Mâyâ. Ein ungeheures Gefühl befiel ihn; er kam sich wie eine große lichte Wolke vor, die unaufhaltsam wachsend den ganzen Himmel erfüllt, und wie eine Wolke ging er umher, aller Schwere ledig.

In erhabener Alleinsamkeit hielt er die Mitte der Straße - da kam ihm ein Elefant entgegen. Der Treiber, der oben dem Tier im Nacken saß, rief herunter: "Platz da! Platz da!", und die Schellen am Leibe des Riesen umspielten seinen lautlos wogenden Gang mit silbernem Klingen.

Der Schüler hörte und sah ihn wohl trotz seiner Verzückung, aber wich ihm nicht aus. Er sprach bei sich selbst: "Warum sollte ich Platz machen? Ich bin Gott und der Elefant ist Gott. Soll Gott sich vor sich selber fürchten?" Furchtlos ging er dem Tier geradewegs entgegen - da packte ihn der Elefant im letzten Augenblick, umschlang ihn mit seinem Rüssel, schwang ihn beiseite und setzte ihn unsanft in den Staub.

Zerschlagen und bestaubt kam der Schüler zu seinem Lehrer und erzählte ihm die Begegnung. Der Guru sagte: "Du hast ganz recht: du bist Gott und der Elefant ist Gott - aber warum hast du nicht auf Gottes Stimme gehört, die oben vom Elefanten herunter zu dir sprach?""(Heinrich Zimmer, Philosophie und Religion Indiens (Zürich 1961), 32 f).

IV. Viele Instrumente eines Stereo-Konzerts

Flöte und Kontrabaß sind nicht zu verwechseln. Wie er brummt, tönt sie nie. Beide Klänge fordert der Dirigent, ihren Gegensatz wie das Ineinanderspiel. Selbst bringt er keinen Ton hervor, kümmert sich nur um Alles. Beim digital aufgenommenen Konzert wird die Struktur mathematisch klar: Nur dank dem Widerspruch, daß rechts Null, links Eins kodiert ist, klingt die Sinfonie stereo, treten Flöte und Baß einander plastisch gegenüber. Kurzschluß bewirkt Mono-Klang. Dies ist die Wahrheit der konfessionell Gesinnten. Auf der Instrumenten-Ebene müssen die Signale gegensätzlich sein, trotzdem - dies ist die ökumenische Wahrheit - sollen die Musiker einmütig aufeinander hören. - Sind auch die Mormonen ein göttliches Instrument, auch die Religion noch "unentdeckter" Indios im brasilianischen Urwald? Wer hätte das Recht, ihnen diese Achtung zu verweigern?

V. Viele Farben - ein Licht

Der bunte Regenbogen ist uns von Gott geschenkt als Zeichen seines Bundes mit uns Menschen (Gen 9,12). Von der "vielbunten Weisheit Gottes" spricht (Eph 3,10) das Neue Testament. Und im Koran (30,21) wird uns gesagt: "Zu seinen Zeichen gehört die Schöpfung der Himmel und der Erde und die Verschiedenartigkeit eurer Zungen und eurer Farben. Siehe, hierin sind wahrlich Zeichen für alle Welt."

Viele Menschen, die miteinander zu einer bunten Glaskuppel emporschauen, sehen alle die gleichen Farben, doch strahlt jedem existentiell ein anderes Sonnenfunkeln ins Auge. Am eigenen Himmelsrot zu zweifeln, nur weil der andere schwört, die Sonne leuchte grün, wäre dumm. Grün und Rot sind Gegenfarben, vor der Ampel wie in der Physik. Durch die rote Brille gesehen erscheint Grün finster, und umgekehrt. Wer eine solche Brille aufhat, kann diesen Eindruck nicht vermeiden. So kommt es zum Trugschluß der Intoleranz: Ich bin rot und ich weiß, daß ich hell bin. Du bist grün, meine Gegenfarbe, also bist du finster. Wo steckt der Fehler? Der Fanatiker verwechselt Farbe und Licht. Dasselbe Licht ist es, welches durch ein rotes Glas rot leuchtet und grün durch ein grünes. Den Gegenfarben entsprechen die Gegenwahrheiten. Statt meinen Gegner für finster zu halten, soll ich hoffen, daß er auf seine gegensätzliche Weise doch im selben Licht lebt wie ich. Daß ich ihn dunkel sehe, liegt ja vielleicht an meiner Brille! Können wir in friedlichem Gespräch gar so weit kommen, daß wir die Brillen tauschen und dabei blitzhaft die überwältigende Buntheit des Wirklichen erblicken?

Deutlicher als die übrigen Symbole zeigt das Lichtgleichnis den eindeutigen Gegensatz, auf den es im Drama eines Menschenlebens absolut ankommt. Jede Farbe kann hell strahlen oder sich verfinstern. Im biologischen wie kulturellen Auf und Ab kommen allerlei Farben zum Vorschein; "hierin ist der Mensch Teil der Natur, undramatisch. Wesentlich ist, daß er über-biologisch diesem Prozeß in weitgehender Freiheit (unbeschadet aller Erb- und Umwelteinflüsse) einen geistigen Sinn einprägen kann, eine Ausrichtung auf das absolute wahre und gute Sein zu, oder von ihm weg."(Hans Urs von Balthasar, Theodramatik III (Einsiedeln 1980), 81). An dieser eindeutigen Differenz müssen wir um der Menschenwürde willen festhalten: Besser ein dunkelrotes Leuchten als ein lichtloses Hellrot!

VI. Viele Buchstaben - ein Sinn

Bei Saint-Exupéry möchten Generäle in den heiligen Schriften Ordnung schaffen, indem sie alle a's auf eine Seite befehlen, alle c's auf eine andere usw. So "hielten sie ein herrlich geordnetes Buch in Händen. Ein Buch für Generäle"(Die Stadt in der Wüste (Citadelle), Nr. 22 (Stuttgart Zürich Salzburg o.J.), 101). Wir Zivilen wissen: Damit der Wort-Sinn eindeutig sei, müssen die Buchstaben einander eindeutig widersprechen. "ALLE BUCHSTABEN" schreibt die Lehrerin an die Tafel und fragt: Kinder, stimmt das? - Ja, es ist richtig geschrieben. - Ja, Simone? - Eigentlich nicht. Es sind nicht alle. Die meisten fehlen." - "Du hast recht. Trotzdem stimmt, was an der Tafel steht. Damit ALLE BUCHSTABEN alle Buchstaben bedeutet, dürfen es nicht alle Buchstaben sein. Wenn ich die anderen dazuschreibe, so: ACLFLJEKQBMURCXHYSWTZADBGEONP - dann heißt es nichts mehr. Das Zeichen ist kaputt. Aber du hast auch recht. Nur kannst du deine Wahrheit nicht ins Zeichen hineinschreiben, sondern daneben, vielleicht so: "X und Y gehören zu allen Buchstaben." Überhaupt ist das oft so: Das Zeichen darf nicht sein, was es bedeutet. Der Tourenzähler dreht sich nicht 3000 mal, der Backherdschalter ist nicht 200° heiß, das Wort "unhörbar" in der vorgelesenen Indianergeschichte ist hörbar. Und gleich werde ich den Großen erklären, warum die Kirche, gerade weil sie "HEIL FÜR ALLE" bedeutet, nicht für alle die geistliche Heimat sein kann.

D) Mutig glaubend das Innen leben, vom Außen lernen

Menschliche Sinnwahrheit so zu denken: als Leib aus vielen Organen, als Liebesdrama aus vielen Akten und Nachspielen, als Sinfonie und bunt leuchtendes Bild: Ist das aber nicht bloß ein Spiel leerlaufender Phantasie? Was gibt uns die Gewähr, daß es wirklich so ist? Nun: Im strengen Sinn wissen läßt das gesuchte Friedensmodell für die Religionen sich nicht, auch steht es in keiner der betroffenen Gemeinschaften für den bereits entfalteten Glauben fest, der wird mit Recht überall von der bestimmten Eigenperspektive geprägt. Trotzdem muß die gemeinsame Vernunft nicht verstummen, darf sich vielmehr gut europäisch auf den platonischen Sokrates berufen. Am Ende seiner Mythos-Erzählung im Phaidon (114d) begründet er: "Nun allerdings fest zu behaupten, daß sich das so verhält, wie ich es vorgetragen habe, gehört sich nicht für einen vernünftigen Menschen. Daß es jedoch diese oder ähnliche Bewandtnis haben muß mit unseren Seelen und ihren Wohnungen, da doch die Seele offenbar unsterblich ist, das scheint sich mir zu gehören und wert zu wagen, daß man glaube, es verhalte sich so - denn schön ist das Wagnis; und man muß sich mit derartigem wie mit Beschwörungen selbst heilen, weshalb ich auch den Mythos schon so lange ausdehne."

Was unsere Erde heute braucht, ist eine wahre Geschichte, an die alle Menschen in Sokrates' Sinn "mutig glauben" können, ohne deshalb von ihrem bestimmten Glauben lassen zu müssen, der den Behauptungen anders Gläubiger weiterhin widerspricht. Die eine wahre Geschichte darf die Widersprüche der vielen Großen Erzählungen nicht gewaltsam auflösen.

Jedem zeigt sein Gewissen, was für ihn jetzt dran ist. Das eine Mal heißt es dieses Bestimmte - Organ, Figur, Etappe, Instrument, Farbe, Buchstaben - konfessionell ausdrücken, entschlossen leben. Nur durch die Spannung zwischen meinem beschränkten So und deinem begrenzten Anders kann unser volleres Sein gelingen. Ein anderes Mal dürfen wir ökumenisch unsere pfingstliche Einheit mit den anderen feiern. Stellen wir diese pneumatische Polarität vertikal dar: konfessionell unten / ökumenisch oben. Sie steht senkrecht zum horizontalen Logos-Gegensatz widersprüchlicher Bekenntnisse (zum Beispiel: Islam links / Christentum rechts). Entscheidend ist die Einsicht: Recht haben nur beide vertikalen Pole zusammen. Konfessionelle Wahrheit allein müßte zu fundamentalistisch starrer Enge verhärten, ökumenisch all-offene Generosität allein in nichtssagende Beliebigkeit verschwimmen. Man sieht: Beide Haltungen können von Heiligem Geist erfüllt sein und haben ihre Logik; nicht zwischen trinitarischen Dimensionen wird gestritten, wohl aber wirken sie sich hier und dort verschieden aus.

Erst "am Ende werden wir wissen, wer recht hatte," mahnte Kardinal Martini in seiner Predigt am 8. Mai 2005, als er seines Ex-Kollegen Ratzinger Relativismus-Verurteilung durch das Recht auf einen "christlichen Relativismus" ausbalancierte. Unsere Leitgleichnisse geben beiden recht. Relativismus ist doppelt falsch: Weil Organ bis Buchstabe jeweils eindeutig zu sein hat und weil Leib bis Wortsinn seine gleichfalls eindeutige Gesamtwahrheit hat. Berechtigt, ja notwendig ist Relativismus hingegen insofern, als der Gesamtsinn deutliche Gegensätze zwischen aufeinander bezogenen Teilsinnen fordert und schafft.

Mit welcher Ergriffenheit mag Jesus den Psalmvers (119,32) gebetet haben, der beide gegensätzlichen Wahrheitspole, den klaren Weg und die offene Weite, wie selbstverständlich - gar mit einem denn! - zusammenspannt: "Den Weg deiner Gebote laufe ich - denn du weitest mein Herz."

23. Juni 2006

Der Essay ist im Herbst 2006 auf italienisch in der Zeitschrift "Studia Patavina" erschienen, übersetzt von deren Herausgeber, Prof. Giuseppe Trentin [StPat 53 (2006) 323-348].

Ein ausführliches Buch zum Thema ist geplant.


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