Jürgen Kuhlmann

Mutter der Welt?

»Mutter der Welt«, singt der Gastchor leise, wieder und immer wieder: »Mater mundi«. Kein Zweifel: das klingt wie ein göttlicher Name. Ist jedoch bisher kein christlicher. Im altchinesischen Tao-te-king (Nr. 25) wird das Allerwirklichste so genannt: »Bevor Himmel und Erde wurden, war es schon da ... Man kann es nennen: Mutter der Welt.« In dieser evangelischen Kirche zu Nürnberg ist ein solches Gebet noch nie erklungen, vermutlich auch vor einem halben Jahrtausend nicht, als sie noch katholisch war. Auf seiner Konzertreise singt der Krakauer Marienchor das meditative Stück »Totus Tuus« von Henryk Gorecki, uraufgeführt bei der Messe auf dem Warschauer Marienplatz beim Papstbesuch im Juni 1987. Die letzte der vier Zeilen des Marienhymnus lautet: »Mater mundi Salvatoris«, Mutter des Heilands der Welt. Oder auch: Mutter der Welt des Erlösers. Hat schon der Dichter den Doppelsinn gewollt? Mir scheint: eher nicht. Auf jeden Fall spielt mit ihm der Komponist. Bevor das letzte Wort ertönt, schmeichelt sich - oft wiederholt - das innige Gebet »Mutter der Welt« mir ins Ohr.

Auch ins Herz? Meine Spannung ist Spaltung. Schmerzhaft spüre ich den Widerwillen, der kritische Protestanten neben mir ergreift. Maria als Mutter der Welt anzubeten, dagegen sperrt sich ihr Glaube. Gott allein die Ehre! Wenn man auch höflicherweise nicht laut protestiert gegen das geschöpf-vergötzend heidnische Lied da vorn, so steht das innere Contra! doch fast greifbar im Raum: Nein, das ist nicht unser Glaube. Meiner auch nicht - wenn ich den Text gut evangelisch verstehe. Burro heißt auf spanisch Esel.

Auf italienisch bedeutet dasselbe Wort aber: Butter. Was meint »Mutter der Welt« meinem katholischen Sinn? Da verehre ich in der Mutter Gottes die holde Ikone für Gott die Mutter. »Der Heilige Geist« sagen wir auf deutsch; Maria, Jesus und die ersten Jünger fühlten anders: an die Heilige Ruach ließ ihre Sprache sie denken. Unglatt übersetzt, könnte der Engel gesagt haben: »Heilige Gischt wird über dich kommen und [dann] des Allerhöchsten Kraft DICH [die in dir wirkende Göttin] überschatten« (Lk 1,35), das ist total anders zu verstehen als des Zeus erotische Ausflüge! Nicht schwängert ein Gott eine Sterbliche, vielmehr wird Maria von der innergöttlichen Mutterschaft in Person erfüllt, so daß ihr Kind mit Recht Sohn Gottes heißt, Gottes und »Seiner Liebe« (Kol 1,13 [exakt übersetzt]), jener wahren Göttin LIEBE, die von der Kirche bisher so sehr verdrängt worden ist, weil sie in der Antike allzuleicht mit der altheidnischen Liebesgöttin verwechselt worden wäre, der zu Ehren noch im Karthago des Augustinus mengenweise junge Männer kastriert worden sind ...

Das ist lange her. Derzeit geht das Patriarchat zu Ende, nicht alleinerziehend will der himmlische Vater sein. Die Mutter gehört dazu. Weil die Theologen sie dem Volk verboten, darum hat das katholische Volk sich selbst geholfen und das personhafte Bild der Göttin in Maria erkannt, in Ihr, die Gottes Sohn Mutter nannte und zuvor der Engel mit ihrem Eigennamen »Begnadete« gegrüßt hat; Engel sind höflich. Weil Maria für uns die in ihr lebende ungeschaffene Gnade, den ewigen Urschoß in Person, gültig repräsentiert, deshalb singe ich jetzt vertrauensvoll mit: »Mutter der Welt«.

Bis mir mein protestantischer Freund einfällt und ich, mit ihm, jede Kreaturvergötzung ablehne. Doch ist die Spaltung nun zur Spannung versöhnt. Der Gegensatz darf widerspruchslos bleiben. Frei schwingt mein Geist zwischen rechtem und linkem Pol desselben Stereo-Signals. Das Judenmädchen Mirjam lobt Gott allein, auch dafür, daß sie von allen Geschlechtern seliggepriesen wird, z.B. von Goethes Doctor Marianus am Schluß des Faust: »Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin, bleibe gnädig!«

November 1998


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