Jürgen Kuhlmann

Die gehorsamen Meuterer

[Katholisches Manifest frei nach Herman Melville]

"Ich verlange dass wir alle zusammenhalten," sagte Kapitän Jonas - nicht laut, aber so bestimmt, dass es die Männer kalt überrieselte. "Wie wollen wir Moby Dick fangen, wenn jeder seine eigenen Pläne hat? Ich verbiete, dass ein Boot sich vom Schiff löst. Alle Mann bleiben an Bord. Sehen Sie es gerade so an, als ob wir überhaupt keine Boote hätten." "Aber Kapitän," warf der erste Steuermann ein, "noch nie ist ein Wal vom Schiff aus erlegt worden. Nur die Boote sind wendig genug, ihm auf den Speck zu rücken. Ich ersuche Sie, Ihr Verbot zurückzunehmen und uns in die Boote zu lassen." "Nein," war die knappe Antwort. "Das ganze Schiff nimmt Kurs auf Moby Dick, sobald er gesichtet wird. Wozu ist es ein Walfangschiff, wenn es keine Wale fangen kann?" Gegen diese Logik wagte keiner der Offiziere mehr einen Widerspruch. Der Kapitän stand auf, die Besprechung war beendet. Mit grimmigen Mienen begaben die Männer sich an ihre Posten. "Ich glaube, der Alte ist übergeschnappt," flüsterte der dritte Harpunier dem zweiten zu. Der reagierte nicht; allzu deutlich war, dass der Junge recht hatte, aber was zum Teufel konnte man tun? Das wollte alles wohl erwogen sein.

Plötzlich erscholl es aus dem Mastkorb: "Da bläst er, da bläst er!" Wilde Begeisterung ergriff die Leute; denn unverkennbar war es Moby Dick selbst, der da blies. Der riesige weiße Wal erweckte Staunen, ja so etwas wie Ehrfurcht. Doch wer ihn nicht gesehen hat, kann ihn sich auch nicht vorstellen, und so will ich gar nicht erst versuchen, Moby Dick zu beschreiben. Er war es, er seIbst. Das heimliche oder ausgesprochene Ziel aller Männer, die auf Waljagd gehen, wälzte sich dort, inmitten einer Schar gewöhnlicher Artgenossen, majestätisch vor ihren Augen durch den Ozean.

Auch Kapitän Jonas war an Deck gekommen und gab seine Befehle. Langsam drehte sich das schwerfällige Schiff und nahm Kurs auf Moby Dick. Doch ach! Der Wind war viel zu schwach und lange bevor man auch nur den halben Weg geschafft hatte, war der Wal schon weggetaucht. Als er Stunden später aufs neue blies, kam man zwar bis auf Schussweite heran, doch im letzten Augenblick erschreckte offenbar der Schatten des Schiffs das mächtige Tier, und die Harpuniere konnten von der Höhe der Reeling herab nur ohnmächtig zusehen, wie es versank.

In der folgenden Nacht stelzte Kapitän Jonas noch lange auf Deck hin und her, während die Offiziere in ihrem Raum berieten, was zu tun sei. "Er ist der Kapitän, wir müssen ihm gehorchen. Mich bringt ihr in kein Boot, solange er es verbietet. Ich gehöre zum Schiff." - "Ich bin ein Walfänger und will Wale fangen. Da das nur von kleineren Booten aus geht, suche ich mir Leute und steige bei erster Gelegenheit um. Soll Jonas mit seinem Schiff doch zum Teufel gehen, wenn er es unbedingt will!" Als das Gespräch diesen Polarisierungsgrad erreicht hatte, mischte sich der zweite Steuermann ein. "Leute", sagte er, "jetzt kommt alles darauf an, dass wir nicht die Nerven und unsere gute Freundschaft verlieren. Was den Kapitän zu seiner Ansicht bewegt, kann ich schon verstehen. Es ist die Vorstellung von lauter kleinen Booten, die mit eingedrückten Planken und zerbrochenen Rudern mitsamt ihrer Besatzung untergehen, während das große Schiff fast unbemannt zwar allen Wellen trotzt - denn unser alter Kahn ist ein solides Stück" und dabei stampfte er liebevoll auf den klobigen Kajütenboden, "aber doch nichts mehr ausrichten kann. Deshalb möchte der Kapitän unsere Kräfte zusammenhalten. Ich bin nicht seiner Meinung, aber ihr müsst mir zugeben, dass die Boote ohne Schiff verloren wären. Was wollen Sie denn" - (so wandte er sich an den dritten Harpunier, den Wortführer der Rebellen) "mit Ihrem Wal anfangen, wenn Sie ihn erlegt haben? Ein schönes Bild, Ihr Bötchen mit Moby Dick im Schlepptau!" Alle mussten lachen, und sogar der Angesprochene verzog höflich seine Lippen, obwohl ihm gar nicht lustig zumute war. "Andererseits, Sir," meinte der Redner jetzt zu seinem Vorgesetzten, "finde ich auch Ihre Idee von Gehorsam zu simpel. Ist nicht auch Kapitän Jonas für den Erfolg des Unternehmens dem verantwortlich, der ihm das Kommando übertragen hat? Liegt es überhaupt in Jonas' Interesse, dass wir auch seinen unsinnigen Befehlen gehorchen? So wie die Boote auf das Schiff angewiesen sind, ebenso auch das Schiff auf seine Boote. Wenn sie sich nicht zeitweilig vom Schiff lösen und selbständig Moby Dick jagen dürfen, sind wir zu ewig erfolgloser Jagd verdammt. Das wissen Sie, Sie haben es dem Kapitän gesagt - sollten Sie nicht mehr Verständnis für die Männer zeigen, die trotz seines Verbots nach dieser Erkenntnis auch handeln?" Da keine Antwort kam, fuhr er fort: "Ich schlage darum vor: jeder tut, was er für richtig hält, aber keiner stört die anderen. Wer in die Boote umsteigen will, wird dazu von uns berechtigt und dem Kapitän gegenüber verteidigt. Auch versorgt das Schiff seine Mannschaft mit Wasser und Proviant. Die anderen kümmern sich darum, dass der Schiffsapparat gut funktioniert, damit der Wal, falls er ja erlegt wird, auch verarbeitet werden kann."-? "Ach was, immer diese faulen Friedenskompromisse", fiel ihm der dritte Harpunier ins Wort. "Vielleicht haben Sie sogar irgendwie recht, trotzdem spiele ich da nicht mit. Ich habe diese alte Schaluppe hier einfach satt, ich kann sie nicht mehr riechen mitsamt ihrem Kapitän, ich steige in mein Boot und bleibe dort. Irgendwie wird es schon gehen "Endlich ein klares Wort", rief zornig ein anderer dazwischen, "zwar ist mir die Einstellung dieses frechen Burschen in der Seele zuwider, aber ich bin ebenfalls für eine ehrliche Trennung. Soll er doch in seinem Boot verdursten - ich will mit der meuterischen Bande nichts zu tun haben. Ich tue meine Pflicht auf dem Schiff und damit basta!

Nach längerem Schweigen nahm wieder der zweite Steuermann das Wort und sagte bedächtig: "Meine Herren, mir scheint, um Moby Dick zu fangen, kann jeder seinen Beitrag leisten, ohne irgendeinen Grundsatz aufgeben zu müssen. Wer das Schiff eine Zeitlang nicht mehr betreten will, der hat - so denke ich - im Schiff genug Freunde, die ihn schon nicht werden verdursten lassen. Solange er nur im Angesicht des Wals Mut und Treue zeigt, dient auch er, und sei es wider Willen, doch dem Schiff und sogar seinem Kapitän. Umgekehrt hat auch unser Kollege hier, der mit den Booten nichts zu schaffen haben will, sehr wohl seinen Anteil an deren Sieg über Moby Dick, wenn er nur seine Aufgaben an Bord anständig erfüllt, denn auf die Dauer wären die Boote ohne das Schiff verloren und nur darum trennen sie sich von ihm, um nach einiger Zeit schwer beladen wiederzukehren. Wir anderen aber" - und dabei nickte er besonders dem ersten Harpunier freundschaftlich zu, "die sich in den Booten genau so wohlfühlen wie im Schiff, wir wollen immer gerade dort sein, wo wir am meisten gebraucht werden. Wir haben dafür zu sorgen, dass die Boote auch draußen zum Schiff gehören und das Schiff ihnen immer eine Heimat bleibt. Dann ist es weiter nicht schlimm, wenn in den Booten auf das Schiff und in mancher Kajüte des Schiffs auf die Boote geflucht wird."

Des Kapitäns Schritte über ihren Köpfen hatten schon seit einiger Zeit aufgehört, auch die Offiziere waren müde geworden. So begab man sich zur Ruhe - außer einer Abordnung unter Führung des zweiten Steuermanns, die sich in die Mannschaftsräume begab. Dort wurde noch lange weiter verhandelt. In aller Frühe erscholl der Ruf: "Da bläst er, da bläst er!" Ungeachtet der Proteste des Kapitäns stürzte ein Teil der Mannschaft sich wie in alter Zeit in die Boote und ruderte los, sogar in verschiedene Richtungen, da man mit Moby Dicks Launenhaftigkeit rechnete. Tatsächlich gelang es erst dem einen und dann dem anderen Boot, an Moby Dick eine Harpune zu verlieren (denn ihn selbst aus einer leuchtenden Verlockung zur fasslich-schmutzigen Leiche zu machen, wird keiner Menschenfaust je gelingen) und einen kleineren Wal aus seiner Umgebung zum Schiff zu schleppen. Kapitän Jonas, den Sinn unablässig auf den weißen Wal selbst gerichtet, hatte zwar kein lobendes Wort für die Männer übrig, allein er unterließ es auch, ihre Eigenmächtigkeit zu bestrafen. Im übrigen war die Beute hochwillkommen; denn das Schiff hatte neue Energiezufuhr bitter nötig. Deshalb feierte die gesamte Mannschaft am Abend ein fröhliches Bordfest - mit wenigen Ausnahmen. Die eine war der dritte Harpunier, der seinem Versprechen gemäß im Boot verblieben war; dort wurde er jedoch gut mit Essen und sogar Bier versorgt; weil er übrigens nicht hindern konnte, dass sein Boot aufs Schiff gehievt wurde, war er dem Fest weniger fern als sein Trotz es sich wünschte. Die andere Ausnahme war ein kleines Grüppchen unentwegter Kapitänstreuer, die den Meuterern so sehr grollten, dass sie sich nicht einmal durch Jonas' persönliches Erscheinen umstimmen ließen. Da sie aber sonst ihren Pflichten ordentlich nachkamen, stieß man auch auf sie lachend an. Unterdessen zieht der weiße Wal weiter seine unergründliche Bahn. Welches Boot sichtet ihn morgen?

Sommer 1972 (veröffentlicht 2010)


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